Alt gegen Neu

Alt gegen Neu Viel mehr Leistung fürs gleiche Geld 50 Jahre trennen den LP 1620 vom Actros 1844. In einem aufwändigen Vergleich Alt gegen Neu untersuchte Daimler, wie die Belastung für Fahrer und Unternehmer abnahm. Beim Rückblick auf gut 50 Jahre LKW-Entwicklung muss die erste Frage lauten, wie viel Gemeinsamkeiten es nach so langer Zeit noch gibt. Die Antwort fällt angesichts des LP 1620 und des Actros 1844 knapp aus: Abgesehen vom Stern auf der Kühlermaske sind es nur sechs Zylinder und Direkteinspritzung, die speziell den 1620 für seine Ära als modernen LKW ausweisen. Während der Actros-Urahn seine 200 Pferdestärken aus einem frei saugenden 10,3 Liter großen Reihenmotor mobilisiert, traben beim Actros-V6 441 Pferdchen. Noch viel imposanter als die Leistungsdaten ist die (R)Evolution des maximalen Drehmoments. 700 Nm beim 1620 – in etwa der Wert, den ein aktueller Zwölftonner-Verteiler unter der Kabine hat. Der Actros mobilisiert exakt drei Mal so viel. Raus aus dem Museum, rauf auf den Pass Alleine an Drehmoment und Leistung wollten Heinz Gottwick und Raimund Grammer, die Herren der Nutzfahrzeug-Presse beim „Daimler“, den Unterschied nicht festmachen. Also ersannen sie die Idee, einen Oldie und einen aktuellen Laster auf die Reise zu schicken, um die Entwicklung von 1965 bis heute zu dokumentieren. Ein neuer Actros ist für einen LKW-Hersteller kein wirklich großes Problem. Den 1620, der eigentlich längst Zuflucht im Stuttgarter Museum gefunden hat, zu mobilisieren, war schon schwieriger. Die Truppe um Fahrversuchschef Manfred Rohr hatte alle Hände voll zu tun, den Oldie auf die bevorstehnde Hatz über den San Bernardino vorzubereiten. Gut, dass der blaue Oldtimer gerade mal jungfräuliche 10.300 km auf dem Tacho hatte. Mit voller Kompression, frischen Ölen, etlichen neuen Dichtungen und zwei Fahrern, die erst wieder lernen mussten, unsynchronisierte Gänge zu sortieren, standen erste Tests in Wörth an. Wie laut war so ein LKW aus den sechziger Jahren, wie bremst er und welche Kräfte muss der Fahrer aufbringen, um den Haufen Eisen zu dirigieren? Auf all diese Fragen wollte man Antworten finden. Modernste Messtechnik und aktuelle Prüfverfahren kamen zum Einsatz und führten zum ersten Mal zu wirklich fundierten Ergebnissen. So konnten sich die „Kapitäne der Landstraße“ das Training im Fitnessstudio getrost sparen! Während beim Actros die automatisierte Kupplung jegliche Arbeit abnimmt, stemmt der LP-Chauffeur bei jedem Gangwechsel 288 Newton – mithin 29,36 Kilo mit seinem linken Oberschenkel. Während sich der moderne 1844er mit einem läppischen Kilo am Lenkrad dirigieren lässt, kurbelt der LP-Fahrer mit rund sieben Kilo am überdimensionalen Volant. Nicht anders bei den Bremsen. Um die volle Verzögerungskraft des Actros abzufordern, genügen 160 Newton. Beim 1620 ist die doppelte Kraft nötig! Was nicht heißen soll, dass der LP mit doppeltem Kraftaufwand auch auf halber Strecke zum Stehen kommt – ganz im Gegenteil. Beim Bremstest spielt dem Opa sogar noch in die Karten, dass er nur die zu seiner Zeit maximal erlaubten 32 Tonnen verzögern muss. Der Actros hat noch mal acht Tonnen mehr zu verzögern. Dennoch steht der 1844er satte 16 Meter früher. Aus 80 km/h stoppen die zehn EBS-geregelten Scheibenbremsen die Fuhre nach 40 Metern. Da rauscht der 1632 noch mit rund 50 km/h vorbei und aus den acht Trommelbremsen steigt beißender Qualm auf. Herzrasen und Müdigkeit Dass die Anstrengung im LP auch mentale Folgen hat, belegte die Messung der Herzfrequenzen und Gehirnströme auf der anschließenden Alpenquerung in die Schweiz. Um zu demonstrieren, welchen Einfluss das Alter des Fahrers hat, gingen zwei Generationen an den Start. Interessantes Ergebnis am Rande. Der Puls des jungen Fahrers war zwar insgesamt auf niedrigerem Niveau. Der Routinier ließ sich dafür durch die anspruchsvollen Streckenabschnitte deutlich weniger aus der Ruhe bringen. Der höchste Puls wurde über den San Bernardino gemessen, wo speziell die Fahrt im 1620 wegen des unsynchronisierten Getriebes, der schwachen Motorbremse und der asthmatischen Trommelbremsen jede Menge Nervenkitzel nach sich zog. Während im Actros halbwegs entspannte 104 Schläge ausreichen, um Blut durch die Adern zu pumpen, lag die Frequenz im Oldie bei 118. Nicht anders das Ergebnis der Hirnstrommessungen. Äquivalent für die Tätigkeit der grauen Zellen ist die Reaktionszeit. Je mehr unser Oberstübchen angestrengt ist, desto langsamer reagiert es! Während also im Actros nach 100 Millisekunden eine Reaktion erfolgte, lag die Zeit im LP bei 420 Millisekunden. Immerhin vier Mal so lange und oft die entscheidende Reak- tionszeit, um noch rechtzeitig zu brem- sen – oder auf den Vordermann aufzufahren ... Wie profitiert der Unternehmer? Gut fünfzig Jahre LKW-Entwicklung brachten also jede Menge Fortschritt für die Fahrer. Wird sich mancher Unternehmer fragen, was er von einer um fünf Dekaden besseren Technik hat. Auch darauf gab der Vergleichstest umfassend Antwort: Da wären unter anderem Verbrauchsverbesserungen. Bei den Werten Liter pro 100 km ist die Differenz gar nicht so dramatisch. Während sich der Actros mit 31,78 Liter begnügte, waren es beim LP 37,37 Liter. 50 Jahre und schlappe 5,59 Liter Differenz? Na ja, das macht immerhin schon 15 Prozent Verbesserung. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Umgerechnet auf die transportierte Tonne zeigt der moderne Laster sein Potenzial auf. Da steht es plötzlich 1,27 zu 2,34 l/tkm. Das ist eine Verbesserung um stolze 46 Prozent! Ergo produziert der Actros pro transportierter Tonne auch 46 Prozent weniger Kohlendioxid.Noch dramatischer fällt die Schadstoffbilanz des Oldtimers bei den Stickoxiden und den Partikelemissionen aus. Mit 1719 g/kWh emittiert der 1620 96 Prozent mehr NOx. Bei den Partikeln steht es 0,3 zu 11,6 für den Actros. Auch das eine Reduktion um sagenhafte 97 Prozent! 1965 schon kein billiges Vergnügen Unterm Strich fallen die Verbesserungen also viel dramatischer aus als zunächst angenommen. Zumal technischer Fortschritt à la Notbremsassistent, ESP, Spurbindung oder Abstandstempomat überhaupt noch nicht thematisiert wurden. Interessant ist auch, dass eine Gegenüberstellung des damaligen sowie des heutigen Kaufpreises in Relation zur Kaufkraft Aufschluss gibt, dass ein LKW 1965 ähnlich teuer war wie ein aktuelles Fahrzeug. Da alle Theorie grau ist, muss man natürlich die Möglichkeit nutzen, den „Rückschritt“ selbst zu vollziehen. Als der LP 1620 zum ersten Mal Asphalt unter die Räder nahm, war der Autor gerade mal ein Jahr alt. Bei der Bundewehr noch auf unsynchronisiertem Getriebe ausgebildet, fiel die Umgewöhnungsphase kurz aus. Bergauf ist im 1620 nicht so schwer. Der nutzbare Drehzahlbereich liegt ähnlich wie beim modernen Actros. Mit 32 Tonnen über den San Bernardino heißt zweiter Gang und 2000 Touren. Archaisches Fahren im LP 1620 Je länger die Steigung dauert, umso mehr heizt sich die Kabine auf. Der Motortunnel strahlt wie ein Backofen. Die Kurbelei am überdimensionalen Lenkrad bringt längst vergessene Muskeln in Aktion. Bei den leichten Beschleunigungsphasen in den Geraden hochzuschalten, spart man sich besser. Passt der Gang nicht gleich, steht man nämlich. Von der alten Weisheit „Im gleichen Gang runter wie rauf“ hat man schon gehört. Jetzt ist es an der Zeit, das auszuprobieren. Laut hämmernd kämpft die Auspuffklappenbremse jenseits der 2000 Umdrehungen gegen 32 Tonnen, die vehement talwärts drängen. Ohne permanentes Beibremsen geht nichts. Dabei nie das Manometer aus den Augen verlieren. Sinkt der Zeiger gegen null, wird‘s kritisch. Ohne den heute üblichen Federspeicher bedeutet kein Druck auch keine Bremswirkung. Auch wenn der Manometer im grünen Bereich bleibt, ist längst nicht alle Gefahr gebannt. Werden die Intervalle zwischen Beibremsen und Rollen mit der Motorbremse zu kurz, können sich die schmalen Trommelbremsen überhitzen. Wer erste Rauchsignale unterschätzt, wird mit freiem Fall nicht unter hundert Metern bestraft ... Wie schön hat es da der Fahrer im modernen Actros. Retarder auf „volle Kraft“, Motordrehzahl auf 2000 und die Betriebsbremse hat Ruhe, was der Lebensdauer der Beläge nur guttut. Dass es dabei angenehm ruhig bleibt, ist nur eine Errungenschaft der Neuzeit. Übrigens nutzte Daimler bei der Alpenquerung die Möglichkeit, den technischen Fortschritt dekadenweise zu dokumentieren. Ältester Laster im Oldie-Reigen war ein LP 333, der „Tausendfüßler“ aus dem Jahr 1960 – noch lauter, noch anstrengener mit noch schlechteren Bremsen als der 1620er. Welche Wohltat waren da die Actros-Vorgänger NG und SK. Als 1632 noch mit lärmendem V10, später als 1844 schon mit EPS-Schaltung, ABS und angenehm leise. Fährt man sich durch die Jahrzehnte, fällt aber auch auf, dass der mechanische Fortschritt im Vergleich zur Weiterentwicklung der Elektronik immer kleiner ausfällt. Und eines gibt zu denken: Trotz aller Entwicklungsschritte sehen LKW noch immer so ähnlich aus wie einst. Ob sich da noch mal was tut? ❙❚■ Gerhard Grünig Zum Test traten an: Ein LP 1620 von 1965 sowie ein Actros 1844 von 2010 Der „alte Herr“ brauchte Wasser übern Berg Die alte Landstraße über den San Bernardino forderte beiden Fahrzeugen vieles ab VR-Tester Gerhard Grünig im Selbstversuch TransAlp-Trucking über den San Bernardino Von Wörth nach Lostallo mit sechs Jahrzehnten LKW-Technik Um den Fortschritt in der LKW-Technik zu dokumentieren, wagte Daimler einen bislang einzigartigen Versuch: Mit einem LP 1620 von 1965 sowie einem aktuellen Actros 1844 bewältigten zwei Testfahrer – einer Mitte 30, einer Mitte 50 – die Strecke Wörth-Lostallo (Schweiz, über den San Bernardino). Um die Werte vergleichbar zu machen, mussten die Fahrer nach jeweils halber Strecke tauschen. Beide Fahrzeuge waren voll beladen. Akribische Messungen von Gehirnströmen, Herzfrequenzen, aber auch Pedalkräften, Schadstoffemissionen und Verbrauch dokumentieren über sechs Dekaden Fortschritt in der LKW-Entwicklung. gg Bei den Fahrern wurden Gehirnströme und Herzfrequenzen gemessen Vom stress der 60er-Jahre zum Komfort des 21. Jahrhunderts Der alte LP 1620 wurde mit modernster Abgasmesstechnik ausgerüstet Alt gegen Neu Geräuschmessung außen/innen dB(A) 90 80 70 60 50 40 63 72 N 350 300 250 200 150 100 160 312 m 60 55 50 45 40 35 40 56 Das Außengeräusch wurde nach aktueller Norm in der Vorbeifahrt gemessen Bremswege (aus 80 km/h) Kraft am Bremspedal 80 92 innen außen innen außen Alt gegen Neu Das unsynchronisierte Sechsgang-Getriebe des LP 1620 erforderte Gefühl vom Fahrer Verbrauch nach Tonnenkilometer l/tkm 2,5 2,0 1,5 1,0 0,5 0 g/kWh 2500 2000 1500 1000 500 0 64 1719 1,27 2,34 NOx-Emissionen 46% weniger Diesel, 97% weniger Ruß! Die Verbesserungen bei den Schadstoffemissionen wie auch beim Verbrauch sind enorm. Umgerechnet auf die transportierte Tonne braucht der Actros nur knapp halb so viel Diesel, produziert entsprechend weniger CO2 – vor allem aber gehen die Partikel- (-97%) sowie die NOx-Emissionen (-96%) dramatisch zurück. Dabei hat der Actros mehr als doppelt so viel PS und ist schneller. gg Alt gegen Neu Seit 80 Jahren betreibt Hans Fischer aus Chur LKW-Verkehr Ganze zehn Urnengänge des für die Schweiz typischen Volksentscheides brauchte es bis 1925 in Graubünden, ehe das Parlament zumindets teilweise dem motorisierten Verkehr zustimmte und das Monopol von Bahn und Pferdefuhrwerken brach. 1931 setze Hans Fischer seinen ersten LKW ein. Für den Bau der San-Bernardino-Pass-Straße sowie des San-Bernardino-Tunnels brachte das noch heute in Familienbesitz befindliche Unternehmen Zement zu den Baustellen. In sieben Jahren Einsatz schleppten bis zu sieben Silofahrzeuge rund 280.000 Tonnen des Baustoffs. „Die Straßen zur Baustelle waren schlecht, nicht ausgebaut, nur geschottert und mit Schlagloch an Schlagloch“, erinnert sich Hans Fischer „jun“. gg LP 338 – beliebter Frontlenker in der Schweiz laster in Graubünden erst seit 1931 Der Actros und seine (Ur-)Ahnen – vom LP 333 zum SK 1844 Anlässlich der Vergleichsfahrten gingen noch andere Mercedes-„Oldies“ an den Start. Der LP333 (l.) – ein Kind der Seebohm-Ära mit den typischen zwei Vorderachsen, leistete bereits 200 PS, aber noch aus einem Vorkammer-Motor. Letzter Vertreter der Sauger-Generation war der 1632 mit 15,8 Liter großem V10 und für heutige Verhältnisse bescheidenen 1030 Nm. Einen noch heute legendären Ruf genießt der NG 80 1835 (2. v. r.), dessen 14,5 Liter großer V8 dank Turbotechnik 1989 350 PS leistet. Als letzte Evolutionsstufe brachte es der OM442 im SK 1844 (r.) vor der Ablösung durch den Actros auf 440 PS bei 2100/min und 1550 Nm bei 1200/min. gg Mit LP 333, S1638 und Sk 1844 waren noch andere Actros-Vorgänger mit von der Partie