Energievorrang auf der Schiene – wer haftet?

Das Bundeskabinett hat am 24. August eine Verordnung verabschiedet, die unter anderem dem Transport von Kohle und Öl, aber auch von Großtransformatoren auf der Schiene einen Vorrang einräumt, wenn etwa der „unterbrechungsfreie Betrieb“ von Kohlekraftwerken und Raffinerien gefährdet ist. Die Energiesicherungstransportverordnung ist seit 29. August in Kraft und gilt für sechs Monate.Anmeldung zehn Tage vorher Von der Verordnung sind nur bestimmte Strecken betroffen, auf denen ein Transport zum Beispiel von einem Hafen zu einem Kohlekraftwerk stattfindet. Diese sind festgelegt in einem sogenannten „Energiekorridor-Netz“: Dazu zählen rund 400 Trassen im Zusammenhang mit Öltransporten und rund 40 bezüglich Kohle und anderer Energieträger. Die Trassenanmeldung für einen Energievorrang von Kohle oder Öl muss zum Beispiel ein Kraftwerksbetreiber, Eisenbahnverkehrsunternehmen (EVU), Verlader oder Spediteur spätestens zehn Tage vorher bei einem Eisenbahninfrastrukturbetreiber wie der DB Netz anmelden, bei Großtrafos 30 Tage vorher. Wenn unter anderem eine Verschiebung von Trassen um einige Minuten nicht hilft, können als letzte Möglichkeit Kapazitätszuweisungen anderer Unternehmen gekündigt werden.Kritik der Güterbahnen: Fehlende Anspruchsgrundlage für Schadenersatz Unter anderem der Verband Die Güterbahnen beklagt, dass die Verordnung von unklaren Aussagen wimmele. „Sicherlich vor Gericht wird der Versuch landen, berechtigte Schadenersatzansprüche von Zugbetreibern auszuschließen, deren bestehende Nutzungsverträge durch DB Netz zugunsten von Energiezügen gekündigt werden“, so Peter Westenberger, Sprecher der Güterbahnen. „Die haftungsrechtlichen Folgen der mit heißer Nadel gestrickten Verordnung können wir noch nicht abschließend beurteilen. Das gilt insbesondere für die Frage nach der Höhe möglicher Schadenersatzansprüche.“ In seiner Stellungnahme zu der Verordnung forderte der Verband unter anderem, es müsse „eine unstreitige und präzise Anspruchsgrundlage geschaffen werden, dass der einem EVU entstehende Schaden vollständig, das umfasst auch Folgeschäden bei der Rückfahrt/Leerfahrt im Anschluss an die verunmöglichte Fahrt, ersetzt wird“. „Die Wirkung der Verordnung beschränkt sich nach unserem Verständnis auf das deutsche Staatsgebiet“, erläutert Westenberger. Grenzüberschreitende Züge würden daher in jeder Hinsicht auch nur in Deutschland davon erfasst, „was aber die Geltendmachung von Schäden durch ausländische Betreiber natürlich nicht ausschließt“.Verordnung schließt DB Netz von Haftung aus Nach Paragraf 5 der Verordnung sind Schadensersatzansprüche gegen „Betreiber von Eisenbahnanlagen“ und „Betreiber von Serviceeinrichtungen“ ausgeschlossen, es sei denn sie handeln grob fahrlässig oder verletzen Pflichten der Verordnung vorsätzlich. Laut Verordnungsbegründung kann eine Entschädigung nach den Paragrafen 11 und 12 Energiesicherungsgesetz (EnSiG) erfolgen. Demnach kann der Begünstigte, also etwa der Energieversorger, der den Trassenvorrang angemeldet hat, für Schäden haftbar gemacht werden. Wenn hier keine klare Zuordnung möglich ist, haftet subsidiär der Bund, ist dieser nicht zuständig, dann die Länder. Dafür muss die Rechtsverordnung oder Maßnahme aber eine Enteignung darstellen.Staatshaftungsansprüche möglich „Wir sind sicher, dass die Betroffenen von Trassenvertragskündigungen bei Anwendung der Verordnung durch die DB Netz AG mindestens Staatshaftungsansprüche gegenüber dem Bund geltend machen können“, so Westenberger. Man werde alle Güterbahnen bei einem eventuell notwendigen Gang vor Gericht unterstützen. Den Hinweis auf die Entschädigungsregelungen im Energiesicherheitsgesetz hatte der Verband zudem in seiner Stellungnahme kritisiert. Dort seien völlig andere Fälle als in der Verordnung geregelt, so der Verbandssprecher.Verkehrsvertragliche Haftung als weiterer Aspekt Grundsätzlich gelte es, zwischen den öffentlich-rechtlichen Ansprüchen nach dem EnSiG und der etwaigen verkehrsvertraglichen Haftung von durch das EnSiG betroffenen Logistikdienstleistern zu unterscheiden, hebt Stephan Rieß, Leiter Verkehrshaftung beim Versicherungsmakler Schunck, hervor. Letztere ist für innerdeutsche nationale Transporte im Landfrachtrecht geregelt, im Handelsgesetzbuch (HGB), unter anderem in den Paragrafen 425 bis 439. Wenn ein grenzüberschreitender Transport von einer Verspätung betroffen wäre, würde das Internationale Eisenbahnfrachtrecht (CIM) angewendet. „Die Haftung eines Frachtführers gegen Verspätungsschäden ist versichert durch unsere entsprechenden Verkehrshaftungspolicen“, erklärt Rieß. Läge zum Beispiel ein Fracht- oder ein Speditionsvertrag vor, den der Spediteur geschlossen habe und ergebe sich daraus eine Haftung, dann hat dieser als Versicherungsnehmer einen entsprechenden Deckungsschutz.Höhere Gewalt kein Automatismus Von der Übernahme bis zur Ablieferung, in diesem Obhutszeitraum haftet der Transportdienstleister. „Er hat in dieser Phase alles zu tun, was von ihm erwartet werden kann, um seinen Auftrag zu erfüllen. Aber es ist keine Garantiehaftung, sondern es gibt Fälle des unabwendbaren Ereignisses wie die höhere Gewalt. Dann greift ein Haftungsausschluss im Frachtrecht nach Paragraf 426 HGB.“ Eine Verspätung der Fracht durch die Vorgaben der Verordnung und einem damit gegebenen Vorrang eines Energiegüterzuges könne durchaus als höhere Gewalt gewertet werden, so Rieß. „Allerdings ist dies kein Automatismus. Es kommt auf verschiedene Faktoren an und ist immer eine Einzelfallbetrachtung. Im schlimmsten Fall muss die Frage der Haftung vor Gericht geklärt werden.“ Es hänge zum Beispiel davon ab, wie kurzfristig die Beeinträchtigung des Transportes durch den Vorrang des Energiegüterzuges aufgekommen ist, inwieweit der Spediteur sich Weisung bei seinem Auftraggeber eingeholt hat und ob er alternative Möglichkeiten ausgeschöpft hat.Wichtig ist die Kommunikation miteinander Durch den Gesetzgeber sind entsprechende Informations- und Kommunikationspflichten in Paragraf 419 HGB geregelt. Beweisbelastet für die Enthaftung ist der Frachtführer. „Auch deswegen ist die Vorschrift des 419 zur Kommunikation so wichtig. Ich kann mich nicht einfach zurücklehnen und sagen, ich kenne ja die Verordnung und berufe mich auf höhere Gewalt – das wäre zu kurz gegriffen.“ Als Spediteur müsse man zudem nach den Allgemeinen Spediteurbedingungen die Interessen seines Auftraggebers wahren. „Da bietet es sich an, sich rechtzeitig mit den Auftraggebern in Verbindung zu setzen, um etwaige Exit-Strategien zu besprechen. Ich würde dem Spediteur empfehlen, mit dem Verlader in Kommunikation zu treten und nicht nur auf die Karte setzen, es wird schon gutgehen.“Blick in die Glaskugel Letztendlich sei es aber auch ein Blick in die Glaskugel: „Zuerst muss ein entsprechender Energiemangel, ein Bedarf nach Vorrang angemeldet werden. Wenn dieser nicht angemeldet wird, wird diese Verordnung in der Schublade liegen.“ Die davon betroffen sind, müssten sich mit Augenmaß mit dem Thema beschäftigen, so Rieß weiter. Auch die Verlader müssten analysieren, welche Schäden sie treffen könnten und wie sie schadenmindernd tätig werden und das Risiko minimieren könnten. „Hier ist nicht nur der Spediteur gefordert, hier sind alle in der Lieferkette angesprochen.“ Grundsätzlich hoffe man darauf, dass die Branche ihre Findigkeit und Kooperationsbereitschaft ausspielen und die Anwendung der Verordnung unterbleiben kann, so Westenberger. „Dafür benötigen wir aber erst einmal überhaupt das seit Monaten angemahnte Mengengerüst. Die Verordnung zäumt das Pferd von hinten auf.“ (mwi)

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