Wird Dieselgate zum Logistikgau?

Ein kleines, unscheinbares Motor-Kürzel sorgt für Aufregung: Das ist EA 189. Vielleicht birgt das Aggregat sogar die Sprengkraft, den gesamten Automobilgiganten Volkswagen ins Wanken zu bringen. Seit der Konzern zugegeben hat, die Motorsoftware einiger Fahrzeuge manipuliert zu haben, steht die deutsche Autowelt Kopf: Eine Prozesslawine wegen der geschönten Schadstoffangaben rollt auf den Konzern zu. Zudem müssen neun Millionen Pkw der verschiedenen Konzernmarken zur Nachrüstung in die Werkstatt. Damit nicht genug: Nach Manipulationen bei Stickoxid-Werten musste VW am Dienstag vor einer Woche "Unregelmäßigkeiten" bei CO2-Werten einräumen. Manche sehen den Konzern schon am Rande des Ruins. Auch die Logistikbranche könnte der Manipulationsskandal empfindlich treffen. Denn die "Höllenmaschine" (Spitzname der Medien für den Motor) wurde unter anderem in 1,8 Millionen leichten Nutzfahrzeugen verbaut. Stehen große Teil der Fuhrparks demnächst in der Werkstatt? Müssen sich Automobillogistiker auf einen Tsunami von Leasingrückläufern vorbereiten und Exporthäfen auf schwächelnde Nachfrage aus dem Ausland? Kurzum: Droht nach Dieselgate jetzt ein Logistikgau? Zunächst die Faktenlage: Von der Manipulation betroffen sind alle Fahrzeuge des Modells Caddy mit 1,6 und 2,0-Liter-Dieselmotor (Euro 4, 5 und 6) sowie der Amarok bis zum Baujahr 2012. Definitiv nicht verbaut wurde der Problemmotor im T5, T6 und Crafter. Wer auf Nummer sicher gehen will, kann seine Fahrgestellnummer auf der Website volkswagen.de/info eingeben und erfahren, ob er von möglichen Rückrufaktionen betroffen ist. Ziel der Nachrüstung sei es, die Emissionen der Fahrzeuge "wieder unter den zulässigen Grenzwert zu bringen", so ein Sprecher von VW Nutzfahrzeuge. Welche Maßnahmen genau nötig sind, stand zum Redaktionsschluss nicht fest, genau so wenig wie ein Zeitplan. VW versichert aber, die Kosten zu tragen. Anfang des Monats hatte die US-Umweltbehörde EPA behauptet, bei größeren Motoren der Marken Audi und Porsche ebenfalls zu hohe Stickoxidemissionen festgestellt zu haben. Dass hier ebenfalls manipuliert wurde, bestreitet Volkswagen. Zu den Nutzfahrzeug-Kunden, die Dieselgate besonders stark betrifft, gehören die Post- und Paketdienste. Bei DPD in Aschaffenburg steckt man noch in der Bestandsaufnahme. "In der Paketzustellung sind zwar zum Teil auch VW-Modelle im Einsatz. Im Detail ist uns aber noch nicht bekannt, welche Modelle und Baujahre tatsächlich von der Rückrufaktion betroffen sind", sagt Sprecher Peter Rey. Spürbare Auswirkungen auf den Geschäftsbetrieb erwartet er nicht, weil ein Großteil der Zustellfahrzeuge auf andere Hersteller entfalle. "Zudem sind Werkstattbesuche - etwa zu Wartungszwecken - in den Fuhrparkkapazitäten ohnehin einkalkuliert", sagt er. Kfz-Steuer-Nachzahlungen drohen Bei Deutsche Post DHL seien nur 1400 Caddys betroffen, wie eine Sprecherin mitteilt. Die Auswirkungen könne man erst abschätzen, wenn VW konkrete Lösungsvorschläge mache. Hermes fährt sogar überwiegend mit Pkw und Nutzfahrzeugen aus Wolfsburg. "Davon sind aktuell 40 Prozent auf dem Prüfstand und sollen kurzfristig um- oder aber nachgerüstet werden", sagt Oliver Lanka, Leiter Zentraleinkauf und Fleet Management bei der Hermes Logistik Gruppe Deutschland. "Unser Wunsch ist es, auch weiterhin erfolgreich mit Volkswagen zusammenzuarbeiten." Deutlich klarer äußern sich kleine KEP-Dienstleister. "Wir spekulieren auf einen Umtausch der Fahrzeuge", sagt Reinhard Kuhn, Geschäftsführer von Optimal Kurier in Freiberg. Der Betrieb in der Nähe von Stuttgart setzt 30 Fahrzeuge ein, darunter drei mit dem VW-Problemmotor. Die Sache einfach auszusitzen, kommt für Kuhn nicht infrage, dafür seien die Risiken zu groß: "Es könnten Kfz-Steuer-Nachzahlungen wegen der höheren Schadstoffklasse auf uns zukommen oder wir könnten die Umweltplakette verlieren, was für uns als City-Logistiker besonders hart wäre." Warum nicht einfach die Fahrzeuge von VW nachrüsten lassen? Von dieser Aussicht ist Kuhn nicht begeistert. "Werkstattausfälle sind Logistikausfälle. Zudem wissen wir nicht, ob es ein Ersatzfahrzeug gibt und ob das einen Industrieboden und Ladungssicherungspunkte hat." Also wäre aus der Sicht des Unternehmers die beste Option: Umtausch. Interessanterweise läuft der Skandal für VW bisher recht ruhig ab. Von einem Absatzcrash keine Spur. In Deutschland zogen die Bestellungen für Dieselfahrzeuge sogar noch an, nachdem die Schummeleien bekannt geworden waren, nur in Großbritannien sackten die Order-Zahlen ab. Experten erwarten, dass Dieselgate auf den Nutzfahrzeugmarkt mittelfristig kaum Auswirkungen haben wird. "Die kommerziellen Käufer schauen vor allem auf das Service-Netz und die Total Costs of Ownership (Gesamtbetriebskosten - die Red.)", erklärt Michael M. Maier, Director beim Prüfungs- und Beratungsunternehmen Deloitte in München. In die TCO fließen nicht nur der Anschaffungspreis eines Lkws ein, sondern alle Kosten, die während der Einsatzdauer anfallen: Kraftstoff, Maut, Verwaltung, Reparaturen, Reifen. Auf diese Werte werde beim Aufbau eines Fuhrparks geachtet, so Maier. Folglich rechnet er nicht damit, dass Kunden scharenweise zu anderen Herstellern wechseln. Anders könnte sich die Lage auf Exportmärkten wie den USA darstellen. Hier reagiert man traditionell empfindlicher, wenn große Firmen gegen die Regeln verstoßen. Andererseits ist der Anteil kleiner Transportfahrzeuge mit Dieselmotor jenseits des Atlantiks extrem gering. Selbst wenn VW hier Marktanteile verlieren sollte, wären die Auswirkungen fast zu vernachlässigen. Anzeichen dafür, dass im Ausland massiv Kunden abspringen, gibt es im Moment jedenfalls nicht. "Auswirkungen sind uns bisher nicht bekannt", sagt ein Sprecher von Bremenports. Ähnlich äußert sich auch BLG Logistics, einer der größten Autologistiker. Sollte VW in der Folge des Skandals wirklich Kunden in der Heimat verlieren, würden das als erstes Dienstleister spüren, die auf den Transport von Neuwagen spezialisiert sind. Eine Einschätzung ist von ihnen bislang nicht zu bekommen. "Man möchte verständlicherweise keinerlei Aussagen abgeben, die den eigenen Kunden betreffen", sagt Yorick M. Lowin, Geschäftsführer des Vereins Automobillogistik im DSLV in Bonn. Mike Sturgeon, Sprecher des europäischen Verbands Association of European Vehicle Logistics (ECG) in Brüssel, teilt auf Anfrage mit, dass es derzeit keine Probleme gebe, abgesehen von "steigenden Lageranforderungen an einigen Orten". Er glaubt zudem nicht, dass sich der VW-Skandal auf die Absatzzahlen insgesamt auswirken wird. "Die Käufer werden sich einfach nur für ein anderes Produkt entscheiden", ist der Verbandssprecher überzeugt. Zeitenwende für neue Antriebsstrategie Während die meisten Praktiker also Dieselgate bislang gelassen verfolgen, sehen manche in dem Skandal schon eine Zeitenwende - den Anfang vom Ende des Selbstzünders. Der Autoexperte Stefan Bratzel, Chef des Center of Automotive Management (CAM), zum Beispiel fordert: "Der Diesel-Abgasskandal sollte als Initialzündung für eine Neuorientierung der Antriebsstrategien dienen." Das ist aber nur ein Wunsch. Praktiker können nach wie vor keine Diesel-Dämmerung erkennen. "Wenn Sie hohe Kilometerleistung und Effizienz brauchen, bleibt diese Antriebstechnik alternativlos", betont Deloitte-Berater Maier. Ein 40-Tonner, der 1000 Kilometer am Tag unterwegs ist, werde auch künftig von einem Dieselmotor angetrieben. Chancen für Elektro-Lkw sieht Maier nur im Stadtverkehr, wo die Standzeiten hoch und die Fahrzeiten niedrig sind. Seine Prognose: Der Dieselmotor bleibt, wird aber häufiger mit Technologien wie AdBlue nachgerüstet, um die Stickoxidemissionen zu senken. Apropos Umwelt. Auf die Grüne Logistik könnten sich die VW-Schummeleien ebenfalls auswirken. Schließlich ändert sich die gesamte Umweltbilanz eines Fahrzeugs, wenn der Ausstoß von Stickoxiden gedrückt wird (in der Regel produziert der Motor dann mehr CO2, weil die Verbrennung weniger effizient abläuft). Sollten sich die erhobenen CO2-Vorwürfe erhärten, wären die Effekte für die Firmen noch größer. Vor diesem Hintergrund müssten Logistikbetriebe, die mit Volkswagen fahren, ihre Emissionstabellen jetzt ändern - theoretisch. Ob das in der Praxis passiert, bleibt allerdings abzuwarten. Dass der VW-Skandal bei Unternehmen, die auf Grüne Logistik setzen, für Verstimmung sorgt, ist zumindest zwischen den Zeilen zu hören. Hermes-Fuhrparkmanager Lanka etwa betont, dass man sich beim Klima- und Umweltschutz hohe Ziele gesetzt habe. "Unsere Flotte ist dafür ein zentraler Hebel. Auch deshalb brauchen wir die Vorleistung der Automobilindustrie und dort entsprechend starke und verlässliche Partner." Strich drunter. Wenn es dem Automobilkonzern gelingt, die rekordverdächtige Rückrufaktion (siehe Kasten Seite 17) sauber über die Bühne zu bringen, wird Dieselgate in der VW-Absatzbilanz wohl nur eine kleine Delle hinterlassen, zumindest in Deutschland. Die echte Gefahr liegt aber in der Langzeitwirkung nach außen. Denn eines darf nicht vergessen werden: Deutschland ist traditionell Autoland. Fast jeder fünfte Arbeitsplatz hängt direkt oder indirekt an dieser Branche, Fahrzeuge sind das wichtigste Exportgut Deutschlands. Sollte die Manipulation also die Kunden weltweit verschrecken und in die Arme anderer Automobilhersteller treiben, würde das eins-zu-eins die deutsche Konjunktur dämpfen. 20 Prozent weniger Autoexporte bringen 0,2 Prozentpunkte weniger Wachstum, kalkulieren Marktkenner. Auch für Kurierunternehmer Kuhn, mitten im automobilen Kernland Baden-Württemberg tätig, liegt hier die wahre Bedrohung. "VW ist ein Aushängeschild. Wenn es einen Imageschaden gibt, betrifft das auch die Zulieferer und letztlich auch die Logistiker - uns." Mehr zum Thema im Dossier Volkswagen www.verkehrsrundschau.de/dossiers VW-Rückrufaktion "Dieser Rückruf hat einen neuen Charakter" 34 Millionen Airbags des Herstellers Takata funktionieren nicht richtig und müssen ausgetauscht werden, ein fehlerhaftes Zündschloss bei General Motors verursacht 124 tödliche Unfälle - an Rückrufaktionen mangelte es in letzter Zeit nicht. Trotzdem ist Dieselgate etwas Besonderes. "Dieser Rückruf hat einen neuen Charakter, weil unklar ist, wie der Endkunde geschädigt wurde", erklärt Andreas Baader, Managing Partner bei der Unternehmensberatung Barkawi. Er erwartet, dass viele Kunden kein Interesse daran haben, ihr Fahrzeug nachrüsten zu lassen - schließlich liege kein Defekt vor, der das Fahren beeinträchtigt. "Viele Leute werden nicht kommen oder nur eine Kompensationsleistung haben wollen", so Baader. Das könnte tatsächlich ein Problem werden, wenn die Politik - zum Beispiel in den USA - VW dazu zwingt, die Fahrzeuge nachzurüsten. Dann müsste der Konzern mühsam ermitteln, wem der Wagen gehört, und die Eigner in die Wertstätten locken. Eine teure Sisyphusaufgabe.Komplex könnte auch die technische Lösung werden. Längst nicht bei allen Fahrzeugen ist es damit getan, eine neue Motorsoftware aufzuspielen. Teilweise wird VW gar neue Technik einbauen müssen, damit die versprochenen Emissionswerte eingehalten werden. "Anbieter von Abgasrückführungstechnik werden große Aufträge bekommen", erwartet Baader. Laut einem Bericht der DPA sollen bis zu 10.000 verschiedene Lösungen nötig sein, um alle Fahrzeuge nachzurüsten. "Das könnte den einen oder anderen Automobil-Zulieferer an seine Kapazitätsgrenze bringen." Allerdings erwartet Baader kein Chaos - eben weil es keinen Kundenansturm auf die Werkstätten geben werde. cg