Wie sieht die Arbeitswelt nach Corona aus?

Wir erleben im Moment massive Lieferengpässe, fallweise reißen Lieferketten sogar ab, und selbst große Konzerne taumeln. Ist daran nur die Corona-Pandemie schuld, oder sind das schon erste Vorboten der großen Transformation des 21. Jahrhunderts, von der Sie schon seit vielen Jahren sprechen? Ja, das ist in der Tat ein Merkmal dieser großen Transformation. Wir haben die Digitalisierung, und die Digitalisierung verändert alles. Wir bekommen eine Welt, die aus Informatik besteht. Entscheidend ist: Mit dieser "Digitalisierungs-Systemik" können wir potenziell alles mit allem vernetzen. Und zwar sofort. Die Technik dafür ist da. Das ist das eine. Das andere ist, dass aus der Digitalisierung zwei neue Naturgesetzmäßigkeiten folgen, die ich wohl als Erster formuliert habe und gerne erläutern würde. Ja, bitte! Die erste Gesetzmäßigkeit ist: Wenn man "Dinge", Systeme, Prozesse, die vorher getrennt waren, richtig zusammenbringen kann, entstehen ganz neue "Dinge". Die Betonung liegt auf "richtig". Denn man kann Dinge natürlich falsch zusammenbringen, dann aber bewirken sie das Gegenteil, oft zerstören sie sich selbst. Die zweite Gesetzmäßigkeit ist, dass wir mit der Digitalisierung Dinge jetzt simultan, also gleichzeitig, machen können, zum Beispiel Prozesse in den Firmen, die wir bislang mangels technischer Möglichkeiten nur sequenziell, also nacheinander, machen konnten. Kurz: Mit der Digitalisierung können wir ganz neue Naturgesetzmäßigkeiten schaffen. Dieser Prozess ist aktuell in vollem Gange. Wenn Sie diese große Transformation des 21. Jahrhunderts in zwei Sätzen zusammenfassen müssten. Was erwartet uns da in der Gesellschaft, Wirtschaft und Politik? Nun ja, wir konnten durch die Corona-Pandemie im realen Leben ausprobieren und erleben, wie eine vernetzte Welt funktioniert - im positiven wie im negativen Sinne. So gesehen dürfen wir die Pandemie als unerwartetes Geschenk sehen - trotz aller damit verbundenen Schwierigkeiten, die ich nicht kleinreden will. Denn man konnte viel lernen, über die Technik, über sich selbst und über Menschen - mit Neugier, gutem Willen, Kreativität und der vorurteilsfreien Akzeptanz der neuen Wirklichkeit. Fakt ist, dass sich dadurch die Arbeitswelt massiv verändert. So revoltieren im Apple-Konzern aktuell die Mitarbeiter, weil sie nicht mehr zurück ins Büro, sondern von zu Hause aus arbeiten wollen. Sprich: Nicht mehr der Arbeitgeber bestimmt, wie und wo die Arbeitnehmer zu arbeiten haben, sondern die Mitarbeiter bestimmen das. Ist das ein Paradigmenwechsel, auf den wir uns in der Arbeitswelt von morgen einstellen müssen? Ja, so kann man es formulieren. Andererseits haben Inhaber einer Firma und auch die obersten Führungskräfte weiterhin ihren Einfluss. Wie gesagt, während der Pandemie sind sehr hohe Investitionen in neue Technologien geflossen und so sind viele Millionen Menschen befähigt worden, neue Dinge zu tun und alte Dinge neu oder gar nicht mehr zu tun. Deshalb ließ sich vieles so gut bewältigen. Gleichzeitig konnten wir, so sehe ich das, in der Corona-Pandemie die Zukunft erproben. Das gab es so in der Geschichte noch nie. Wir haben eine "Real-Science-Fiction" erlebt. Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund die Zukunft des Homeoffice? Wie es damit weitergeht, ist noch nicht klar. Die Unternehmen gehen da, wie ich es beobachte, sehr unterschiedliche Wege. Bei manchen ist es notwendig, dass die Mitarbeiter wieder ins Büro zurückkommen. Dann muss man es eben so machen. Bei anderen funktioniert das Homeoffice hervorragend. Die Zukunft wird entscheiden, mit welcher Lösung sich die besseren Erfolge erzielen lassen. Homeoffice ist nur der erste Schritt. Müssen Mitarbeiter in Zukunft überhaupt noch in einem Raum sitzen, oder können die irgendwo sitzen - vielleicht sogar in einem anderen Land? Die Technologien sind ja inzwischen so ausgereift, dass es quasi egal ist, wo man arbeitet. Das sind bereits Tatsachen und reale Möglichkeiten. Es gibt viele unterschiedliche Szenarien. Viele Menschen sind kreativ. Aber manche werden es auch nicht schaffen, weil sie im Homeoffice vereinsamen, dort nicht die Selbstdisziplin aufbringen, die dafür nötig ist, und manche, vielleicht viele, lassen sich verkommen. Wir dürfen aber das bisherige Berufsleben nicht schönreden. Längst nicht alle Menschen sind damit zurechtgekommen, Beispiel lange Arbeitswege und endlose Staus. Die Chancen für das Homeoffice sind groß. Ich habe Kunden, die einen großen Außendienst haben. Deren Umsatz ist im ersten Corona-Jahr sogar um zehn Prozent gestiegen - trotz der geringeren persönlichen Kontakte. Homeoffice hat funktioniert. Gleichwohl werden die Mitarbeiter durch diese neuen Technologien immer autonomer und organisieren sich immer stärker selbst, um ein Problem zu lösen. Auch Entscheidungen werden mittlerweile unten an der Basis ausgefochten, und das Management nickt diese Entscheidungen häufig nur noch ab. Braucht es in Zukunft - provokant gefragt - überhaupt noch Manager und Führungskräfte? Uneingeschränktes Ja. Es braucht sogar deutlich mehr Menschen, die mit diesen neuen Technologien die anstehenden Führungs-, Gestaltungsund Organisationsaufgaben noch viel besser lösen können. Diese Generation wächst jetzt heran. Sehen Sie, ich habe in meinem bisherigen Berufsleben über 100.000 Führungskräfte ausgebildet und befähigt. Und in dieser Zeit hat sich vieles verändert - auch die Führungs-Auffassungen und verfügbaren Methoden. An alten Dingen festzuhalten, bringt uns nicht voran. Heute empfehle ich es allen Führungskräften, sich in dieser neuen "Vernetzung" zurechtzufinden und die neuen Möglichkeiten mit einer positiven Einstellung zu nutzen und mit ihnen zu experimentieren. Wir haben jetzt die große Chance, ganz neue Dinge im Zusammenleben und Zusammenarbeiten auszuprobieren. Mein Rat ist: Lasst uns die Potenziale ausloten! Wie sieht angesichts dieser neuen Möglichkeiten das Unternehmen der Zukunft aus? Gibt es da noch die klassischen Hierarchien und Abteilungsstrukturen, oder agieren Mitarbeiter in Zukunft autonom über vertikale Netzwerke miteinander? Die Autonomie einer großen Zahl von Mitarbeitern wird größer werden, durch bessere Ausbildung und Bildung, besonders durch bessere, also kybernetische Kommunikation. Alle Mitarbeiter werden zudem die Grundregeln für wirksames Management kennen, diese beherrschen und beispielgebend vorleben (siehe Kasten unten). Wozu braucht es da noch Führungskräfte? Wir werden viel mehr Führungskräfte haben als bisher. Denn wir leben schon heute vielerorts in Gesellschaften, deren wichtigster Rohstoff Wissen ist. Wissensspezialisten können nicht wie früher geführt werden, sondern sie müssen sich selbst führen. Und dazu müssen wir sie befähigen. Vielleicht hilft ein Vergleich mit dem menschlichen Organismus. Damit dieser funktioniert, braucht es dreierlei: die Anatomie, die Physiologie und die Nervensysteme. Die Anatomie lässt sich am besten mit dem Organigramm eines Unternehmens vergleichen. Jedes Kästchen im Organigramm ist ein Organ. Die Prozesse im Unternehmen sind die Physiologie, zum Beispiel der Blutkreislauf. Aber wo sind die Nervensysteme? Wir sehen sie nicht. Nur weil wir sie nicht sehen, heißt das aber nicht, dass es sie nicht gibt. Nun werden Sie sagen, die Unternehmen funktionieren ja doch - irgendwo müssen die Schaltstellen sein. So ist es. Das sind heute die Führungskräfte in Person. Mit der Digitalisierung können wir die Möglichkeiten der Neurowissenschaften nun auf die Technik übertragen und auf das Funktionieren von Organisationen und dadurch die Systeme deutlich besser steuern. Wir können die Systeme sogar befähigen, sich selbst zu steuern, sich selbst zu regulieren. Dazu befähigt uns die Kybernetik. Welche Rolle, welche Aufgaben hat dann also eine Führungskraft in Zukunft? Die Aufgabe von Führungskräften wird es sein, Systeme zu bauen, die sich selber regulieren und organisieren. Ein Alltagsbeispiel zeigt das schon recht gut: Stellen Sie sich eine große, hochkomplexe Straßenkreuzung mit entsprechend ausgestalteten Ampelsystemen vor. Trotzdem gibt es Verkehrsstau. Frage an Sie: Mit welcher Alternative lässt sich das besser lösen? Da muss ich passen. (Lacht) Mit dem Kreisverkehr. Damit funktioniert das wunderbar. Mit nur zwei Regeln, die alle befolgen können: Wer im Kreisverkehr drin ist, hat Vorrang, erst danach folgen die, die von rechts kommen. Und genau das sind die Elemente, mit denen wir es in Zukunft im Management von morgen zu tun haben werden. Die Aufgabe von Führungskräften wird es sein, und ist es schon heute, Regelwerke zu definieren, über die die Organisation befähigt wird, sich selbst zu regulieren. Dafür müssen Führungskräfte lernen, mit Systemen kompetent umzugehen, deren Ursache-Wirkungs-Funktionen wir nur zum Teil und vielleicht auch gar nicht kennen. Was heißt das konkret? Heute sind die meisten unserer Wissenschaften weitgehend auf Kausalwissen aufgebaut. Sprich: Wir müssen die Ursachen kennen, um richtig handeln zu können. Das wird in vielen Bereichen auch weiterhin nötig sein. Im Altertum aber haben die Seefahrer einfach die Segel neu gesetzt und das Ruder neu gestellt, weil sie kein Kausalwissen hatten. Warum der Wind aufgefrischt und die Strömung die Richtung gedreht hat, war nicht bekannt, aber man konnte auf Kurs bleiben. Wenn die Welt also noch komplexer wird, hilft eines: Unternehmenslenker müssen lernen, ohne Kenntnis der Kausalitäten richtig zu handeln. Dabei helfen uns die intelligenter werdenden Algorithmen und Heuristiken. Algorithmen sind Regeln, die uns sagen, wie wir das Spiel spielen müssen. Die Heuristiken sind Regeln, die uns sagen, wie man das Spiel gewinnt. Hier können wir von der Neurophysiologie und der Kybernetik sehr viel für die Unternehmensführung lernen. Was ist vor diesem Hintergrund Ihr wichtigster Rat für die Führung von Unternehmen in Zukunft? Wir leben, was die Zukunft betrifft, noch mit vielen Fragezeichen. Das erfordert von uns zu lernen, wie die großen Transformationen ablaufen. Es gibt Grundmuster und Gesetzmäßigkeiten, an denen man sich wie mit einem Kompass orientieren kann. Man kann lernen, wie man mit Komplexität umgeht, die von vielen mit Kompliziertheit verwechselt wird, die aber mit Komplexität nichts zu tun hat. Komplexität ist der neue Rohstoff für Intelligenz und Kreativität. Und man sollte lernen, wie man die Kybernetik einsetzt für die Regulierung und Selbstregulierung von Systemen. Und den Managern muss es gelingen, die Menschen so zu vernetzen, dass wir über Synergien das Maximum/den größten gemeinsamen Konsens schaffen können. Dazu wollen wir als Malik Management Institut Führungskräfte befähigen. Und zum Schluss noch ein Rat für die Unternehmenslenker - der kybernetische Imperativ für den Umgang mit Ungewissheit: Handle immer so, dass du nach einer Entscheidung mehr Möglichkeiten hast als vor deiner Entscheidung ...! Eva Hassa Vita - Fredmund Malik Professor Fredmund Malik ist Inhaber und Leiter des Management-Beratungsunternehmens Malik International in St. Gallen. Er gilt als einer der renommiertesten Management-Vordenker und hat in seinem Berufsleben über 100.000 Führungskräfte in Management-Praxis auf Basis von Kybernetik/Systemwissenschaften ausgebildet. Außerdem ist er Bestseller- Autor. Sein bekanntestes Buch ist "Führen, Leisten, Leben".Malik ist im Jahr 1944 geboren und studierte ab 1968 in Innsbruck und ab 1970 in St. Gallen Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Das Studium schloss er mit der Promotion ab, 1978 folgte die Habilitation für Betriebswirtschaftslehre. Jahrelang arbeitete mit seinem Doktorvater Hans Ulrich zusammen, dem Begründer des St. Galler Management-Modells. Expertenrat - Die sechs Grundregeln für wirksames Management Die Autonomie einer großen Zahl von Mitarbeitenden wird in Zukunft durch bessere Ausbildung und Bildung größer werden. Welche Grundregeln für wirksames Management Mitarbeiter laut Management-Experte Fredmund Malik künftig beherrschen und beispielgebend vorleben sollten: Es kommt auf die Ergebnisse an - nicht auf die Arbeit und nicht auf die Anstrengung. Es kommt darauf an, einen Beitrag für das Ganze zu leisten. Es kommt darauf an, sich auf weniges, dafür aber auf wirklich Wichtiges zu konzentrieren. Es kommt darauf an, bereits vorhandene Stärken zu nutzen. Es kommt auf das gegenseitige Vertrauen an. Es kommt darauf an, positiv zu denken.

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