Speditionen stoßen an Grenzen

Die Bilanz von Benjamin Nendel nach 100 Tagen Brexit ist ernüchternd: "Das Brexit-Chaos ist nicht besser geworden. Wir haben inzwischen nur mehr Routine, mit diesem Chaos umzugehen", formuliert er es. Nendel ist Disponent bei der Spedition HB Transport im fränkischen Röttenbach, die sich auf England-Transporte spezialisiert hat. Jede Woche fährt die Spedition mit 28 bis 30 eigenen Lkw Teil- und Komplettladungen von Bayern nach England und umgekehrt. Fünfmal mehr Aufwand als vor dem Brexit "Das große Problem ist der Zoll. Es gibt zwar vereinzelt gute britische Zollagenten. Die meisten sind aber eine Katastrophe, weil viele nicht geschult sind", schimpft Nendel. Konkret hake es derzeit an den LRN-Nummern, die es zur Aktivierung der T1-Papiere im britischen Zollsystem braucht. "Entweder ist die jeweilige LRN-Nummer nicht vollständig oder der Zoll akzeptiert sie nicht, weil sie angeblich falsch ist. Unsere Fahrer müssen oft einen Tag auf diese Nummer warten. Wir verlieren da unheimlich viel Zeit", klagt er. Was die England-Verkehre erschwert: Es gibt aktuell deutlich weniger Fähr- und Zugverbindungen aus der EU nach UK und umgekehrt als vor dem Austritt der Briten aus der EU, weil die Handelsmengen seit dem Brexit so stark eingebrochen sind. "Alles in allem macht uns das England-Geschäft aktuell fünfmal mehr Arbeit als vor dem Brexit", ist sich der Disponent sicher. "Wir kümmern uns nur noch um den Zoll. Jedem müssen wir hunderte Male nachtelefonieren. Teilpartien lohnen sich aktuell für uns fast nicht mehr. Aufwand und Frachtpreis - das passt nicht mehr." Auch Thorsten Porath, Geschäftsführer der Zollagentur Porath in Hamburg, kann nur den Kopf schütteln, wenn er aktuell an Großbritannien denkt. So habe der vormalige UKIP-Parteichef Nigel Farage soeben erst getwittert: "Die EU blockiert Impfstoff-Exporte nach Großbritannien. Die EU zeigt damit erneut ihr wahres Gesicht. Gepriesen sei Gott für den Brexit!" Natürlich sei das Quatsch, kommentiert Porath den Tweet. Den Briten werde aber damit vorgegaukelt, dass sich die EU an ihnen wegen des Brexits rächen wolle. Ein Beispiel - wohl von vielen. "Vor und nach dem Brexit ist viel gelogen worden, vor allem auf britischer Seite", sagt Porath. Für ihn ist dies der eigentliche Grund, warum es im Warenverkehr zwischen UK und der EU knirscht. "Den Briten wurde stets der Eindruck vermittelt, dass sich für sie durch den Brexit nichts ändern wird." Genau das habe dazu geführt, dass sich viele britische Betriebe auf die neuen Anforderungen nicht vorbereitet haben, obwohl die EU seit dem Referendum in 2016 stets betont habe, dass UK durch den EU-Austritt zum Drittland werde. Der Zollrechtsexperte: "Es gibt nun mal ein europäisches Zollrecht, an das sich alle zu halten haben. Da gibt es keine Ausnahmen - auch nicht für Fälle wie den Brexit." Das größte Problem im EU-UK-Verkehr sind für ihn aber die fehlenden Zollagenten auf britischer Seite. "Das ist das Nadelöhr." Extrem lange Wartezeiten seien die Folge. Dass sich dieses Problem schnell löst, glaubt er nicht. "Dieses Expertenwissen aufzubauen, braucht mehrere Jahre. Da wurde auf britischer Seite einiges verschlafen." Keiner weiß, wer im Prozess was macht Porath muss es wissen. Seine Zollagentur Porath Customs Agents übernimmt für Kunden zum Beispiel die Zollabwicklung von Drittlandswaren wie UK, die an der EU-Außengrenze ankommen, aber auch zum Beispiel EU-Waren nach UK. Tag für Tag kämpft er da mit neuen Problemen. "Es fehlt ja nicht nur an Fachwissen seitens der britischen Unternehmen", sagt er. "Es gibt auch Kommunikationsprobleme." Keiner wisse so recht, für welchen Prozess er in der Lieferkette zuständig sei. Jeder schiebe dem anderen die Verantwortung zu. Das mache das Ganze so schwierig und aufwendig. Besonders problematisch gestaltet sich das bei Getränken und Lebensmitteln, die aus UK in die EU geliefert werden, beobachtet er: "Viele Lkw aus UK werden aktuell an den EU-Außengrenzen festgehalten, weil sie zum Beispiel gegen Kennzeichnungspflichten verstoßen oder erforderliche Gesundheitszertifikate falsch ausgefüllt sind oder gar fehlen." Dies seien zwar keine klassischen Zollprobleme. Da der Zoll aber verpflichtet sei, auch solche Dinge zu kontrollieren, gebe es Verzögerungen. So sei unlängst eine Sendung mit Tee in Italien für acht Wochen nicht zum Empfänger-Unternehmer ausgeliefert worden, weil der italienische Zoll diverse Verpackungsvorschriften nicht eingehalten sah. Damit nicht genug: Transitverfahren nach UK werden nicht fristgemäß abgeschlossen. "Die nachträgliche Erledigung dauert oft mehrere Monate." Ob dies aufgrund menschlicher oder technischer Fehler passiere, sei meist unklar. Fest stehe nur, dass dies für den Anmelder der Transitverfahren, wie etwa Porath, böse Folgen haben könne. Denn der haftet dann grundsätzlich für die Eingangsabgaben. Es gibt nach gut 100 Tagen Brexit also etliche Baustellen, an denen der Warenverkehr zwischen EU und Großbritannien krankt. Trotzdem: "Das ganz große Chaos ist bislang ausgeblieben", meint Niels Beuck, Geschäftsführer des DSLV Bundesverband Spedition und Logistik. "Die gute Vorbereitung unserer Mitgliedsunternehmen zahlt sich jetzt aus", lobt er. Diese hätten die lange Phase der Verhandlungen zwischen Großbritannien und der EU zeitlich genutzt, um sich auf die Neuerungen vorzubereiten. Mit ein Grund sei aber auch, räumt Beuck ein, dass nach dem Brexit das Handelsvolumen zwischen EU und Großbritannien deutlich eingebrochen sei. Einerseits weil vor dem Jahreswechsel etliche Betriebe aus Gründen der Versorgungssicherheit ihre Lager aufgefüllt haben. Andererseits weil große Firmen wie die Automobil- und Hightech-Industrie ihre Lieferketten neu organisiert haben, um mehrmalige Grenzübertritte zu vermeiden. Deutlicher Einbruch der Verkehre "Die Mengen, die dadurch weggefallen sind, kommen auch nicht mehr zurück", meint der DSLV-Geschäftsführer. "Großbritannien ist durch den Brexit jetzt Drittstaat, und das macht das grenzüberschreitende Waren-Handling komplexer und aufwendiger." Zudem fehlen Spediteuren im Eingang Sendungsmengen, da insbesondere kleine und mittlere britische Händler den administrativen Mehraufwand durch den Brexit unterschätzt haben. "Das Infomaterial seitens der britischen Behörden ist zwar da. Das praktische Doing überfordert aber solche Betriebe vielfach", erklärt er. "Das Risiko ist groß, dass ein Dokument oder Zertifikat fehlt und dadurch Spediteure tagelang an den Grenzen stehen, weil der Zoll sie nicht durchlässt." Die Folge: Speditionen fahren lieber Komplettladungen und fokussieren sich auf Großkunden, die Menge bringen und bereit sind, für den Mehraufwand zu bezahlen. "Alles, was ein Risiko darstellt und den Prozess gefährdet, lehnt man lieber ab", weiß Beuck. Demzufolge haben es britische Kleinbetriebe derzeit schwer, Dienstleister zu finden, die ihre Waren in die EU befördern. Ob und wie stark sich der Warenhandel dies- und jenseits des Ärmelkanals entwickeln wird, wird die Zeit also zeigen. Auch Beuck wagt keine Prognose. Hoffnungsfroh stimmt immerhin, dass Transport- und Speditionsbetriebe in UK etliche Zollund Sicherheitserklärungen jetzt erst bis zu sechs Monate später vorweisen müssen als bislang vorgesehen. So sollte die zweite Phase des Operating Models eigentlich nun zum ersten April gezündet werden und die dritte Phase zum ersten Juli mit den sanitären und phytosanitären (SPS-)Kontrollen. Nun ist das Ganze erst mal auf Januar 2022 verschoben - eine Schonfrist, die allen Beteiligten guttun wird. eh Tipps für die Zollabwicklung von Drittlandswaren www.verkehrsrundschau.de/plus/brexit In Kürze Der Brexit belastet den Handel zwischen der EU und Großbritannien mehr, als viele befürchtet hatten. Viele Bereiche, insbesondere in der Zollabwicklung, aber auch in der Kommunikation innerhalb der Lieferketten-Prozesse, müssen sich noch einspielen. "Es fehlt weiterhin an Zollagenten in einigen Regionen" Duncan Buchanan, Direktor England/ Wales im englischen Frachtführerverband RHA Wie hat sich der Lkw-Verkehr zwischen Großbritannien und dem europäischen Festland in diesem Jahr entwickelt? Seit Januar beobachten wir einen enormen Rückgang des Güterverkehrs. Die Zahl der Lkw hat seitdem in beiden Richtungen etwa um 15 Prozent abgenommen. Aber da es vielen Unternehmen nicht gelingt, Rückladungen zu akquirieren, dürfte das Ladungsvolumen noch stärker rückläufig gewesen sein. Klappt die Verzollung mittlerweile? Nur bedingt. Natürlich haben sich einige Unternehmen auf die Anforderungen eingestellt. Aber es gibt nach wie vor Regionen, in denen es an Zollagenten fehlt. Das führt dann zu Verzögerungen in den Supply-Chains. In einigen Sektoren ist zu befürchten, dass der höhere Zollaufwand dazu führen wird, dass es sich nicht mehr lohnt, die Güter zu exportieren. Da ist mit einem dauerhaften Rückgang des Volumens zu rechnen. Von deutschen Unternehmen hört man immer wieder, die britische Seite habe sich nicht frühzeitig mit Zollagenten auf den Brexit vorbereitet. Das stimmt. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zum einen politische: Die britische Politik wollte einfach nicht sehen, dass im internationalen Handel Probleme bei der Verzollung auftauchen, und hat die Vorbereitungen nicht entsprechend vorangetrieben. Aber man muss auch berücksichtigen: Für einen Exporteur auf dem europäischen Festland ist nur der Außenhandel nach Großbritannien betroffen. Ein Exporteur mit Sitz in Großbritannien hingegen, der Waren nach Europa ausführt, für den sind auf einmal alle Sendungen betroffen. Der Aufwand ist also hier um ein Vielfaches größer als auf dem europäischen Festland. Ziehen sich britische Fuhrunternehmen aus dem internationalen Geschäft zurück? Derzeit beobachten wir, dass sich eher ausländische Anbieter zurückziehen. Dazu muss man wissen: Etwa 85 Prozent des grenzüberschreitenden Verkehrs sind in der Hand von ausländischen Frachtführern. Britische Unternehmen spielen also eine deutlich geringere Rolle. cd

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