Schnell und durstig

Fangen wir die Diskussion ob der Sinnhaftigkeit eines Lkw vom Kaliber des Scania S 650 am besten gar nicht erst an. Vernünftige und vor allem wirtschaftliche Argumente gegen ihn gibt es zuhauf, sie wollen einem hinter dem Steuer des Boliden nur einfach nicht einfallen! Viel zu faszinierend ist es, wie brachial die 650 PS unseren voll ausgeladenen Fliegl-Testauflieger in aberwitzigen 38 Sekunden von Null auf Tempo 85 katapultieren. Dabei stellt der 650er-Scania nicht einmal das Maximum des Programms, diese Ehre gebührt weiterhin dem 730er. Ihn empfehlen wir aber nur bedingt, schließlich durfte er das letzte Motoren-Update nicht mitmachen, das Scania 2017 spendiert hat. Der 650er reinigt seine Abgase dagegen ohne verbrauchstreibende Abgasrückführung, verfügt über einen moderneren, gedrehten Twin-Scroll-Turbolader, bedarfsgesteuerte Komponenten wie Öloder Diesel-Pumpe sowie auf Leichtlauf optimierte Kolben. Alles zusammen soll dafür sorgen, dass der 650er seinen Job bis zu zehn Prozent sparsamer erledigt als das um 80 PS stärkere Topmodell. Zumindest mit 40 Tonnen vermisst man dessen Mehrleistung nicht. Der S 650 bügelt mit seinen 3300 Newtonmetern Drehmoment jeden Berg der Test runde platt, ohne einmal unter die 80-km/h-Marke zu fallen. Und stellt unmissverständlich klar, dass er es locker schaffen würde, das Reisetempo von 85 km/h auch komplett zu halten - wenn die Steuerungselektronik des automatisierten Schaltgetriebes Opticruise ihn lassen würde. Doch die ist eben auf Vernunft getrimmt und untersagt dafür nötige Rückschaltungen, um den Spritkonsum der acht Zylinder im Rahmen zu halten. Lassen wir sie machen, schließlich gibt es auch so am Berg keine "Gegner", sondern höchstens Opfer. Die Chance, unterwegs auf einen 750er-Volvo oder einen S oder R 730 zu treffen, ist ja eher gering. Als goldrichtige Wahl empfinden wir die vom Hersteller gewählte 2,92er-Hinterachsübersetzung. Längere Achsen könnte Scania zwar realisieren, sie würden den Power-Truck aber zum zahnlosen Tiger mutieren lassen. Im Testfahrzeug arbeitet der V8 bei 85 km/h mit entspannten 1070 Touren und wirkt dabei regelrecht gelangweilt. Nähert sich aber eine Steigung, erwacht er zum Leben. Dann holt er spätestens bei 1040 Touren in Form einer Rückschaltung einmal tief Luft und vernascht jede topografische Aufgabe eifrig bei rund 1250/min. Ohne Overdrive geht es hier nicht Der Grund, warum die Elektronik früh zurückschaltet und das bereits ab 950/min voll anliegende Drehmoment nicht konsequent nutzt: Sie weiß um den Nachteil des hier obligatorischen Overdrive-Getriebes und sucht ihr Heil möglichst früh im direkt übersetzten und widerstandsärmeren elften Gang. Schöner Nebeneffekt: Bei höheren Drehzahlen entfaltet sich der kehlige V8-Sound erst so richtig, wodurch man förmlich meint, den Berg hinaufzufliegen. Was nur teilweise der Wahrheit entspricht. Das Testfahrzeug erklimmt den Kindinger Berg auf der A 9 - längste und anspruchsvollste Steigung der Testrunde - vernachlässigbare drei Sekunden langsamer als sein 730 PS starkes Pendant (siehe VR 16/2017). Auf der anderen Seite kann der S 650 gegenüber seinem schwächeren V8-Bruder R 520 (VR 16/2018) dem Zeitkonto an gleicher Stelle lediglich 18 Sekunden gutschreiben. So läppert sich zwar trotzdem ein Vorsprung zusammen, der aber im nächsten Überholverbot meist wirkungslos verpufft. Großen Anteil am Fahrspaß haben neben der brachialen Motorleistung Lenkung und Fahrwerkskonfiguration. Typisch Scania ist auch im 650er die verbindliche und angenehm direkte Lenkung. Der Fahraktivität förderlich ist zudem die Zweiblatt-Parabelfederung an der Vorderachse, über die die Testzugmaschine verfügt. Gepaart mit der luftgefederten und eher weich abgestimmten S-Kabinen-Lagerung kommt so eine komfortable, aber trotzdem fahraktive Mischung zusammen, ohne übermäßige Seitenneigung des hohen Highline-Fahrerhauses bei Kurvenfahrten. Auffällig sind lediglich die verstärkten Nickbewegungen der Kabine, der schwere V8 auf der Vorderachse fordert hier seinen Tribut ... Gleichzeitig spart der Verzicht auf die luftgefederte Vorderachse Kilos, was hilft, das traditionelle hohe Gewicht etwas einzudämmen. Trotzdem ist das Testfahrzeug mit über 7,9 Tonnen alles andere als ein Leichtgewicht. Und wie schlägt sich der S 650 bei Dieselkonsum und Durchschnittstempo? Um Sprit zu sparen, wird niemand einen solchen PS-Boliden anschaffen, das können die Scania-Reihensechszylinder ungleich besser. Einen entsprechenden Zuschlag muss der Eigner daher einkalkulieren: 29,37 l/100 km kommen auf der Teststrecke durchschnittlich zusammen. Ein Wert, den man durchaus als Eilzuschlag bezeichnen darf, denn der 650er brennt mit einem Durchschnittstempo von 80,9 km/h einen neuen Geschwindigkeitsrekord auf der aktuellen VerkehrsRundschau-Testrunde in den Asphalt. Doch selbst das kann man kaum als rationelles Argument für den S 650 gelten lassen; da schon eher den Aspekt Fahrermotivation. Wer einen solchen Boliden bekommt, dürfte ihn pfleglich behandeln und kaum dazu kommen, über einen Jobwechsel nachzudenken. Alle Tests und Fahrberichte für Abonnenten www.verkehrsrundschau-plus.de In Kürze In 38 Sekunden beschleunigt der Scania S 650 von Null auf Tempo 85 - mit 40 Tonnen Gesamtgewicht. Das macht den Schweden zu einer fazinierenden Fahrmaschine, die allerdings entsprechend gefüttert werden will. Test mit Referenz-Lkw Der redaktionseigene Mercedes Actros 1845 mit Curtainsider von Schmitz Cargobull sorgt für vergleichbare Testergebnisse. Dafür wurde die VR-Testrunde unter guten Wetterbedingungen abgefahren. Liegen die Verbrauchswerte des Referenz-Lkw am Testtag über oder unter diesem Wert, ist klar, dass das Testfahrzeug schlechtere oder bessere Bedingungen hatte, was sich entsprechend zurückrechnen lässt.