Brüssel. Der Schengen-Vertrag, der vor mehr als 25 Jahren die Schlagbäume in Europa aufgehoben hat, steht zur Debatte. Seit Tausende Flüchtlinge in den vergangenen Monaten aus Nordafrika nach Europa gekommen sind, streiten die EU-Staaten um die Wiederaufnahme von Grenzkontrollen. Auf dem EU-Gipfel an diesem Donnerstag und Freitag in Brüssel werden die Staats- und Regierungschefs auf höchster Ebene darüber beraten, wie der kontrollfreie Verkehr über die Grenzen hinweg garantiert werden kann.
Was Schengen ist
Das Schengener Abkommen ist ein grundlegender Pfeiler der Europäischen Union und gilt als unveränderliches Herzstück. Der Vertrag von 1985 hat eine nie gekannte Reisefreiheit innerhalb Europas geschaffen. An den Grenzen zwischen den Schengenstaaten werden Reisende nur noch in Stichproben oder bei besonderen Ereignissen - etwa vor großen Fußballspielen - überprüft. Dem Schengen-Raum gehören heute 25 Staaten an. Dazu zählen 22 EU-Länder (alle außer Großbritannien, Irland, Zypern, Bulgarien und Rumänien) sowie Norwegen, Island und die Schweiz.
Italien und Frankreich fordern Änderungen
Wegen des Flüchtlingsstroms über das Mittelmeer verlangt Italien, wo besonders viele Nordafrikaner mit Booten landen, eine Reform des Vertragstextes. Frankreich unterstützt dies. Beide Staaten wollen eine rechtliche Grundlage haben, um mit Grenzkontrollen Wirtschaftsmigranten aus Tunesien aufhalten zu können. Im Norden will Dänemark mit Kontrollen an den Grenzen zu Deutschland und Schweden die internationale Kriminalität wirksamer bekämpfen - auch dies scheint nicht vom Vertragstext gedeckt zu sein. Die EU-Kommission hat Dänemark deswegen bereits mit einer Klage vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) wegen Verletzung der EU-Verträge gedroht.
Die EU-Staaten sind über eine kurzfristige Wiedereinführung von Grenzkontrollen tief zerstritten. Viele Länder sowie die EU-Kommission als Hüterin der Verträge stehen einer Änderung des Schengener Abkommens skeptisch gegenüber. Sie wollen am Grundsatz der Reisefreiheit unbedingt festhalten. Nur zu leichten Korrekturen am Grenzkodex sind die Mitgliedsstaaten - so auch die Bundesregierung - bereit. EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy gibt in seiner Gipfel-Einladung die Linie vor: „Wir sollten die Bedeutung der Reisefreiheit unterstreichen und Orientierung über die künftige Arbeit an diesen Schlüsselfragen geben."
Entwurf einer Lösung
Beim Gipfel wollen sich die Staaten darauf festlegen, dass Grenzkontrollen nur unter außergewöhnlichen Umständen zeitweise und örtlich begrenzt wieder erlaubt sein sollen. Im dem Entwurf für die Abschlusserklärung des Gipfels, der der Nachrichtenagentur dpa in Brüssel vorliegt, heißt es: Die Wiedereinführung von Kontrollen sei nur „als letztes Mittel" möglich, und zwar „in einer wirklich kritischen Lage, wenn ein Staat nicht mehr zur Kontrolle seiner Außengrenzen in der Lage ist". Die EU-Kommission wird eingeladen, bis zum frühen Herbst einen Vorschlag für einen Kontrollmechanismus zu machen, der in besonderen Fällen aktiviert werden kann.
Grenzschutzagentur Frontex
Zum besseren Schutz der Außengrenzen des Schengen-Raums will Europa die europäische Grenzschutzagentur Frontex ausbauen. Das soll der Gipfel beschließen und zugleich die nationalen Zollbehörden und Grenzschützer zur besseren Zusammenarbeit auffordern. „Die EU-Kommission ist eingeladen, bis zum Jahresende gemeinsam mit Frontex Vorschläge in diese Richtung zu machen", heißt es im Entwurf der Abschlusserklärung. Um die Menschen dazu zu bewegen, in ihren Ländern zu bleiben, will die EU eine neue Partnerschaft mit nordafrikanischen Ländern der Mittelmeerregion aufbauen.
Auf dem Gipfel wollen die EU-Staaten ihr Ziel bekräftigen, bis 2012 die europäische Asylpolitik anzupassen. Allerdings ist auf diesem Feld nur ein Minimalkonsens möglich, weil den meisten Regierungen die bisherigen Vorschläge der EU-Kommission zu asylfreundlich sind. Die Staaten wollen in der Abschlusserklärung festschreiben, dass das künftige Asylsystem auf „hohen Schutzstandards sowie schnellen und fairen Asylverfahren, die Missbrauch verhindern, aufbauen soll". (dpa)