Nutzfahrzeugindustrie in der Türkei

Nutzfahrzeugindustrie in der Türkei Ungebrochenes Wachstum Trotz der zuletzt eher schwierigen Schlagzeilen für die Türkei wächst die Nutzfahrzeugindustrie im Land kräftig weiter. Ein Lagebericht vom Trailerhersteller Tirsan und der Istanbuler Nutzfahrzeugmesse Comvex. Der Inhaber der Tirsan-Gruppe, Çetin Nuhoğlu, bleibt auf dem Gas: In den letzten zwei Jahren stellte er die Curtainsider-Produktion auf eine Fließfertigung wie die drei großen deutschen Hersteller um. Außerdem leistete Tirsan sich, ähnlich wie beispielsweise Schmitz in Altenberge, ein Research- und Developement-Center samt Hydropulser. Das spart Tirsan rund 30 Prozent Entwicklungszeit und soll darüber hinaus für noch mehr Daten und Qualität vor Ort sorgen. Aktuell erweitert Nuhoğlu die Fertigung um eine eigene KTL-Anlage mit 15 Meter langen Becken: Seit zwei Jahren lässt er seine Chassis bei MAN in Ankara „tauchen“, was allerdings zusätzlichen logistischen Aufwand mit sich bringt. Außerdem hat er auch hier gern die Steuerung im eigenen Haus. Auch in der Tank-, Tieflader- und Kühlerfertigung legt der Konzern nach: In der Tankerproduktion gibt es zusätzliche neue Schweißautomaten. Außerdem hat Tirsan eine sogenannte „Schweißakademie“ gegründet, um die Qualität des Alu- und Edelstahlschweißens weiter zu erhöhen. Das Tiefladerprogramm erweitert man gerade um eine eigenentwickelte, hydraulische Radführung und in der Kühlerfertigung stellt Tirsan gerade auf eine eigene Schäumerei um: Bislang bezog man die Schaumplatten aus der Schweiz und aus Frankreich. Außerdem verfügt das Entwicklungszentrum über eine eigene Temperaturkammer. 20.000 Trailer bis 2020 plant Nuhoğlu ein – das wäre eine gute Verdoppelung des derzeitigen Volumens von gut 9000 Einheiten, die die Tirsan-Gruppe 2013 fertigen wird. Seinen Optimismus zieht der Tirsan-Eigentümer aus dem bisherigen Wachstum und positiven Entwicklungen seiner Region. Immerhin konnte Tirsan die Fertigung massiv erhöhen: 2008 baute man 3488 Fahrzeuge. Nach der Krise im Jahr 2009 waren es nur noch 1216. Schon 2010 produzierte man wieder 3137 Anhänger. 2011 waren es bereits 6785 und 2012 dann 7325. Nächstes Jahr möchte Tirsan die 10.000er-Marke knacken. Die Investitionen gehen weiter Dabei darf man nicht übersehen, dass die Türkei nach wie vor schwer in (Aus-)Bildung investiert: Wer ein Research- und Developement-Center errichtet und darin Ingenieure ausbildet und beschäftigt, erhält großzügige Nachlässe beim Mehrwertsteuersatz, weshalb übrigens auch Krone vorhat, ein türkisches Entwicklungszentrum zu errichten. Außerdem plant der Staat eine Teststrecke analog zum britischen Pendant „Mira“ bei Birmingham, wo Tirsan bislang seine Straßentests unternimmt. Da in unmittelbarer Nähe auch Ford, Honda, Hyundai und Toyota aktiv sind, dürften sich die Testwege für Tirsan dann massiv verkürzen. Die Briten beraten ihre türkischen Kollegen übrigens bei der Anlage ihres Testareals. Anders als Krone, dessen familiäre Firmenkultur derjenigen von Tirsan übrigens nicht ganz unähnlich ist, möchte Nuhoğlu aber weiterhin mit einem breiten Produktportfolio wachsen, das dem von Schwarzmüller ähnelt: Neben den Curtainsidern und Koffern bleiben Tanker, Luftfrachttrailer, Silos und Tieflader im Programm, das man jüngst um Kühler und Kipper erweiterte. Für den deutschen Markt sind dabei aber vor allem die Luftfrachttrailer von Talson, die Tieflader und die Silofahrzeuge relevant, die im Werk in Goch kundenspezifisch komplettiert werden. Bei den Curtainsidern steht einer größeren Verbreitung der hohe Transportpreis von der Türkei nach Deutschland entgegen: Da Kögel, Krone und Schmitz weiter um jeden Cent kämpfen, haben Importeure in diesem Segment prinzipiell kaum Chancen. Die Qualität der Tirsan- respektive Kässbohrer-Produkte hat sich durch die letzten Maßnahmen drastisch erhöht: Waren vor einigen Jahren noch vereinzelt Lacknasen oder einzelne etwas luschig verlegte Kabel zu sehen, zog man jetzt mit den bekannten Serienprodukten gleich. Um die einzelnen Sparten besser steuern zu können, hat die Gruppe ihre Aktivitäten nach Fahrzeugsparten aufgegliedert, die jetzt alle separat agieren. Dabei laufen alle Stufensattel für Luftfracht unter dem Markennamen Talson. Tanker, Silos und Tieflader sind immer Kässbohrer, was im Export auch für die Curtainsider gilt. Auf dem Heimatmarkt werden sie jedoch weiter als Tirsan vermarktet, was auch für die Kühler mit Kunststoffdeckschicht und die Kippsattelauflieger gilt, die bislang (noch) nicht exportiert werden. Kooperation mit LKW-Herstellern Auf dem deutschen Markt vertreibt Kässbohrer nach eigenen Angaben rund 400 Fahrzeuge im Jahr, wobei man vor allem im Tiefladerbereich der „Standard-Ausziehmodelle“ von zwei bis acht Achsen noch Luft nach oben sieht. Auf der Agritechnica präsentierte Kässbohrer erstmals einen Gülletanker aus Edelstahl, der sehr großen Anklang fand und die Edelstahlsparte stärken wird. Außerdem bleibt man bei den Bitumensatteln und den kippbaren Volumensilos aktiv. Von Letzteren entstehen neun bis zehn Stück pro Jahr. Außerdem legt Nuhoğlu beim Service und bei der Telematik nach: In den Niederlanden dockte man sich ans Daimler-Netz an und in der Türkei stellte man eine große Niederlassung ins Niemandsland nach Aksaray – direkt neben die Daimler-Fabrik. Nuhoğlu, der gern und intensiv mit seinen Kunden spricht, hat beobachtet, dass viele Unternehmer LKW und Trailer gemeinsam abholen möchten – die Ford-LKW-Fabrik liegt ohnehin nicht allzu weit vom Tirsan-Werk entfernt. In Sachen Telematik hat man sich an Idem gewandt, wo man für Tirsan ein ähnliches Konzept wie für Krone aufgesetzt hat. Die Tirsan-eigene KTL ist übrigens auf bis zu 100 Einheiten am Tag ausgelegt. ➞ Nach dem Werksbesuch bei Tirsan waren auf der größten türkischen Nutzfahrzeugmesse, der Comvex, die Ergebnisse zu sehen: Für Deutschland relevant sind die zwei- und achtachsigen Kässbohrer-Tief-lader samt eigenentwickelter Achsanbindung. Außerdem eine Iso-Version des Talson-Luftfracht-Stufensattels mit eigenen Isopaneelen, die mittlerweile eine viel bessere Qualität aufweisen, als das noch vor zwei Jahren der Fall war. Da in der Luftfracht die Zeit zählt und die großen Paletten entsprechend schnell be- und entladen werden, wurde der angeschraubte Edelstahlheckrahmen extra solide ausgeführt. Innen schützen die Wände solide, leider zweiteilige Scheuerleisten. Dank der 17,5-Zoll-Räder schafft Talson im hinteren Bereich 3,03 Meter Innenhöhe. Auf den vorderen 6,25 Metern Länge fallen die prinzipbedingt auf 2,95 Meter ab. Außerdem plant man, den sechs Tonnen schweren Leichtbausattel mit Getränkezertifikat nach Deutschland zu exportieren. Auch Standardsattel blieben mit 6,6 Tonnen eher am oberen Ende der Gewichtsskala und bieten mit starker Stahlstirnwand und 7,2 Tonnen Staplerachslast großzügige Reserven auch für schlechte Straßen. Die Marke Orthaus kommt zurück Messepremiere feierte auch die Marke Orthaus, die in Deutschland allerdings nicht mehr antreten wird. Dahinter steht eine russische Investorengruppe, die unweit der Tirsan-Fabrikation eine hochautomatisierte Fertigung mit Schweißrobotern und KTL hochzog und eine theoretische Kapazität von bis zu 15.000 Fahrzeugen im Jahr vorhält. Die Namensrechte hielt Faymonville. Die Qualität der Aussteller stimmt, der Hochlauf erfolgt vorsichtig: Seit Werkseröffnung im Oktober 2012 wurden laut dem General Manager Sales and Purchasing, Mert Karakaşlı, knapp 400 Einheiten gebaut. 2014 will man vierstellig werden. Wer bei Orthaus an Glasinnenlader denkt, liegt aber falsch: Das Programm umfasst Curtainsider und wird um Containerchassis, Kipper und Tieflader erweitert. Alles, was am Bau gebraucht wird, der in der Türkei weiter boomt. Da 2014 ADR eingeführt wird, zeigten praktisch alle Tankhersteller neue ADR-Fahrzeuge. Euro 6 kommt aber erst 2016, also blieben die LKW-Hersteller bei Euro 5. Bei Mercedes (über 50 Prozent Marktanteil) setzt man weiter auf das breit gefächerte Atego-Axor-Actros-Programm bis hinauf zum V8. Nummer zwei ist Ford (gut 20 Prozent), wo man eine Cargo-Sattelzugmaschine mit 960 Millimeter Aufsattelhöhe präsentierte: Die Türkei wandelt sich vom Fahrgestell- zum Sattelzugmaschinenmarkt. Doch Erstere machen immer noch rund 35 Prozent der Verkäufe aus. DAF (CF und XF) wird über Tirsan vertrieben und stand entsprechend in der Tirsan-Halle. Die Euro-5-Versionen wirken für den Zentraleuropäer seit diesem Jahr ähnlich angestaubt wie die Euro-5-Derivate von MAN TGS und TGX. Iveco hob den Stralis auf aktuellen optischen Stand, bleibt aber bei EEV. Renault, Volvo und Scania stellten gar nicht aus. Im leichten Segment bis 8,5 Tonnen holt Otokar jetzt den chinesischen Foton Aumark C als Atlas mit 156 PS starkem Cummins-Euro-5. In der Transit- und Sprinterklasse will Russland die Gazelle Next in Stellung bringen, ebenfalls Cummins-Euro-5-befeuert. Beide Hersteller hoffen, auch einstige Kunden des türkischen Herstellers BMC zu gewinnen, der 1964 als Tochter der Briten gegründet wurde und mittlerweile Konkurs anmelden musste: Auch in der Türkei können am rasanten Aufschwung nicht alle gleichermaßen partizipieren. ❙❚■ Gregor Soller Die Türkei wird sich hinsichtlich ihrer Gesetzesvorgaben weiterhin an der EU orientieren „Service und Telematik werden entscheidende Themen der nächsten fünf Jahre werden“ Çetin Nuhoğlu, Eigentümer und Präsident Tirsan Group

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