Ist die Party zu Ende?

Sind die Zeiten, in denen die Umsätze im E-Commerce zweistellig wuchsen, endgültig vorbei? Das zumindest lässt sich nicht ausschließen, sagt das Kölner Institut für Handelsforschung (IFH). Es hat eine Prognose zum Status des Onlinehandels im Jahr 2020 vorgelegt (siehe Kasten Seite 24). Darin hat das Institut auch ein Negativ-Szenario entworfen: Es könnte sein, dass der Onlinehandel in den kommenden fünf Jahren eine Sättigungsgrenze erreicht und die Umsätze nur noch leicht ansteigen - von heute 42 Milliarden auf 52 Milliarden Euro. Das wäre nach vielen Jahren des Hyperwachstums tatsächlich ein herber Dämpfer. Doch wie wahrscheinlich ist dieses Szenario? Und auf welche Entwicklungen müssen sich Handelslogistiker und Dienstleister bis dahin einstellen? Auf dem Boden der Tatsachen Tatsache ist, dass das Web-Wunder langsam auf den Boden der Tatsachen zurückkommt - zumindest in einigen Kategorien. So bröckelt das Wachstum bei Büchern und Modeartikeln, die jahrelang die Boom-Segmente schlechthin waren. Nur noch 74 Prozent der Verbraucher sagen, dass sie diese Produkte am liebsten online bestellen; letztes Jahr lag der Wert bei 78 Prozent. Das ergab eine Umfrage von PricewaterhouseCoopers (PwC) mit dem Titel "Total Retail". Bei Unterhaltungselektronik ging der Anteil der überzeugten Internet-Shopper von 62 auf 60 Prozent zurück. Nimmt man noch die Meldung hinzu, dass in Großbritannien im vierten Quartal der Anteil des gesamten E-Commerce am Handelsumsatz sogar leicht zurückgegangen ist, scheint sich das Bild zu verdichten: Shopping im Netz hat bald einen Sättigungspunkt erreicht. Argumente gegen Abkühlung Doch es gibt auch reichlich Argumente, die gegen eine Abkühlung des heißen Online-Marktes sprechen. Olaf Kolbrück, Redaktionsleiter beim Branchen-Informationsdienst Etailment, glaubt nicht an abknickende Kurven: "Das Wachstum bleibt weiter zweistellig", ist der Marktkenner überzeugt (siehe Interview Seite 25). Er verweist darauf, dass auf jede Kategorie, in der es nur noch gemächlich bergauf geht, eine andere kommt, die geradezu explodiert. Tatsächlich verzeichnen Lebensmittel und Drogerieartikel (Fachwort: Fast Moving Consumer Goods, FMCG) aus dem Netz plus 22 Prozent beim Umsatz, bei Schmuck und Uhren sind es 18 Prozent, Heimwerker- und Gartenartikel kommen auf 16 Prozent. Diese Zuwächse hat das IFH zwischen 2013 und 2014 festgestellt. Und selbst der Internethandel mit Möbeln kommt auf ein beachtliches Plus von 12 Prozent. Experten gehen davon aus, dass das Geschäft in diesen Nischen mittelfristig durchstartet. "Wenn der E-Commerce-Anteil in einer Kategorie einmal zehn Prozent erreicht, geht es rasant nach oben", beobachtet Benedikt Schmaus, Partner bei der Unternehmensberatung Strategy&, Teil des PwC-Netzwerks. Denn das sei der Punkt, an dem die breite Masse der Kunden wahrnimmt, dass das jeweilige Produkt online geordert werden kann - und diese Möglichkeit selbstverständlich erwartet. Es braucht einen Kick Automatisch wird der E-Commerce in den kommenden Jahren allerdings nicht wachsen. "Es braucht einen Kick", betont Berater Schmaus. Ein solcher Treiber könnte der sogenannte mobile Commerce sein, also das Einkaufen über Smartphone oder Tablet. Damit halten sich die Deutschen bislang zurück: 38 Prozent suchen zwar per Handy nach passenden Angeboten und 34 Prozent nutzen es für Preisvergleiche, ergab eine Umfrage der Unternehmensberatung PwC. Doch die Bestellung selbst gibt die große Mehrheit nach wie vor am liebsten vorm PC auf - weil der große Bildschirm übersichtlicher ist und das stationäre Gerät vermeintlich mehr Sicherheit verspricht. In anderen Ländern sind die Verbraucher mobil wesentlich aufgeschlossener, Chinesen etwa geben rund jede zweite Bestellung schon per Smartphone auf. Insgesamt zeigen die Stadtchinesen, wohin die Reise geht. Der Nachrichtendienst WeChat etwa zählt in der Volksrepublik eine halbe Milliarde Nutzer, die im Schnitt 40 Minuten am Tag auf der Plattform verbringen. Experten witzeln schon, dass Chinesen nur noch zwei Zustände kennen: online oder schlafend. Eine solche Netzaffinität sorgt natürlich für reges Einkaufsverhalten. "Dieses Verhalten wird sich auch bei uns verbreiten", ist Schmaus überzeugt. Vor allem an einer Frage entscheidet sich, wie es mit dem E-Commerce in den kommenden fünf Jahren weiter geht: Werden die Menschen Lebensmittel im Netz bestellen? "Das ist die große Unbekannte", meint auch Kai Hudetz, Geschäftsführer des IFH Köln. Wie ausschlaggebend diese Kategorie sein kann, lässt sich leicht nachrechnen: Lebensmittel dominieren mit einem Umsatzanteil von fast 50 Prozent den deutschen Handel, allerdings entfällt nur ein mageres Prozent der Umsätze auf den Online-Kanal. "Stiege der Anteil auf nur zwei Prozent, wäre das schon ein Riesenhebel", so Hudetz. Auf diesem Markt könne insbesondere Amazon Fresh für eine Art Initialzündung sorgen. Onlinehandel schließt Versorgungslücke Zu den wenigen Entwicklungen, die sich gut prognostizieren lassen, gehört die Demografie. Hier zeichnen sich mehrere Faktoren ab, von denen der E-Commerce profitieren wird: Zum einen erobert die netzaffine Generation Y (nach 1984 geboren) derzeit die Arbeitswelt, macht Karriere und kann folglich höhere Summen online ausgeben. Zum anderen altert die Gesellschaft und immer mehr Menschen wollen oder können das Haus zum Einkaufen nicht mehr verlassen. "Wichtig ist auch der Trend zur Urbanisierung", fügt Hudetz hinzu. Viele ländliche Gemeinden sterben wortwörtlich aus, weil junge Leute wegziehen - und der stationäre Handel mit. Die so entstehende Versorgungslücke schließt künftig der Distanzhandel. "Die ehemaligen neuen Länder, insgesamt der Norden oder Gebiete wie die Eifel - das sind Wachstumsmärkte für den E-Commerce", fasst Hudetz zusammen. Wer in der Zukunft das Geschäft macht Die Frage ist: Welcher Anbieter macht das Geschäft mit den Internetkunden in Zukunft? Ist es Amazon oder sind es die klassischen Händler mit angeschlossenem Onlineshop? Die meisten Experten setzen auf Amazon. "Es stimmt schon, dass der Handel oft nur nachzieht", sagt Berater Schmaus. Der Grund ist simpel: Viele etablierte Anbieter sind mit alten IT-Systemen und Abläufen belastet, die den Vertrieb über neue digitale Kanäle ausbremsen. Eine taggleiche Zustellung (Same Day Delivery) zum Beispiel können bestehende ERP-Systeme oft nicht abbilden und ihr Auszutausch kann fünf Jahre dauern. In der Zwischenzeit ziehen reine Internetanbieter, die noch in der Aufbauphase sind und ohne IT-Ballast starten, locker vorbei. Alles das zeigt: Die Boomzeiten beim elektronischen Handel sind wohl noch nicht vorbei. "Alle Wachstumskurven im E-Commerce verlaufen in der Form eines 'S'", sagt Berater Schmaus von Strategy& und lacht: "Die entscheidende Frage ist dabei, an welchem Punkt der Kurve man sich befindet." Welches Szenario ist aber am wahrscheinlichsten? "Die Wahrheit liegt wohl in der Mitte", meint IFH-Geschäftsführer Hudetz. Das würde bedeuten: Der E-Commerce legt bis zum Jahr 2020 wieder jährlich um fast zehn Prozent zu und erreicht einen Gesamtanteil von fast 15 Prozent an den gesamten Handelsumsätzen (heute: rund 10 Prozent). "Es sei denn, es kommt wieder ein Kracher", schränkt Hudetz ein. Dann ginge es noch steiler bergauf. Und genau diese "Kracher" sind in der wilden Internetwelt schlichtweg unvorhersehbar. Oder wer hätte zum Beispiel im Jahr 2008, vor dem Marktstart des iPhone, geglaubt, dass Menschen künftig ihre Einkäufe per Handy erledigen? Mehr dazu im Dossier E-Commerce www.verkehrsrundschau.de/dossiers Aus der Praxis Adler Modemärkte: Bestellungen vom Tablet aus verdoppelt Die Adler Modemärkte sind spät in die digitale Welt gestartet: Erst Anfang 2011 ging der erste Shop des Traditionsunternehmens online. Doch der Zeitpunkt war gut gewählt. Denn kurz darauf entdeckte auch die reife Zielgruppe das Online-Shopping für sich und die Bestellzahlen schnellten hoch. "Ein weiterer Faktor war die Markteinführung der Tablets; der Anteil der Bestellungen von solchen mobilen Geräten aus hat sich in den letzten zwei Jahren verdoppelt", berichtet Ralf Reckmann, E-Commerce-Chef von Adler. Mittlerweile macht das Unternehmen acht Millionen Euro Umsatz mit Internetbestellungen und ein Ende des Wachstums ist nicht in Sicht. "Wir rechnen auch in den kommenden zwei bis vier Jahren mit zweistelligen Zuwächsen", so Reckmann.Der große Vorteil von Adler gegenüber reinen Netzanbietern sind die Filialen. Kunden können dort Teile aus dem Online-Sortiment zurücklegen lassen oder Retouren abgeben. Solche Multikanal-Angebote sollen in den kommenden Jahren erweitert werden. Als Nächstes planen die Bayern einen Same-Day-Delivery-Service: Kunden können im Internet sehen, welche Teile in einer nahen Filiale auf Lager liegen und sich diese am selben Tag nach Hause schicken lassen. Außerdem will man das Angebot genauer auf einzelne Zielgruppen zuschneiden. Im Online-Shop wird künftig zum Beispiel die eigene virtuelle Abteilung für große Größen ausgebaut. Und nicht zuletzt steht bei Adler weitere Internationalisierung auf der Agenda. "Kein Geschäft lässt sich so schnell in andere Länder bringen wie ein Online-Shop", erklärt Reckmann. cg Die Szenarien zur Zukunft des Onlinehandels Szenario 1: Der Boom geht erst richtig los Dank innovativer Lieferkonzepte (zum Beispiel Zeitfensterzustellung, flexibles Umrouten, Lieferung in den Kofferraum) entdecken immer mehr Verbraucher den Onlinehandel für sich, vor allem ältere Menschen. Gleichzeitig hebt das mobile Shopping ab, also der Einkauf mit dem Smartphone. Das Ergebnis: Die Online-Umsätze wachsen bis zum Jahr 2020 mit satten 18,7 Prozent pro Jahr und verdreifachen sich auf insgesamt 117,72 Milliarden Euro (Brutto). Der E-Commerce erreicht einen Anteil von 23,8 Prozent am Einzelhandel.Szenario 2: Alles bleibt gleich Dank der demografischen Entwicklung (mehr ältere Menschen) gewinnen Webshops zusätzliche Käuferschichten. Online-Shopping wird zur Selbstverständlichkeit. Stationäre Händler holen sich mit Cross-Channel-Angeboten jedoch einen Teil der Online-Bestellungen wieder zurück. Und: Die große Durchbruch-Innovation im E-Commerce bleibt aus. Ergebnis: Der Onlinehandel kann, wie bisher, mit einem Umsatzplus von fast zehn Prozent pro Jahr rechnen. In der Summe verdoppeln sich die Umsätze bis 2020 auf 73,28 Milliarden Euro (Brutto). Der E-Commerce erreicht einen Anteil von 14,8 Prozent am Einzelhandel.Szenario 3: E-Commerce erreicht die Sättigungsgrenze Bei den klassischen Online-Bestsellern Mode, Medien, Unterhaltungselektronik tut sich nicht mehr viel. Gleichzeitig scheitern Versuche mit dem Onlineverkauf von Möbeln und Lebensmitteln. Neue Kundengruppen können nicht erschlossen werden. Ergebnis ist: Die Umsätze der Onlinehändler legen nicht mehr zweistellig zu, sondern nur noch um 3,7 Prozent pro Jahr. 2020 liegen sie in der Summe bei 52,08 Milliarden Euro (Brutto). Der E-Commerce kann seinen Gesamtanteil in der Folge nur leicht nur auf moderate 10,5 Prozent ausbauen (2014: 9,1 Prozent). cgGrafik/Quelle: Institut für Handelsforschung, bearbeitet von Constantin Gillies

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