Interview: Wie gelingt Unternehmensführung in Zeiten großer Verunsicherung?

In den USA gibt es eine Entwicklung, die Psychologen sehr beschäftigt. Dort sind in den letzten Jahren rund sechs Millionen Menschen, vorwiegend Männer über 50 Jahre alt und aus Küstenstädten der Ostküste, regelrecht verschwunden. Die sind im Steuerregister einfach nicht mehr auffindbar. Das sind quasi moderne Aussteiger. Haben Sie davon schon gehört? Claudia Drews: Ja, diese Entwicklung gibt es - der Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben nimmt zu, vor allem bei jüngeren Menschen. Das merken wir auch in deutschen Unternehmen. Unter anderem wollen sie den Druck nicht mehr ertragen, weil die finanzielle Vergütung im Vergleich zu den Lebenserhaltungskosten nicht mehr im Verhältnis steht, aber auch weil für sie die eigene Gesundheit wichtiger wird. Als Verhaltenspsychologe coachen Sie und Claudia Drews ja Manager und Top-Entscheider. Wie sehen Sie das, Herr Corssen? Jens Corssen: Bei den Top-Entscheidern sehe ich das noch nicht. Im mittleren Management sehe ich das dagegen schon, auch weil die Menschen da weniger Macht und Entscheidungsbefugnis haben, das macht Menschen einfach weniger Spaß. Die typischen Aussteiger sind aktuell in den mittleren Etagen, die von jeder Ebene Druck bekommen - von unten und von oben. Und die hören dann irgendwann auf. In Summe zahlt das alles auf den Druck der "VUCA"-Welt ein. VUCA steht ja für eine unsichere Welt, in der wir Entscheidungen fällen müssen bei hohen Komplexitäten, vielen Veränderungen und mehrdeutigen Situationen - ohne genauen Fahrplan und Erfahrungswerten aus der Vergangenheit. Drews: Das Denken, Verhalten und Zusammenarbeiten der Menschen in Unternehmen ist ja auch an das Denken der verschiedenen Generationen gekoppelt. Bislang gab es da die "Babyboomer", die Generationen X, Y oder auch Z. Mittlerweile sprechen wir in der Organisationsentwicklung von einem neuen Typus - der "Schneeflocke", der die Generation der 15- bis 25-Jährigen beschreibt. Das sind die Mitarbeiter, die den Druck im Arbeitsleben, den ihre Eltern in den 80erund 90er-Jahren erlebt haben, nicht mehr mitmachen wollen. Durch die Digitalisierung nimmt der Druck immer weiter zu. Und Mitarbeiter der Generation "Schneeflocke" steigen dann einfach aus, wenn ihnen der Druck zu viel wird oder die Arbeit keinen Spaß mehr macht. Zum Beispiel, weil ihnen die Leidenschaft, die Vision oder auch das Verständnis des Arbeitgebers für ihre Belange fehlt - Stichwort "Flexibilität". Solche Leute sind dann einfach weg. Wie eine Schneeflocke. Eiskalt und ohne Tschüss zu sagen. Zugegeben, der Druck steigt. Erst die Pandemie, dann der Krieg und jetzt die Rezession. Aber alles das gab es früher auch schon. Warum aber ertragen wir das aktuell so schwer? Corssen: Es liegt wohl daran, dass wir heute zu verwöhnt sind, das heißt, unser Gehirn musste nicht wirklich in den Überlebensmodus schalten. In den letzten Jahren gab es außer der Digitalisierung und sozio-ökonomischen Veränderungen keine wirklich lebensbedrohliche Situation für die gesamte Bevölkerung. Das hat in unserem Gehirn zur Annahme geführt, alles halbwegs unter Kontrolle zu haben. Und jetzt passiert recht viel und vor allem auf einmal, was uns unmittelbar bedroht: erst unsere Gesundheit durch die Pandemie, die zunehmende mediale Präsenz der Klimabedrohung und jetzt noch Putins Krieg mit seinen für uns spürbaren Konsequenzen. Drews: Man darf nicht vergessen: Die VUCA-Welt in Unternehmen ist bereits seit zehn Jahren stark aktiv. Um agiler und flexibler auf die Anforderungen der Märkte, des Wettbewerbers und neue Mitarbeiterwünsche reagieren zu können, bauen sie schon länger zum Beispiel ihre Hierarchien ab, führen agile Arbeitsmethoden ein, beschäftigen sich mit "New Work" und den Bedürfnissen von unterschiedlichen Generationen, setzen sich mit künstlicher Intelligenz und Big Data auseinander oder treiben den digitalen Wandel voran. Allein diese Veränderungen sind eine hohe Belastung für die Mitarbeiter. Der "kürzlich" dazugekommene Putin-Krieg, die Inflation und Pandemie lassen den Druck einfach noch größer werden. Sie sind ja studierter Psychologe und Verhaltenstherapeut: Was läuft da in unserem Gehirn konkret ab? Corssen: In erster Linie sind das Ohnmachts-Gefühle. Unser Gehirn ist auf das Überleben programmiert, auf Macht und auf Sicherheit. Die VUCA-Welt, in der wir heute leben, ist aber das genaue Gegenteil. Da treffen Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit aufeinander. Das gleicht einer Transformation wie von der Agrar- in die Industrie-Gesellschaft. Und das belastet uns, weil nun unsere Werte, unsere Traditionen und vielleicht sogar unsere bisherigen Bewältigungsstrategien wegbrechen. Das erzeugt Ohnmacht und führt zu irrationalen Aktionen. Darunter auch, dass manche aussteigen und ihren Job hinwerfen oder auf der Suche nach Sicherheit die Parameter in ihrem Leben ändern - in alle Richtungen. Wie kommt man aus dieser Ohnmachts-Falle raus? Corssen: "Sich geborgen fühlen in der Ungewissheit", wie es Pablo Picasso, der spanische Maler, einst formulierte - ist die angesagte Haltung, die es für unsere VUCA-Welt benötigt. Nun, ich selbst neige dazu, "alles unter Kontrolle" haben zu wollen, was auch zu übertriebener Planung führt. Irgendwann aber habe ich das bewusst reduziert, weil ich gemerkt habe, dass mich das in meiner Entwicklung und Kreativität hindert. Angst treibt den Menschen in Sicherheitsmechanismen, welche kontraproduktiv für die "Neue Welt" sind, die eine flexible und offene Haltung für unbekannte Situationen benötigt. Und wie machen Sie das - haben Sie dafür ein Beispiel aus Ihrem Alltag? Corssen: Ich habe aufgehört, mich auf alles akribisch vorzubereiten und habe dadurch wirklich neue unangenehme Situationen erlebt (lacht). Diese habe ich gemäß meiner Selbstentwickler-Philosophie als mein "Lebenselixier" umgedeutet. Die Ungewissheit ist quasi mein Jungbrunnen. Kurzum: Ich sehe die mich herausfordernden Situationen nicht als "gemein", sondern als meinen Coach, als Lerneinheiten an. Das geht so weit, dass ich mich darüber freue, wenn der Zug Verspätung hat. Trainingseinheit! Natürlich ist meine erste Reaktion Unmut. Meine zweite Reaktion ist eine aufrechte Körperhaltung anzunehmen und mir zu denken: "Toll. Das hält mich wach. So komme ich aus einer Opferhaltung in die Macher-Rolle." Der bedeutendste Schlüssel, um aus der Ohnmacht in die Eigenmacht zu kommen, ist nicht mehr zu klagen. Also kein Jammern mehr über das Leben, die anderen und über mich. So erspare ich meinem Gehirn die tägliche Überdosis an Stresshormonen und biete ihm so Raum für kreative Lösungen. Das müssen Sie uns erklären. Corssen: Wie oft höre ich unsere Klienten klagen: "Ich werde von meinem Arbeitgeber ausgebeutet", "jeden Tag muss ich in diesen Sauladen", "alles ist sinnlos." Durch dieses Beklagen rutscht man sozusagen in die Kinder-Rolle und erwartet von den Eltern, von allem Übel erlöst zu werden, versorgt und bespaßt zu werden. Dann war alles gut. Das Klagen hat also mit unserer frühkindlichen Ohnmacht-Situation zu tun. Dann werden wir wütend, klagen oder tun noch schlimmere Dinge. Der erste Schritt, um da rauszukommen, ist also: Haltung annehmen und bewusst zu sagen: "Ich bin dafür", statt zu klagen. Aber wir können doch nicht alles gutheißen, was im Moment passiert. Corssen: Ich bin dafür, bedeutet nur, dass ich das gesamte Leben bejahe. Und alles ist eben im Leben. Und dann kann ich denken: "Ja, es gehört dazu." Denn wenn wir das nicht tun und stattdessen etwa über dumme Kunden oder schlimmen Kollegen klagen, rutschen wir automatisch in die Ohnmachts-Falle. Aus der wollen Sie raus! Das Klagen macht ja auch etwas mit unserem Gehirn. Inwiefern? Corssen: Solange man klagt, erhält unser Gehirn die Impulse "Aufpassen", "Laufen" oder "Raufen" und bleibt dadurch im ständigen Überlebensmodus. Auf den Punkt gebracht - der erste Schritt, um da rauszukommen, ist: eine aufrechte Haltung annehmen und sich entscheiden: "Das gehört dazu, das ist das Leben." Damit erspare ich mir die Energie, die ich durch den Widerstand verbrauche. Der zweite Schritt ist dann - welche Optionen habe ich, um diese ungünstige Situation zu verändern? Klagen ist außerdem Anklagen: "der dumme Kunde", "der schlimme Kollege" - die uns mit ihrem Verhalten verletzen. Letztendlich ist unsere Haltung verantwortlich für diese aufgebrachten Äußerungen ... Wie genau? Corssen: Wie gesagt, Klagen ist auch Anklagen: "der dumme Kunde", "der schlimme Kollege" - die uns mit ihrem Verhalten verletzen. Im Grunde meinen wir damit nur: "Ich habe mir das anders vorgestellt und ich bin enttäuscht." Wir erwarten vom Leben, dass es uns hilft wie damals in unserer Kinderwelt, anstatt eigenständig Lösungen zu entwickeln. Wir wollen, dass der "Böse" wieder nett zu uns wird. Denn wenn wir das, was uns unangenehm ist, automatisch negativ beurteilen, verstimmen wir uns dadurch dauerhaft. Drews: Und eine gelassene und lebensbejahende Haltung ist ja gerade heute besonders gefragt. So wissen wir aus der Beobachtung von nachlassenden Leistungen, dass auf Mitarbeiter vor allem zwei Menschen großen Einfluss haben. Das ist zum einen der eigene Lebenspartner, der uns bedingungslos lieben soll - ein Wunsch, den wir alle haben. Und die zweite Person ist der disziplinarische Vorgesetzte, der unsere Leistung bewertet und so Macht über unsere Sehnsucht nach Anerkennung hat. Stichwort psychologische Sicherheit im Unternehmen: Mitarbeiter wollen zu jeder Zeit offen sprechen und Kritik äußern können und für ihre Leistung wertgeschätzt werden. Daher ist es wichtig, dass ein Vorgesetzter oder auch Kollege gelassen und positiv gestimmt ist. Schlechte Laune oder ewig kritische Haltung bezieht man leicht auf sich und denkt, man sei fehl am Platz. Das verunsichert, führt kein bisschen zu mehr Leistung und noch schlimmer - es überträgt sich auf das ganze Team und auf das Unternehmen. Aber man kann ja nicht immer gelassen und positiv gestimmt sein. Corssen: Gerade in der VUCA-Welt, wo so Vieles nicht mehr so läuft, wie man es möchte und viel Unerwartetes passiert, ist es notwendig, sich das Scheitern zu verzeihen und immer wieder aus den Fehlern zu lernen und sein Bestes zu geben. Drews: Wichtig ist auch, sich jetzt nicht mehr ausschließlich auf den eigenen Vorgesetzten zu verlassen, "milde" mit den nicht immer einfachen Entwicklungen einer Organisation zu sein. Zudem heißt es jetzt für viele, selbst in die Selbst-Führung zu gehen und Orientierung für andere zu geben. Wir sprechen da von "charismatischer" Führung, die verunsicherten, ängstlichen Menschen Mut macht. Ein Chef oder guter Kollege braucht heute nicht nur fachliche, sondern auch soziale Kompetenz. Es geht also darum, sich vorzunehmen ein Vorbild zu sein für Wertschätzung und Zuversicht. Es ist auch in Ordnung zuzugeben, dass man in anleitenden Positionen auch nicht immer genau weiß, wie es weitergeht. Wie schafft man das gegen die alte Überzeugung, alles selbst lösen zu können? Corssen: Das bringen Claudia und ich ja den Menschen bei (lacht). Es geht vor allem darum, wie man mit den alltäglichen herausfordernden Situationen des Lebens umgeht. Es gilt, übernommene Glaubenssätze von Eltern und Autoritätspersonen nicht ungeprüft zu übernehmen. Das geht über eine bewusst positive Haltung dem "Stirb und Werde - dem ewigen Kommen und Gehen" hinaus, sprich: Das notwendige Loslassen ist heute eine unabdingbare Tugend. In meiner Philosophie und Praxis des Selbstentwicklers geht es darum, sich zu entscheiden, am Leben nicht zu verzagen, sondern zu wachsen. Denn solange ich mich nicht bewusst dazu entschlossen habe, das Leben als Ganztags-Schule anzusehen, fühle ich mich durch unangenehme Situationen bedroht und ihnen ausgeliefert. Das klingt alles einfach. Trotzdem funktioniert das oft nicht. Was läuft da falsch - auch in den Unternehmen? Corssen: Die Menschen übernehmen leider nicht die hundertprozentige Verantwortung für ihre Gestimmtheit und sind sich dessen nicht bewusst und werden so zum Opfer. Es ist die stete Wiederholung gewonnener Einsichten, die das Verhalten verändert. Und dazu hilft auch ein "Selbstentwickler-Heft", in dem man jeden Abend reinschreibt, ob man die neue Haltung, die man sich vorgenommen hat, am Tag auch gelebt hat - und ob es noch Luft nach oben gibt. Ich coache zum Beispiel aktuell eine Top-Führungskraft nur auf die Haltung "Freundlichkeit". Ihm war es wirklich nicht bewusst, wie er auf seine Mitarbeiter und Kunden wirkte. Drews: Gut, dass er Jens nun als Coach hat (lacht). Aber Spaß beiseite. Auch die Mitarbeiter, gerade die auf den unteren Etagen, tun sich mit dem Druck in der aktuellen VUCA-Welt ja ebenfalls schwer. Das geht soweit, dass Mitarbeiter sogar genervt oder neidisch sind, wenn ihr gecoachter Chef trotz allem gut drauf ist, sie selbst aber stark verunsichert sind und sein Verhalten nicht nachvollziehen können. Mit dem typischen Reflex: "Die da oben, und wir da unten". Was letztlich den Schneeflocken-Effekt fördert - sprich: Der Druck steigt, die Arbeit macht keinen Spaß mehr, und der Mitarbeiter ist weg. Stattdessen sollte jeder einzelne - sowohl der Vorgesetzte als auch der Mitarbeiter - verstehen, was die Transformation wirklich bedeutet, zu welchen Veränderungen in den Unternehmensprozessen und der Organisation diese führen kann. Dann haben beide Seiten Verständnis füreinander - vielleicht sogar bei unangenehmen Entscheidungen. Und damit das gelingt, meinen Jens Corssen und ich, braucht es die Entscheidung, sich als Persönlichkeit weiterzuentwickeln - und zwar auf allen Hierarchie-Ebenen. Deshalb haben wir uns als Spezialisten zusammengetan: Jens, aus der Verhaltenspsychologie kommend, und ich aus der Management- und der Organisationsentwicklung. Solche Zeiten der Transformation, so wie wir sie derzeit erleben, durchsteht man nur gemeinsam. Corssen: Vielleich gelingt es uns ja so, das wäre unser Wunsch, die Versöhnung der Mitarbeiter und ihrer Chefs zu unterstützen - da wo sie noch fehlt. Vita Jens Corssen (rechts) ist in Berlin geboren. Als Spezialist für Persönlichkeitsentwicklung und mentale Stabilität berät der Diplom-Psychologe Führungskräfte aus der Wirtschaft und coacht auch Spitzensportler. Vielen gilt er als einer der renommiertesten "Manager-Gurus" in Deutschland. Sein Buch "Der Selbstentwickler" ist ein Bestseller geworden. Gemeinsam mit Management-Beraterin Claudia Drews (links) bietet Corssen in ihrer Academy eine VUCA-Ausbildung an. Nähere Informationen unter www.corssendrews.academy. Drews ist promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin. Seit 2016 ist sie Partnerin und Gesellschafterin der Künzel, Drews & Partner Managementberatung. Zuvor hatte sie Führungspositionen bei der MBtech Group (Daimler AG) inne. eh