Farewell Europäische Union

Für den Londoner Bürgermeister Boris Johnson ist die Sache klar: ein Austritt Großbritanniens aus der EU würde den Briten sicherere Lkw bescheren: Maße, Gewichte und Design von Nutzfahrzeugen, sagt der starke Mann der Tories und inoffizielle Anführer der Befürworter eines EU-Austritts, würden von der EU festgelegt: "Wir können keine Fahrerkabinen vorschreiben, die zahlreichen Radfahrern das Leben retten würden." Was Johnson verschweigt: Auch die von den Tories geführte Regierung in Westminster hat zugestimmt, dass die übersichtlicheren Kabinen erst in zehn Jahren umgesetzt werden müssen. Die britischen Euroskeptiker hoffen, dass sie nach einem EU-Austritt nicht mehr an die zahlreichen Vorschriften gebunden sind, die sich die Eurokraten in Brüssel ausdenken. Aber das ist so unsicher wie fast alles, was mit dem sogenannten "Brexit" verbunden ist, über den die Briten am 23. Juni entscheiden. Welche Folgen der Brexit für die Wirtschaft diesseits und jenseits des Ärmelkanals im Allgemeinen und für den Güterverkehr im Besonderen haben würde, lässt sich gegenwärtig nur erahnen. Ob Handel und Logistikketten im Großen und Ganzen erhalten werden oder vollkommen neu aufgestellt werden müssen, hängt davon ab, welche Folgevereinbarungen die Briten mit den anderen Europäern treffen. Auf dem Kontinent ist die Neigung gering, ihnen entgegenzukommen. Die Regierung in Paris hat schon deutlich gemacht, dass sie die Briten nach einem Brexit auf Abstand halten will. In Berlin, Skandinavien und Osteuropa wäre man eher bereit, dem Vereinigten Königreich Sonderkonditionen auf dem europäischen Binnenmarkt einzuräumen. Aber klar ist: London hätte nach einem Austrittbeschluss keine starke Verhandlungsposition. Ein Austritt, sagt die Chefin des britischen Industrieverbandes CBI, Carolyn Fairbairn, hätte weitreichende Folgen für die gesamte europäische Wertschöpfungskette, zu der auch die britischen Unternehmen gehörten, "egal, ob unsere Firmen Autoteile auf dem Kontinent verkaufen oder andere von dort beliefert werden". Der CBI hat die bislang detaillierteste Untersuchung über die Folgen eines Brexit bei der Beraterfirma PricewaterhouseCooper, PwC, bestellt. Dort erwartet man in jedem Fall eine zumindest vorübergehende Vertrauenskrise, die zu einer Abwertung des Pfundes und zu höheren Kreditkosten führen würde. Das wiederum wäre ein Investitionshindernis, bis sich die Briten und der Rest der EU auf einen neuen Modus Vivendi verständigt hätten. Bis 2020 erwarten die Experten von PwC einen Rückgang der britischen Investitionen um 17 bis 27 Prozent. Sie haben zwei Szenarien untersucht, zwischen denen sich das britisch-kontinentale Verhältnis nach einem Brexit einpendeln dürfte: das Freihandels-(FTA) und das WTO-Szenario (WTO). Freihandel mit Kontinentaleuropa Im ersten Fall würden sich London und Brüssel auf ein Freihandelsabkommen verständigen, das 2019 oder 2020 in Kraft treten könnte. Das würde den Briten weiter erlauben, ihre Waren zollfrei auf dem Kontinent zu verkaufen (und umgekehrt), sie müssten dabei allerdings die Standards der EU weiter einhalten. Freihandelsabkommen der EU mit Drittstaaten blieben auch für Großbritannien gültig. Das Königreich hätte aber keinen Anspruch mehr auf Teilnahme am freien Kapital- und Dienstleistungsverkehr oder auf die Freizügigkeit seiner Arbeitnehmer im Binnenmarkt. Die Briten würden so die Kontrolle über ihren Arbeitsmarkt weitgehend wiedererlangen. Viele EU-Vorschriften blieben zunächst in Kraft, auf die Dauer würden jedoch zusätzliche Handelshindernisse entstehen. Das würde Exporte der EU nach Großbritannien im Durchschnitt um 0,7 Prozent teurer machen, britische Exporte in die EU um 0,5 Prozent. Im zweiten Fall könnten sich Brüssel und London nicht auf eine privilegierte Partnerschaft verständigen und der Handel zwischen den beiden Wirtschaftsräumen würde nach den Regeln der Welthandelsorganisation WTO abgewickelt. Die britischen Exporteure müssten dann Zoll an den EU-Grenzen bezahlen. Das Parlament in London könnte den britischen Markt dann unabhängig von Brüssel regulieren. Die Unternehmen auf der Insel könnten dadurch in geringem Umfang Kosten sparen, mittelfristig würden aber zusätzliche Hindernisse für den Waren- und vor allem für den Dienstleistungsverkehr entstehen. Britische Exporte in die EU würden dadurch im Mittel 1,4 Prozent teurer, umgekehrt wären es 1,8 Prozent. Hinzu kämen im Warenverkehr Zölle von etwa 5 Prozent. Handel mit Drittstaaten betroffen Freihandelsabkommen der EU mit Drittstaaten, die bislang auch für Großbritannien gelten, müssten von den Briten neu ausgehandelt werden, was mehrere Jahre dauern könnte. Unberücksichtigt bleiben im WTO-Szenario von PwC zwei neue Kostenfaktoren in der Nach-Brexit-Welt: Erstens Wartezeiten und mehr Bürokratie für die Abfertigung an der neuen britisch-europäischen Zollgrenze und zweitens weniger Kostendegression durch einen kleineren europäischen Markt, was Importe auch aus Drittländern vor allem für die Briten selbst, aber in geringerem Umfang auch für die Kontinentaleuropäer teurer macht. Die Folgen für die britische Wirtschaft wären in beiden Szenarien deutlich spürbar. Die entstehende Unsicherheit würde im FTA-Szenario zu einem Wachstumsverlust von 2 Prozent und im WTO-Szenario von 2,6 Prozent führen. 2030 würde das britische Sozialprodukt zwischen 1,2 (FTA) und 3,5 (WTO) Prozent niedriger ausfallen als bei einem Verbleib des Königreichs in der EU. Transportmarkt könnte schrumpfen Der Handel zwischen Großbritannien und der EU würde entsprechend niedriger ausfallen: Im FTA-Szenario wären es 0,5 Prozent pro Jahr, im WTO-Fall würde der Handel mittelfristig immer stärker leiden und 2030 um 2,1 Prozent geringer ausfallen. In absoluten Zahlen bedeutet das: Im FTA-Szenario würden weniger Waren im Wert von gut zwei Milliarden über den Ärmelkanal transportiert, im WTO-Szenario wären es fast zehn Milliarden. Der Transportmarkt zwischen dem Königreich und dem Kontinent würde im ersten Fall also nur geringfügig, im zweiten aber spürbar schrumpfen. Dabei ist nicht berücksichtigt, dass Großbritannien ohne Zugang zum europäischen Binnenmarkt nicht mehr so attraktiv für Investitionen aus Drittstaaten ist. Auf die Dauer könnten Investoren aus den USA oder Asien Fabriken für die Belieferung Europas öfter direkt auf dem Kontinent errichten. Das würde zu einer Verlagerung der Warenströme führen. Im Straßenverkehr über den Ärmelkanal würde das vor allem die Transportfirmen vom europäischen Kontinent treffen. Die Transportleistungen zwischen Großbritannien und dem Rest der EU hatten nach Schätzungen des britischen Branchenverbandes FTA im vergangenen Jahr einen Wert von 500 Millionen Euro. "15 Prozent dieser Transporte werden von Unternehmen des Vereinigten Königreiches durchgeführt", sagt FTA-Sprecher Chris Warsley, "und 85 Prozent von Firmen vom Kontinent." Die Betreiber des Kanaltunnels machen sich allerdings keine Sorgen. Selbst wenn die Briten aus der EU ausscheiden, werde das auf den Verkehr zwischen der Insel und dem Kontinent "nur eine begrenzte Auswirkung" haben, meint der Sprecher von Eurotunnel, John Keefe. Er erwartet nur eine "leichte Anpassung der Logistik-Ketten", danach werde auch der Güterverkehr durch den Kanaltunnel "wieder wachsen". Kabotage: wenig zu verlieren Vergleichsweise übersichtlich wären die Auswirkungen auf die Kabotage. Von der Möglichkeit, Transportleistungen auf dem Kontinent zu erbringen, machten die britischen Transportfirmen bislang kaum Gebrauch, sagt Warsley. Umgekehrt ließen sich auch nur wenige Lkw vom Kontinent auf den britischen Straßen blicken. Beide Seiten haben also wenig zu verlieren, wenn sie nach einem Ausscheiden der Briten aus der EU im jeweils anderen Gebiet keine Kabotage mehr durchführen dürften. Allerdings könnte es den britischen Transportfirmen in Zukunft schwerer fallen, Fahrer aus Osteuropa zu rekrutieren. Sie haben bislang einen Teil des Nachwuchsproblems gelöst. Mehr zum Thema finden Sie im Dossier Großbritannien www.verkehrsrundschau.de/dossiers Die Serie Brexit und die FolgenWas wäre, wenn Großbritannien aus der EU austritt?Was für Großbritannien als Nicht-EU-Land gilt (VR 17)Was der Brexit für das Logistikgewerbe bedeutet (VR 20)Das ändert sich in der Unternehmenspraxis (VR 23)

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