Erster Deal des Tarifsommers

Um 2.30 Uhr morgens, nach 16 Stunden Verhandlungsmarathon, stand vergangenen Donnerstagmorgen das Ergebnis fest: Die Gewerkschaft Verdi und der Arbeitgeberverband Spedition und Logistik Baden-Württemberg (AVSL) verständigen sich auf einen neuen Entgelttarifvertrag Spedition und Logistik Nordbaden-Württemberg. Demnach werden sich die Tarifentgelte für Beschäftigte in tarifgebundenen Transport-, Speditions- und Logistikbetrieben rückwirkend zum 1. April 2016 um plus 2,0 Prozent und zum 1. April 2017 um weitere 2,0 Prozent erhöhen. Die Ausbildungsvergütung für Azubis steigt zum 1. September 2016 um 25 Euro und ab 1. September 2017 um weitere 25 Euro. Der Entgelttarifvertrag gilt für zwei Jahre bis 31. März 2018. Schmerzvoller Kompromiss "Wir sind mit dem Ergebnis zufrieden. Wir liegen damit in Bezug auf die tabellenwirksame Erhöhung der Tarifentgelte deutlich unter den Tarifabschlüssen, die jüngst in der Speditionsbranche mit Verdi verhandelt worden sind", sagt Stefan Brötz, Geschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Spedition und Logistik Baden-Württemberg (AVSL) und Verhandlungsführer der Tarifkommission. "Der Abschluss hat beiden Seiten viel abverlangt", resümiert Arnold Püschel, Verdi-Landesbezirksfachbereichsleiter für Postdienste, Speditionen und Logistik, Baden-Württemberg (siehe Interview Seite 17). Es sei "ein Kompromiss, bei dem beide Seiten an ihre Schmerzgrenze gegangen sind." Als Erfolg bezeichnet er, dass beim Betriebszugehörigkeitszuschlag nun die Gerechtigkeitslücke zwischen den gewerblichen und kaufmännischen Speditionen mit dem jetzt vorliegenden Tarifabschluss ein weiteres Stück geschlossen wurde. So hatten bislang gewerbliche Mitarbeiter nach dem Tarifvertrag in den Speditionsbetrieben nach drei Jahren 40 Euro und nach sechs Jahren 80 Euro Betriebszugehörigkeitszuschlag erhalten, während kaufmännische Mitarbeiter nach drei Jahren 200 Euro und nach sechs Jahren weitere 200 Euro erhielten. Mit dem neuen Tarifabschluss erhalten gewerbliche Mitarbeiter nun 55 Euro nach drei Jahren Betriebszugehörigkeit sowie 110 Euro mehr nach sechs Jahren. "Dass sich beide Seiten so zügig auf einen Tarifvertrag verständigen konnten, ist eine tolle Sache", freut sich Thomas Kersten, Vertriebs- und Marketingchef der Spedition Wolf in Sinsheim. Für ihn war diese schnelle Einigung "völlig überraschend". Er spricht aus, was viele Branchenkollegen denken: "Jeder atmet nun in Baden-Württemberg auf. Man könnte es auch als Durchschnaufen bezeichnen." Denn bis zur dritten Verhandlungsrunde waren die Fronten zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaft sehr verhärtet. Gewerbe hatte keinen Spielraum Nur zur Erinnerung: Seit Mitte März hatten AVSL und Verdi über den neuen Tarifvertrag verhandelt. Beide Verhandlungsrunden waren sehr schnell geplatzt. Zu unterschiedlich waren die Forderungen auf beiden Seiten. "Die Entgelte müssen um fünf Prozent auf ein Jahr steigen und die Ausbildungsvergütung um 50 Euro pro Monat erhöht werden. Außerdem soll eine Vorteilsregelung für Verdi-Mitglieder verhandelt werden", hatte Verdi unter anderem gefordert und argumentiert: "Der Branche geht es wirtschaftlich gut. Dazu haben vor allem die Beschäftigten mit guter und harter Arbeit beigetragen. Diese erwarten mit Recht eine faire und angemessene Lohnerhöhung". Auf der anderen Seite: "Angesichts der niedrigen Inflationsrate in 2014 (0,3 Prozent) und 2015 (0,9 Prozent) sind 1,7 Prozent mehr im ersten Jahr und 2,0 Prozent im zweiten Jahr realistisch", hatten die Arbeitgeber argumentiert. "Und mit diesem Angebot ist die Speditionsbranche sehr, sehr weit gegangen", betonte Stefan Brötz, Geschäftsführer des AVSL, im Vorfeld der dritten Verhandlungsrunde. "Mehr Spielraum hat das Gewerbe nicht." Sprich: Wenn Verdi bei seiner Forderung von fünf Prozent auf ein Jahr beharrt hätte, wären die Tarifgespräche laut dem Verbands-Geschäftsführer wohl gescheitert. Insbesondere die Bonusregelung für Verdi-Mitglieder hatten die Arbeitgeber kategorisch abgelehnt - mit dem Hinweis, dass Verdi-Mitglieder sowieso in den Genuss des Tarifvertrags kämen. Brötz: "Unsere Mitgliedsfirmen sehen sich sehr genau an, welche Verträge wir mit den Gewerkschaften aushandeln und entscheiden dann, ob sie der Tarifbindung unterliegen wollen oder nicht." Das Druckmittel von Verdi Eben diese "starre Haltung der Arbeitgeber in der zweiten Verhandlungsrunde", formuliert es Püschel, habe letztlich dazu geführt, "dass wir in die Betriebe gegangen sind und Mitarbeiter informiert haben - durch Flugblattaktionen, Betriebsversammlungen und Warnstreiks." Ein Vorgehen, dass in der Branche auf große Kritik stieß, auch wenn sich kein davon betroffenes Unternehmen öffentlich dazu äußern wollte. "Jeder, der den Mund aufmacht, ist sehr schnell im Fokus der Gewerkschaften", begründet der Chef einer mittelständischen Spedition die Zurückhaltung seiner Branchenkollegen. Auch er will nicht namentlich genannt werden. Er glaubt: In der Regel würden sowieso die Betriebe bestreikt werden, die in der Tarifkommission sitzen. "Das ist ein Druckmittel der Gewerkschaft, um sie weich zu kochen." Jeder Warnstreik störe nun einmal das Tagesgeschäft in den betreffenden Firmen. Und ab einem bestimmten Zeitpunkt müsse sich jeder Unternehmer die Frage stellen: Bleibt er bei den Tarifgesprächen hart oder knickt er ein, weil er sonst seine Kunden verliert. Verdi sei da heute "viel radikaler als früher", glaubt er. "Die haben eine neue Taktik gewählt". "Verdi wollte durch seine Warnstreik-Welle in den letzten Wochen Präsenz zeigen und Druck aufbauen", sagt auch Stefan Brötz vom AVSL: "Das war eine neue Form der Strategie, die es so in unserer Branche bislang nicht gegeben hat. Wahrscheinlich wollte die Gewerkschaft ihren Mitgliedern damit bewusst zeigen, dass sie aktiv ist, um so weitere Mitglieder zu gewinnen", schildert er den Eindruck betroffener Mitgliedsunternehmen. Außerdem wollte Verdi damit wohl auch, vermutet der Geschäftsführer, "ein Zeichen gegen IG Metall setzen - auch und gerade vor dem Hintergrund der noch offenen Zuständigkeitsfrage im Bereich der industriellen Kontraktlogistik." Oder um es mit den Worten eines württembergischen Spediteurs zu formulieren: "Jeder versucht für die Beschäftigten in der Logistikbranche noch mehr herauszuholen, obwohl die Speditionen in Baden-Württemberg bereits mit die höchsten Tarifentgelte in Deutschland bezahlen." Um so überraschender für alle Beteiligten also das zügige Ende im Tarifkonflikt in Baden-Württemberg. Warum Verdi letztlich schneller "nachgegeben" hat als vermutet, dazu gibt es keine offiziellen Aussagen. Wahrscheinlich hat die Vernunft gesiegt. Maßgebliche Rolle hat dabei aber wohl das fragile wirtschaftliche Umfeld in Baden-Württemberg gespielt, vermutet Marketing- und Vertriebschef Kersten. "Beide Seiten haben vor diesem Hintergrund eine vernünftige Lösung angestrebt, um Schaden zu vermeiden. Denn keiner hätte etwas von einem langen Tarifstreik gehabt - weder die Unternehmen, die Beschäftigten noch die Gewerkschaft." Ein heißer Tarifsommer Der jetzt erzielte Kompromiss von zwei Prozent mehr Geld jeweils in 2016 und 2017 sei daher "absolut gut für die Speditions- und Logistikbranche", betont Kersten. Fünf Prozent mehr wären dagegen "für die Unternehmen sehr, sehr schwer geworden", formuliert er es und spricht damit für viele Branchenkollegen. Auch die Anhebung des Betriebszugehörigkeitszuschlags für gewerbliche Mitarbeiter bewertet Kersten als guten Kompromiss. "Die Verantwortungsfunktionen der gewerblichen und kaufmännischen Mitarbeiter gleichen sich zunehmend. Auch Lagerfachkräfte arbeiten heute zum Beispiel mit PC und High-Tech-Geräten." "Der jetzt abgeschlossene Tarifvertrag in Nordbaden-Württemberg sollte Modellcharakter für die nächsten Tarifgespräche in diesem Jahr haben", hofft deshalb Kersten. Ein Arbeitskampf und langwierige Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften seien angesichts der momentanen fragilen Wirtschaft schwierig. "Keiner weiß, welche weiteren Kreise die Abgasaffäre in der Automobilbranche noch ziehen wird", nennt Kersten ein Beispiel, "und wie sich dies dann auch auf die Speditions- und Logistikdienstleister auswirkt." Fest steht nur: Es wird ein heißer Sommer 2016 werden. Südbaden verhandelt am 30. Juni seine Tarifverträge neu, Nordrhein-Westfalen am 31. August und Bayern am 30. September. Ob auch hier die Vernunft siegt, wird sich weisen. Mehr zum Thema im Dossier Löhne und Gehälter www.verkehrsrundschau.de/dossiers

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