Automatisierte Logistik: Wie KI den E-Commerce effizienter macht

Im Versandzentrum der Otto Group in Haldensleben packt beim Entladen von Containern und Wechselbrücken seit 2024 eine neue "Arbeitskraft" mit an: ein Stretch-Roboter des Herstellers Boston Dynamics. Er erkennt die Packstücke mithilfe von Kameras, greift sie mit Unterdruck-Saugnäpfen und stellt sie auf ein Förderband. Verrutschte Kartons oder eingedellte Containerwände bringen ihn nicht aus dem Takt. "Von Tag eins an hat Stretch besser performt als erwartet", berichtet Raphael Adrian Maier, Vice President Supply Chain Management bei der Otto Group. Der Roboter habe so schnell gearbeitet, dass es auch in nachgelagerten Scan- und Förderprozessen bemerkbar wurde. "Als KI-Anwender muss man sich sputen", schmunzelt Maier. In der Kommissionierung setzt die Otto Group ebenfalls einen neuen Roboter ein, hier vom Hersteller Covariant. Er ist mit sechs Kameras ausgestattet und lernt dank KI-Steuerung selbstständig dazu. Bekommt er es mit einem neuen Gegenstand zu tun, testet er verschiedene Griffrichtungen, bis eine funktioniert, und speichert sie in seinem Gedächtnis ab. Rasante Fortschritte Die Fortschritte bei der Pickleistung seien rasant, so Maier. Im Livebetrieb schaffe der Roboter mehr als doppelt so viele Stücke wie vom Hersteller im Erstgespräch avisiert. "Dazwischen ist nur ein Dreivierteljahr vergangen." Diese Beispiele zeigen: Künstliche Intelligenz (KI) ist dabei, die Logistik im E-Commerce zu revolutionieren. Wobei selbstlernende Roboter nur die Spitze des Eisbergs sind, die größten Fortschritte finden im Hintergrund statt. 62 Prozent aller Logistikfirmen setzen KI für Bedarfsprognosen und Absatzplanung ein, 50 Prozent zur Transportoptimierung, ergab eine Umfrage des IT-Branchenverbandes Bitkom. Auch die Marktführer im E-Commerce setzen diesen Schwerpunkt. "Interessant ist die Optimierung der Zustelltouren und das Forecasting des Zustellzeitpunkts, da hier auch tägliche Störungen - wie Baustellen und Staus - von der KI berücksichtigt werden können", sagt Bernd Gemein, IT-Chef des Unternehmensbereichs Post & Paket Deutschland der DHL Group. KI könne dabei helfen, Routen zu verkürzen und die Zahl der Zustellversuche zu reduzieren. "Durch das gute Forecasting des Zustellzeitpunkts für Nutzer der Post & DHL App sehen wir auch eine erhöhte Antreffquote in der Erstzustellung." KI in der Logistikplanung Die Otto Group setzt KI auch in der Logistikplanung ein. Bei Lascana, einer Firma der Gruppe etwa für Mode und Accessoires, unterstützt ein KI-Programm des Anbieters Paretos seit Kurzem bei Absatzvorhersagen für bis zu 80.000 Artikel. Die Prognose-Genauigkeit konnte dadurch um 78 Prozent verbessert werden. Das Programm arbeitet mit internen Daten, kann aber auch externe Faktoren wie das Wetter miteinbeziehen. Deutet sich eine Schönwetterperiode an, würde die KI zum Beispiel vorab die Bestände an Bikinis erhöhen. Ein weiterer wichtiger KI-Anwendungsbereich ist die Kontrolle von Abläufen mithilfe von Kameras (Fachwort: Computer Vision). Früher mussten solche Systeme aufwendig programmiert werden, die neuen "KI-Augen" lernen anhand von Beispielen, Objekte zu erkennen. In den Fulfillment-Zentren des französischen Konzerns ID Logistics etwa sind die Kommissionierwagen mit einer "smarten" Kamera ausgestattet, die warnt, wenn der Picker einen falschen Artikel aus dem Regal nimmt. 90 Prozent aller Kommissionierfehler ließen sich so vermeiden, wirbt das Unternehmen. Entlang der Logistikkette fungiert KI zudem als Vermittler. Kurz zum Telefonhörer zu greifen könnte bald der Vergangenheit angehören. Hat ein Transporteur zum Beispiel eine Rückfrage zu einer Sendung, kann er sich an einen Chatbot (Dialogroboter) des Versenders wenden; menschliche Kontakte sind für Notfälle reserviert. Das Gleiche gilt für den Kontakt zwischen Kunden und Logistikdienstleister. Onlineshopper, die sich per WhatsApp an den Zustelldienst Urbify (siehe S. 17) wenden, werden zunächst von einem Chatbot bedient. Der sucht die gewünschte Information in den internen Datenbanken. Dabei analysiert die KI auch den Tonfall des Kunden. "Spürt" sie Anzeichen von Verärgerung, übergibt sie an Mitarbeiter aus Fleisch und Blut. "Einen Disponenten gab es bei uns noch nie" Was ist, wenn über Nacht 15 Zentimeter Neuschnee gefallen sind oder der Fahrer gerade erst eingestellt wurde? Solche Faktoren kalkuliert der Berliner Zustelldienst Urbify ein, wenn er seine Touren plant. Beziehungsweise: planen lässt. Denn bei dem Start-up übernimmt eine künstliche Intelligenz diese Aufgabe. "Einen Disponenten gab es bei uns noch nie; die Tourenplanung war bei uns immer automatisiert", sagt Gründer Ben Stolze. Der KI-Einsatz hat zwei Vorzüge: Zum einen kann der Algorithmus extrem viele Faktoren im Blick behalten, zum anderen lernt er ständig selbst dazu. Wenn für eine 20 Kilogramm schwere Sendung zum Beispiel eine zehn Prozent längere Zustellzeit angenommen wird, überprüft die KI im Nachhinein, ob die Schätzung richtig war - und passt sie das nächste Mal gegebenenfalls an. Urbify ist auf schnelle Zustellung spezialisiert: Die Transportpartner holen die Sendungen zwischen drei und vier Uhr nachts an den Lagerstandorten der Shops ab und stellen sie am nächsten Tag zwischen 16 und 21 Uhr bei den Endkunden zu. Unter anderem durch dieses Zeitfenster erreiche man eine Zustellquote von 99 Prozent, sagt das Unternehmen. Zu den Kunden gehören Rewe, die Modemarken Zara und Asos sowie die Shop-Apotheke. Die KI-Tourenplanung sei ein wichtiges Alleinstellungsmerkmal, betont Stolze. "Es gibt in der Branche niemanden, der so arbeitet." Er ist überzeugt, dass davon alle Beteiligten profitieren. "Das bedeutet für die Transportunternehmer definitiv eine Entlastung im Arbeitsalltag!" Sie müssten die Dispo nicht mehr selbst erledigen und könnten sich darauf verlassen, dass die Planung solide sei. "Der Algorithmus plant nur, was auch realistisch ist", so Stolze. 15-Stunden-Tage für die Fahrer gebe es nicht. Logistik: neue Arbeitsteilung? Was verändert sich durch den Vormarsch von KI für die Dienstleister? Zum einen sicher das Tempo. Mehr Roboter in Lagern und Verteilzentren bedeuten auch kürzere Durchlaufzeiten. Zum anderen verändert sich die Arbeit selbst. "Für unsere KollegInnen bedeuten die Roboter vor allem Entlastung. Durch die Automatisierung von Logistikabläufen erhalten sie Unterstützung bei körperlich anstrengender und monotoner Arbeit", so Otto-Group-Manager Maier. Manche Experten erwarten zudem, dass Logistik in Zukunft dezentraler wird und näher an den Kunden rückt. Ihr Argument: Wenn KI-Roboter kommissionieren, kann das Verteilzentrum überall betrieben werden. Dadurch verkürze sich die letzte Meile. Außerdem zeichnet sich eine neue Arbeitsteilung ab. Während heute noch viele Transportbetriebe, die für E-Commerce-Shops unterwegs sind, ihre Touren selbst planen, dürfte diese Aufgabe künftig den KEP-Unternehmen zufallen. Denn sie besitzen die IT-Tools, um eine KI-Routenplanung durchzuführen, und verfügen über Erfahrungsdaten aus Milliarden von Sendungen. Die Zeiten, in denen der lokale Disponent oder gar der Fahrer die Tour plante, scheinen zu Ende zu gehen. Sich als Transportbetrieb auf die KI-Ära vorbereiten Prüfen Sie, ob und wo Sie intern KI-Werkzeuge einsetzen können. Ein möglicher Anwendungsbereich könnte das Flottenmanagement sein (Beispiel: vorausschauende Wartung, Predictive Maintenance), außerdem lässt sich mit KI die Schichtplanung verbessern. Führen Sie KI-Programme im Backoffice ein. Dafür ein Beispiel: Mit Chatbots wie ChatGPT oder Copilot lassen sich sekundenschnell Angebote erstellen. Prüfen Sie, ob Sie Investitionen in IT-Ausstattung fördern lassen können, zum Beispiel vom Bundesamt für Logistik und Mobilität (Programm Umweltschutz und Sicherheit, vormals De-Minimis-Programm). Die großen Integratoren führen KI-gestützte Disposition und Tourenplanung ein. Diese Systeme benötigen Echtzeitdaten von den Dienstleistern! Investieren Sie rechtzeitig in die nötigen Schnittstellen, und bleiben Sie mit den Kunden im Austausch, um frühzeitig die neuen Anforderungen zu kennen. Die gestützte KI-Disposition übernehmen in Zukunft die Integratoren; rechnen Sie damit, in Ihrem eigenen Bereich die Kapazitäten abbauen zu können. Durch KI-Einsatz nehmen auch die Dokumentationspflichten zu, da automatische Entscheidungen nachvollziehbar sein müssen. Investieren Sie in passende Software. Arbeiten Sie an Pünktlichkeit und Effizienz. KI-gestützte Systeme tracken in Zukunft jede Tour minutengenau. Erhöhen Sie Ihre finanziellen Reserven. Aufgrund der KI-Planung werden feste Mengen seltener und mehr Buchungen erfolgen kurzfristig. Außerdem ist zu erwarten, dass die Auftraggeber ihre Vergütungsmodelle anpassen und sich die Preise nach der Nachfrage richten. Konzentration aufs Wesentliche Dass KI immer mehr Prozesse in der E-Commerce-Logistik übernimmt, ist vorgezeichnet. "Es geht nicht um das Ob, sondern um das Wann", meint Ben Stolze, Gründer der Zustellfirma Urbify. Wie sollten sich Transportbetriebe darauf vorbereiten? Stolze rät, sich auf die Kernelemente des Geschäfts zu konzentrieren - Flottenmanagement, Schichtplanung, Konsolidierung - und möglichst viel zu automatisieren. "Fragen Sie sich bei jeder Aufgabe, ob sie sich mit KI leichter und schneller erledigen lässt", so Stolze. Während der große KI-Roll-out gerade begonnen hat, zeichnet sich schon die nächste Revolution ab: Humanoide Roboter sollen demnächst in die Logistikzentren einziehen. Es handelt sich um menschenähnliche Modelle mit Armen und Beinen, die Bewegungsabläufe durch Zuschauen erlernen und dank eingebauter ChatGPT-Technik normal mit Menschen reden können. Amazon testet in seinen US-Lagern schon seit 2023 den humanoiden Roboter Digit. Die Fernvision ist, die Humanoiden bald entlang der ganzen Transportkette einzusetzen. Praktiker reagieren abwartend. DHL-Mann Gemein betont, dass man in Sortierzentren und Lagerhäusern die neuen technischen Möglichkeiten beim Packen von Paketen erprobe. "Die Nutzung außerhalb unserer eigenen Räume bleibt aber Zukunftsmusik - die Mitarbeitenden in der Zustellung bleiben uns noch sehr, sehr lange erhalten." Otto-Group-Experte Maier ergänzt, man verfolge die Entwicklungen in diesem Bereich mit großem Interesse, doch es müssten nicht stets menschenähnliche Roboter sein. "Auch ein Modell wie Stretch kann man für vielfältige Aufgaben einsetzen." Und schließlich wäre da noch die Frage, ob alles Mögliche auch mach- und finanzierbar ist. Tobias Röding, Dozent und Projektmanager Handelslogistik beim EHI Retail Institute, Köln, sieht die Branche derzeit in einer "Findungsphase": Während KI neue Möglichkeiten eröffnet, setzt die EU mit ihrem ,AI Act' klare Grenzen für den Einsatz. Brüssel verlangt, dass wichtige von KI gefällte Entscheidungen nachvollziehbar sein müssen - das könnte auch die Logistik betreffen, man denke an autonome Fahrzeuge. Viel hängt auch davon ab, wie sich der Arbeitsmarkt in Zukunft entwickelt, was darüber entscheidet, welche KI-Investition sich rechnet. Schnelle Umbrüche erwartet Röding nicht. "Auch in der kommenden Weihnachtssaison werden keine autonomen Fahrzeuge die Pakete bringen."