Der Blick in eine neue Zukunft

Die Demokratie hält Einzug in Tunesien - dank dem arabischen Frühling. Die Proteste im Jahr 2011 haben zahlreiche Veränderungen auf politischer Ebene gebracht. Im Januar 2014 wurde eine demokratische Verfassung verabschiedet. Im Oktober 2014 gab es Parlamentswahlen und im Dezember 2014 wurde erstmals mit Beji Caid Essebsi ein Präsident demokratisch gewählt. Tunesien also das Vorzeigeland, in dem der politische Wandel auch einen wirtschaftlichen Aufschwung nach sich zieht? Vorbild auf politischer Ebene Ob das so schnell erfolgen wird, da ist der Tunesienkenner Fausi Najjar eher skeptisch: "Das Land steht vor großen wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen." Najjar ist Leiter des Maghrebbüros von Germany Trade and Invest (GTAI). "Tunesien hat den politischen Übergang gut bewältigt. Die Gewaltenteilung ist vollzogen und die Gerichte sind nominell unabhängig. Auf diesem Feld ist das Land weiter als viele Maghreb-Staaten", gesteht er dem Land zu. Vorher herrschte ein "Kapitalismus der Kumpels", wie er es nennt. Jetzt also ist die Saat gelegt für mehr Rechtstaatlichkeit und mehr Wettbewerb. Doch dass Tunesien diese Ernte einfahren kann und gleich den Sprung zu einem Tigerstaat schafft, da hat Najjar so seine Zweifel: "In einer Wirtschaftskrise wird es schwierig sein, die verkrusteten Strukturen vor allem im Dienstleistungssektor aufzubrechen, zumal die politische Kultur in dem Land auf Konsens ausgerichtet ist." Eine große Hürde sieht er in der Abhängigkeit von der Europäischen Union (EU). Immerhin 41 Prozent der Importe Tunesiens kommen aus der EU. Bei den Ausfuhren ist die Abhängigkeit (65,8 Prozent) noch höher. Sowohl bei den Importen wie auch bei den Exporten sind Frankreich, Italien und Deutschland die drei wichtigsten Handelspartner Tunesiens. Und da die Konjunktur in der EU derzeit eher schwächelt, leidet auch Tunesiens Wirtschaft. Das Wirtschaftswachstum fällt mit 2,8 Prozent im Jahr 2014 (vorläufige Zahlen) verhalten aus. Auch 2015 (+2,7 Prozent) ist keine Besserung in Sicht. "Zu wenig, um die derzeitige Arbeitslosenquote von 15 Prozent spürbar zu senken", sagt Najjar. Seehäfen unter staatlicher Regie Dass Tunesien trotz der politischen Veränderungen noch stark in seinem alten System verhaftet ist, bekommt auch der Logistiksektor zu spüren. Beispiel Seehäfen: 98 Prozent des Außenhandelsvolumens wird über die Seehäfen bewegt. Doch der Wettbewerb ist hier noch nicht angekommen: Alle sechs Seehäfen werden von staatlichen Gesellschaften betrieben, allen voran der größte Containerhafen des Landes, Radès, und der größte Fährhafen La Goulette in unmittelbarer Nähe von Tunis. Anders als beispielsweise in Marokko, wo der deutsche Terminalbetreiber Eurogate und gleich mehrere Reedereien (MSC, CMA CGM) sich für ein Terminal verantwortlich zeigen (siehe zu Marokko VR 43/2014). Dass staatlicher Einfluss nicht unbedingt förderlich ist, zeigt die Aufkommensentwicklung in Radès. Zwar ist das Containervolumen 2013 um 2,2 Prozent auf 351.593 TEU (20-Fuß-Standardcontainer) gestiegen. Damit liegt der Umschlag aber deutlich unter dem Spitzenwert aus dem Jahr 2010 (420.089 TEU). Aus deutscher Sicht ist der Fährhafen La Goulette bedeutsamer. "Container über Hamburg nach Tunis zu verschiffen, dauert bis zu 14 Tage. Über den Landweg können wir es in vier Tagen schaffen", sagt Patrick Naujocks, bei der Navis Schiffahrts- und Speditions-Aktiengesellschaft für Tunesien zuständig. Navis nutzt dabei wie die meisten Speditionen in Europa Genua als Fährhafen und eher in Ausnahmefällen Marseille. Durchschnittlich zehn bis zwölf Lkw pro Woche verkehren für Navis zwischen Deutschland und Tunesien. Dabei werden vor allem Kfz-Teile, Maschinen, Ersatzteile und chemische Produkte transportiert. Mit der Anbindung und der Abwicklung in den Häfen zeigt Naujocks sich jedoch zufrieden. "In Genua und Tunis wird öfter mal gestreikt als in Deutschland", nennt er zwar einen Nachteil, macht dabei jedoch den Eindruck, als gehörten diese Arbeitsniederlegungen dazu wie die Frachtpapiere zu einer Sendung. Wer in Tunesien Geschäfte betreiben will, der kommt ohne einen Partner vor Ort nicht aus, sagt Naujocks. "Wir arbeiten in Tunesien mit unseren Partnern wie eine kleine Familie zusammen", sagt er. Das sei auch notwendig, denn so könnten Probleme mit dem Zoll eher behoben werden. Gerade die Verzollung sei manchmal schwierig, da genau auf die Einhaltung der Vorschriften geachtet werde. Finsterwalder wagt den Sprung In Tunesien ist eine Reihe von deutschen Logistikdienstleistern tätig. Die ganz großen sind hier vertreten wie Kühne + Nagel und Dachser. Aber auch mittelständische Dienstleister wie die Spedition Finsterwalder wagen den Sprung über das Mittelmeer. Für Februar hat das Unternehmen Lohnveredelungs- und Konsumgütertransporte von und nach Tunesien angekündigt. Zu einem späteren Zeitpunkt sollen dann Konsumgütertransporte nach Libyen und Algerien via Tunesien realisiert werden wie auch Schwer- und übermassige Transporte, Gefahrguttransporte und die Durchführung von Transporten im Bereich der Projektlogistik. Schon seit einigen Jahrzehnten ist die Spedition Meyer & Meyer in Tunesien. Tunesien und Meyer & Meyer: Das war die optimale Ergänzung in den 70er-Jahren. Beide hatten sich auf Textilien spezialisiert, die einen auf den Transport, die anderen auf die Produktion. Nach wie vor sind in Tunesien namhafte Produzenten von Hemden, Jeans und Schuhen tätig. Doch die Textilindustrie hat unter der Konkurrenz aus Fernost gelitten. Dafür hat Anfang der 2000er- Jahre die Automobilindustrie das Land entdeckt - und auch Meyer & Meyer ist auf diesen Zug aufgesprungen. So gilt der Automobilzulieferer Leoni, Anbieter von Drähten, optischen Fasern, Kabeln und Kabelsystemen, in Tunesien als der größte industrielle Arbeitgeber. In drei Werken sind derzeit 13.214 Mitarbeiter beschäftigt. Produziert werden Kabelsätze und Kabelbäume für die Automobilindustrie. Meyer & Meyer ist für verschiedene Automobilzulieferer tätig. "Wir transportieren Material von Deutschland nach Tunesien, dort werden Kabelbäume hergestellt und dann befördern wir das fertige Produkt wieder in die europäischen Werke", sagt Benedikt Osterheider, Transportmanager bei Meyer & Meyer. Diese Warenströme erleichtern das Ziel, paarige Verkehre aufzubauen. "Wöchentlich verkehren durchschnittlich 65 Trailer nach Tunesien und 65 wieder zurück", sagt René Nothnagel, Leiter der Niederlassung von Meyer & Meyer in Tunesien. In Tunis betreibt Meyer & Meyer ein Zolllager mit 2000 Quadratmetern Fläche und beschäftigt 47 Mitarbeiter. Aber auch Meyer & Meyer kommt nicht ohne einen einheimischen Partner aus: ein Indiz dafür, dass es bei der Marktöffnung in Tunesien in der Tat noch Nachholbedarf gibt. Meyer & Meyer rechnet mit Wachstum Nothnagel arbeitet seit 17 Jahren in Tunis. Wer dort Geschäfte tätigen will, so seine Ansicht, kommt ohne Französisch nicht weit - die gängige Sprache, in der sich die Wirtschaftsvertreter unterhalten, auch wenn Englisch an Bedeutung gewinnt. Man muss sich darauf einstellen, dass die Gesprächspartner immer und überall zum Handy greifen, wenn es Töne von sich gibt. Und es komme durchaus mal vor, das Geschäftstermine vergessen werden. "Umgekehrt schätzen die Tunesier die deutsche Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit, weshalb Deutsche sehr beliebt sind", sagt Nothnagel. Er geht davon aus, dass der tunesische Markt weiter wächst. 2000 hatte Meyer & Meyer etwa 3000 Verschiffungen jährlich. 2014 waren es dann knapp 6500. "Dieser Aufwärtstrend wird weiter anhalten, nicht zuletzt auch wegen der politischen Reformprozesse", so die Prognose des Niederlassungsleiters. Als Beleg dafür nennt er die Planungen, einen neuen Tiefseehafen in Enfidha zu bauen. Auf einer Fläche von 1000 Hektar sollen 3600 Meter Kaianlagen entstehen. Die Zufahrt gewährleistet ein Kanal mit einer Tiefe von 18 Metern. Die Gesamtkosten des Projektes werden auf 1,3 Milliarden Euro beziffert. Allerdings sucht die Regierung schon länger nach einem Partner für dieses Projekt, der aber noch nicht gefunden ist. Vor Ort befindet sich bereits ein Flughafen und es soll eine Industrie- und Handelszone eingerichtet werden. Damit will das Land die Bedingungen für im Land befindliche Unternehmen verbessern und neue über Förderungen anlocken. "Im Vergleich zu anderen Maghrebstaaten ist der Industrialisierungsgrad in Tunesien hoch", sagt GTAI-Experte Najjar. Dazu haben auch die Straßenanbindungen beigetragen. So gibt es bereits eine Autobahn entlang der Küste zwischen Tunis und Sfax (239 Kilometer) und es befindet sich die Verlängerung bis nach Gabès im Bau. Doch erscheinen solche Maßnahmen notwendig, um nicht nur auf politischer Ebene ein Vorzeigestaat zu werden. Denn im Logistics Performance Index der Weltbank, der alle zwei Jahre erstellt wird und in dem Deutschland 2014 als Logistikweltmeister erkoren wurde, steht Tunesien nur auf Platz 110 - nach Rang 41 im Jahr 2012. Die Serie Länder mit Potenzial Wenn es um Staaten geht, die als Wachstumsmärkte gelten, werden oft Länder wie China, Rumänien oder Bulgarien genannt. Unsere Serie lässt den Blick über den Rand der EU schweifen und stellt eher unbekannte Länder vor. Wir gehen auf deren Stärken, Schwächen und Besonderheiten ein und geben Hinweise, worauf zu achten ist, wenn man hier Fuß fassen will. Nach Marokko (VR 43/2014), Kasachstan (VR 47/2014) und Russland (VR 4/2015) folgt in der VR 12/2015 Weißrussland. cd Tunesien Länderportrait* - Fläche: 163.610 km² (Deutschland: 357.168 km2 )- Einwohner: 11,0 Mio. (D.: 80,8 Mio.)- Wachstum BIP (in Prozent): 2011: -1,9; 2012: 3,7; 2013: 2,31) ; 2014: 2,81)- Import (2013): 22,9 Mrd. US-Dollar- Export (2013): 17,0 Mrd. US-Dollar- BIP/Kopf in US-Dollar: 8877 (44.999)- Inflation (in Prozent): 2011: 8,5; 2012: 5,1; 2013: 6,11) , 2014: 5,71)- Arbeitslosigkeit 2014 (in Prozent): 15,01) Analphabetenquote: 20 Prozent- Transportnetz 2010: Straßen: 14.756 km, Schiene: 2165 km, Containerhäfen: 5 (Radès, Bizerte, Gabes, Sfax, Sousse)- Hauptstadt: Tunis (2,0 Mio. Einwohner)- Religion: Islam; sehr kleine jüdische und christliche Gemeinden- Staatsform: parlamentarische Republik*in Klammern: Zahl für Deutschland 1) PrognoseQuellen: GTAI, Auswärtiges Amt

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