Den Wandel wagen

Wer bei Mercedes-Benz für die C-Klasse verantwortlich ist, der hatte im vergangenen Jahr eine bemerkenswerte Häufung von Gründen zum Feiern. Innerhalb eines halben Jahres galt es, gleich vier Mal auf den Serienanlauf in Bremen anzustoßen. Zunächst im deutschen Werk in Bremen - dann in den Auslandswerken in East London (Südafrika), Tuscaloosa (USA) und schließlich in Peking. Die rasante Einführung der neuen Modellreihe ergibt Sinn. Weltweit können die Kunden nahezu zeitgleich die aktuelle C-Klasse bestellen - eine verlustreiche Auslaufphase des Vorgängermodells wird auf diese Weise vermieden. Für die Logistiker beim OEM sowie die Zulieferer und Logistikdienstleister bedeutet die Häufung von Serienanläufen jedoch Stress. Schon der Serienanlauf in einem Werk ist hochkomplex. Für jedes einzelne Teil muss die Materialversorgung geplant und abgesichert werden. Vier Anläufe in vier Werken mit grundverschiedenen Zuliefermärkten vervielfachen die Komplexität. Das Unternehmen Daimler und die C-Klasse sind kein Einzelfall: Die deutschen Automobilhersteller verkauften im vergangenen Jahr nach Angaben des Verbandes der Automobilindustrie (VDA) allein in den USA 1,4 Millionen Pkw und leichte Nutzfahrzeuge. 46 Prozent dieser Fahrzeuge wurden in Deutschland produziert und dann in die USA exportiert. Immerhin 21 Prozent der "deutschen" Hersteller wurden in den USA selbst produziert und weitere 15 Prozent in mexikanischen Werken. Der Rest der Fahrzeuge kam aus Drittstaaten in die USA. Teileversorgung rückt in den Mittelpunkt Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Logistik. Waren früher die Überseemärkte vor allem eine Angelegenheit der Fertigwagenlogistiker, tritt mittlerweile immer stärker die Teileversorgung in den Mittelpunkt. "Überseeversorgung bedeutet für uns in naher Zukunft: Versorgung von rund 50 Prozent der gesamten BMW-Produktion", sagte Uwe Quaas, für Materialsteuerung und Versorgungssicherung zuständiger Gesamtprojektleiter, während des Forums Automobillogistik des VDA und der Bundesvereinigung Logistik. Der Fokus liegt dabei auf den USA, Südafrika und China. Dass die Überseewerke von lokal ansässigen Lieferanten versorgt werden, ist vor allem bei jungen Auslandswerken reine Utopie. Beim Automobilkonzern BMW sind über 1000 europäische Lieferanten in die Versorgung der Überseewerke in Spartanburg, Shenyang und Rosslyn eingebunden, in denen im vergangenen Jahr 720.000 Fahrzeuge produziert wurden. In Deutschland sind drei Packbetriebe auf 220.000 Quadratmetern Produktionsfläche damit beschäftigt, Sendungen für die Überseewerke zu konsolidieren und zu verpacken. 240 bis 260 Lkw liefern Teile an die Packbetriebe, deren täglicher Output bei 140 40-Fuß-Containern liegt. Insgesamt acht Logistikdienstleister organisieren bei BMW den Transport per Seefracht, transsibirischer Eisenbahn oder Luftfracht. Kostenvorteile durch weltweiten Einkauf Doch auch in der Gegenrichtung fließen nennenswerte Materiallieferungen. Das liegt nicht nur an den asiatischen Automobilherstellern, die wiederum ihre europäischen Werke versorgen. Zahlreiche europäische Produzenten nutzen mittlerweile intensiv Asien als Beschaffungsmarkt für Teile. "Es ist unser Ziel, Kundenaufträge und Kundenauftragsänderungen flexibel zu bedienen und dabei die Kostenvorteile des weltweiten Einkaufs beizubehalten", beschreibt Marzell Bandur, Director Supply Chain Planning bei Opel in Rüsselsheim, das Spannungsfeld. Anders ausgedrückt: Automobilbauer Opel versucht, einen größeren Teil seiner Teileumfänge in Niedrigkostenländern einzukaufen - insbesondere in Asien, aber auch auf anderen Kontinenten. Das soll aber nicht zulasten der Flexibilität im Auftragsprozess gehen - und schon gar nicht zulasten der Stabilität in der Produktion. Angesichts der wachsenden Bedeutung von Überseetransporten beobachten die Logistikmanager von OEM und Zulieferer mit einiger Sorge die Entwicklung in der Seefracht. "Die Containerlaufzeiten sind nicht stabil", fasst Michael Kaufhold, Leiter Logistik der Brose Gruppe, zusammen. Es sei immer weniger planbar, wie lange ein Container mit Teilen für die Automobilproduktion zwischen Europa und Asien unterwegs ist. Die Gründe sind vielfältig. Die Reeder optimieren konsequent ihre Auslastung. Sie laufen kurzfristig zusätzliche Häfen an oder streichen notfalls auch ganze Reisen. Auslastung zulasten der Pünktlichkeit Begründung der Reeder: Extremer Kostendruck. Ein Teil des Problems ist allerdings von den Reedern hausgemacht. Fast alle Containerreedereien setzen zwischen in Europa und Fernost auf Containergroßschiffe. Die versprechen niedrigere Stellplatzkosten und somit mehr Gewinn - vorausgesetzt, dass sie ausgelastet sind. Bleibt ein größerer Teil der Stellplätze leer, häufen sich Verluste. Somit tun die Reeder im Normalfall alles, um die Auslastung jenseits der 95 Prozent zu halten - notfalls auch zulasten der Pünktlichkeit. Das Problem wird dadurch verschärft, dass die Transitzeiten von und nach Fernost durch die bewusste Verlangsamung der Reisegeschwindigkeit (Slow Steaming) ohnehin gestiegen sind. "Noch vor einigen Jahren lagen die Transitzeiten nach China bei 32 Tagen. Inzwischen müssen wir mit 45 bis 47 Tagen rechnen", erläutert Kaufhold. Höhere Bestände sind auf dem Transportweg gebunden, auch die Sicherheitsbestände werden angepasst. Das treibt die Kosten. Zum einen ist eine höhere Kapitalbindung zu verzeichnen, zum anderen besteht die Gefahr, dass die Lagerkosten steigen, weil zusätzlicher Lagerraum für Sicherheitsbestände benötigt wird. Im schlimmsten Fall müssen Sondertransporte organisiert werden - in der Regel durch die Luftfracht. Noch keine flächendeckende Alternative sieht Kaufhold in den Landtransporten zwischen Europa und Fernost per Bahn. Die seien von den Laufzeiten her sehr stabil, aber eben auch deutlich teurer als der Seetransport. Um Verzögerungen so früh wie möglich zu erkennen, sind Verlader und Zulieferer dazu übergegangen, ihre Materialversorgung transparenter zu gestalten. "Wir setzen dabei im internationalen Versorgungsnetzwerk Big-Data-Technologien ein", sagt Dirk Dreher, Leiter der Auslandsversorgung bei BMW. Dies sind nicht nur große Worte. Der bayerische OEM sammelt in einer Hochleistungsdatenbank relevante Daten von Lieferanten, Speditionen, Reedern, Packbetrieben, Airlines und Reedereien sowie den Auslandswerken selbst ein. Das System fragt im 15-Minuten-Rhythmus ab und verarbeitet rund 400 Millionen Aufzeichnungen pro Monat. Lohn der Mühe: Detaillierte Erkenntnisse über die Performance der gesamten Prozesskette und einzelner Prozessabschnitte - sowie eine Warnfunktion, die über Verspätungen an insgesamt 20 Tracking-Punkten informiert. Der Spagat der Zulieferer Nicht nur die OEM tracken intensiv, sondern auch die Zulieferer. ZF hat seine Lieferanten entweder direkt über EDI oder die Plattform Supply On an ein EDI-Hub angeschlossen. Dorthin melden auch Logistikdienstleister wie DHL, Schenker und Kühne + Nagel ihre Lieferstatus. Schaeffler nutzt vor allem Supply On. Für die Automobil-Zulieferer hat die Internationalisierung der Produktion auch eine strategische Dimension, auf die Brose-Manager Kaufhold hinweist. Die Zulieferer müssen für die Auslandswerke ein Optimum zwischen Bündelung und Lokalisierung ihrer Fertigung finden. Mit anderen Worten: Sie haben zu entscheiden, ob sie eine lokale Fertigung in der Nähe der Auslandswerke aufbauen wollen - oder das Werk aus einer bestehenden Fertigung bedienen. Letzteres erhöht die Lieferrisiken. Wenn ihnen ein Teil weltweit fehlt, beispielsweise wegen eines Werkzeugbruchs, hat es eine ganz andere Dimension, als wenn es nur in einem Werk Probleme gibt. Neben der Internationalisierung der Produktion ist die zunehmende Variantenvielfalt der zweite Treiber für die Komplexität in der Automobillogistik. Allein in Deutschland sind zurzeit über 500 verschiedene Fahrzeugmodelle auf dem Markt. Das Beispiel des Automobilisten Audi verdeutlicht dies: Noch im Jahr 1994 gab es nur sieben Audi-Modelle; elf Jahre später konnten Autokäufer bereits zwischen 22 Modellen wählen und für 2015 werden laut Audi-Quellen 40 unterschiedliche Modelle erwartet. Und kontinuierlich wird die Produktpalette mit neuen Modellreihen, Derivaten und Nischenfahrzeugen ausgebaut - und jedes dieser Fahrzeuge gilt es, in einer enormen Zahl von Varianten zu stellen. Für die A-Klasse von Mercedes gab es im Jahr 2013 allein 138 empfohlene Lack- und Polster-Kombinationen. Das üppige Angebot an den Kunden bezahlen die Hersteller mit Problemen bei der Versorgung der Montagebänder. "Durch die große Typenvielfalt der zu fertigenden Fahrzeuge, insbesondere im Premiumsegment, platzen Supermärkte und Bereitstellung für Just-in-Sequenz am Band nahezu auseinander", hat Professor Karl-Heinz Wehking, Institutsleiter für Fördertechnik und Logistik an der Uni Stuttgart, beobachtet. Der Wissenschaftler warnt: "Wir sind mit der Produktionslogistik im Automobilbereich platz- und kostenmäßig an einem Wendepunkt". Das bekommen auch Zulieferer und Logistikdienstleister in der automobilen Lieferkette zu spüren. Die Lieferbehälter werden immer kleiner, die Anliefersequenzen dagegen steigen. Boten Speditions- und Logistikdienstleister früher Lagerflächen an, sind heute Cross-Docking-Lösungen von ihnen gefragt. Last but not least: Noch vor ein paar Jahren war die Versorgung der Produktion mit vollen Lkw die Regel - mittlerweile wird dies zunehmend zur Herausforderung. Wie hier Wandel gelingen kann, zeigt die VerkehrsRundschau in den nächsten zwei Teilen der neuen Serie. Die Serie Erfolg in der AutomobillogistikDie Prozesse neu denken und gestalten: Was OEM, Zulieferer und Dienstleister nun tun- Was die Herausforderungen treibt, was sich für die Akteure damit ändert- Wie Elflein und Porsche die Eingangsverkehre gemeinsam optimieren- Welche Innovationen in der Logistik anstehen Tipp Was Speditions- und Logistikdienstleister leisten müssen - Transparenz: Von den Dienstleistern wird erwartet, dass sie Sendungstracking über die gesamte Transportstrecke betreiben und gleiches von Subdienstleistern verlangen. Manchen Auftraggebern reicht der Sendungsscan an den Schnittstellen nicht mehr. Sie erwarten Telematikdaten wie beispielsweise eine regelmäßige Übermittlung der Fahrzeugposition.- Proaktivität: Wegen der hohen Empfindlichkeit der Lieferketten verlangen OEM und Zulieferer eine proaktive Meldung von Störungen im Transportablauf zum frühestmöglichen Zeitpunkt. Das setzt voraus, dass der Dienstleister permanent über den Transportstatus auf dem Laufenden ist.- Innovationsfähigkeit: Die hohe Variantenvielfalt in der Automobilindustrie erschwert die effektive Versorgung der Montagebänder. Vor allem Inhouse- aber auch Transportdienstleister sind aufgefordert, über Prozessinnovationen, Automatisierung und Ausschöpfung aller Bündelungsmöglichkeiten den drohenden Kostenanstieg zu bremsen.- Internationalität: Wer im internationalen Geschäft bei der Versorgung von Auslandswerken mitmischen will, muss sich klar sein, dass dort andere Zeit- und Arbeitsrhythmen herrschen. Darauf sollten sich auch die Mitarbeiter des Dienstleisters in Deutschland einstellen. Die Automotive-Branche erwartet globales Denken.- Flexibilität: Die stabile Perlenkette funktioniert nicht immer. Dienstleister müssen Umplanungen und Änderungen schnell und effizient umsetzen. Dies ist nur mit IT-gestützten Planungstools zu bewerkstelligen. hel

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