Aufbauhilfe Ost

Der Mauerfall ist ein historisches Ereignis. Doch während viele gerade im Westen nur staunend im gemütlichen Sessel vor dem Fernsehen verfolgt haben, wie die Mauer nach und nach eingerissen wurde, haben andere sich von dieser Hysterie mitreißen lassen und sind aktiv geworden. Gerhard Ibrügger gehört zu diesen Menschen. Als am Donnerstag Abend, den 9. November 1989, Tausende von Menschen über die Berliner Mauer in den Westen strömen, da sitzt auch Ibrügger mit seiner Frau Marion vor dem Bildschirm. Fassungslos, staunend und fasziniert zugleich, doch deshalb keinesfalls regungslos. "Mir war spätestens nach den Staubildern vom Freitag klar, dass es am 11./12. November zu kilometerlangen Trabi- und Wartburg-Schlangen am Grenzübergang A 2 Helmstedt/Marienborn kommen würde", sagt Ibrügger, damals 40 Jahre alt und Landesgeschäftsführer des Gesamtverbandes Verkehrsgewerbe Niedersachsen (GVN). Auch gab es an diesem Wochenende die Möglichkeit für die DDR-Bürger, sich das "Begrüßungsgeld" auszahlen zu lassen und es trotz Sonntag in westdeutschen Städten gleich auszugeben. "Brummi-Mobil" als Kiosk an der Grenze Mit Billigung der damaligen GVN-Hauptgeschäftsführung macht er auf Verbandskosten am Samstag Großeinkauf: Kaffee, Erfrischungsgetränke, Kekse, Süßigkeiten etc. All das packt er zusammen mit seiner Frau in das "Brummi-Mobil", den Info-Anhänger des Verbandes. Dann fahren sie am Sonntag in den Grenzbereich West/Ost auf der A 2 zwischen Braunschweig und Magdeburg. "Nach Rücksprache mit den Grenzkräften haben wir den Anhänger direkt auf dem Seitenstreifen der Autobahn in Fahrtrichtung Osten aufgestellt und die Erfrischungen kostenlos an die auf der Rückfahrt befindlichen DDR-Bürger verteilt", erzählt Ibrügger. Aufbauhilfe Ost der ganz praktischen Art. Aufbauhilfe Ost war jedoch auch notwendig bei der Gründung der Verbände. Auch da waren Ibrügger und der GVN nicht tatenlos. Allerdings, eine Verbandsgründung ist nicht mal eben an einem Wochenende gemacht. Dazu braucht es Unternehmer, die bereit sind, die Führung zu übernehmen. Und Mitglieder, die dieses Präsidium wählen. Also fährt Ibrügger im Februar 1990 zur damaligen Handels- und Gewerbekammer nach Magdeburg, um sich zu erkundigen, ob es überhaupt Transportunternehmen gibt. "Ich war völlig überrascht, dass der Anteil der privaten Fuhrunternehmen beachtlich hoch war und es neben den VEB Kraftverkehr und der Deutrans noch viele Hunderte Firmen mehr gab, die Transportleistungen angeboten haben", sagt Ibrügger. Er lässt sich drei Namen von Unternehmern nennen, die über den Tellerrand hinausgucken würden. Einer davon lautet Gerhard Bertram. Ibrügger besucht Bertram noch am selben Tag, trifft ihn jedoch nicht an. Zwei Tage später telefoniert man miteinander. Es sollte sich zeigen, dass Ibrügger an den Richtigen geraten war. Bertram beweist, dass er nicht nur sein eigenes Unternehmen im Blick hat: "Mir war klar, dass an der Gründung eines Verbandes kein Weg vorbei führt, gerade auch vor dem Hintergrund, dass viele Unternehmen in der DDR die marktwirtschaftlichen Abläufe und die gesetzlichen Vorgaben wie Konzessionen oder Tarifmodelle der Bundesrepublik nicht kannten." Zudem planen zeitgleich die eng mit der Vorgängerregierung verbandelten VEB Kraftverkehr einen eigenen Verband. Das ist Kleinunternehmern wie Bertram ein Dorn im Auge. Zusammen mit weiteren Kollegen führt er Gespräche über eine Verbandsgründung. Am 9. April 1990 in Halle ist es dann soweit: Es findet die Gründungsversammlung des Landesverbandes des Verkehrsgewerbes Sachsen-Anhalt (LVSA) statt. Zum Präsident wird Klaus-Peter Fischer gewählt. Mit im Präsidium sitzt Bertram. Der GVN gibt nicht nur sein Wissen weiter, wie man einen Verband gründet und führt. Er stellt auch Büromaterialien, Mobiliar und Geräte zur Verfügung. Und es findet am 19. April 1990 in der Stadthalle Braunschweig eine schon legendäre Veranstaltung des GVN für Transportunternehmen im Osten statt. "Die Halle war bis auf den letzten Platz gefüllt, die Resonanz hat uns auch überrascht", erinnert sich Ibrügger. Darunter etwa 600 Unternehmer aus der DDR und 300 aus der Bundesrepublik. Neben Informationen über den Verband und den Erhalt von Gewerbegenehmigungen standen auch der Kontakt und Informationsaustausch zwischen Unternehmen aus Ost und West im Mittelpunkt. "Damals herrschte eine Aufbruchstimmung unter den Unternehmern, aber auch eine starke Verunsicherung über das, was die Unternehmen in der neuen Marktwirtschaft erwartet und ob sie mit ihrem Wissen oder ihrer Technik überhaupt wettbewerbsfähig sind gegenüber den Kollegen aus dem Westen", schildert Bertram, der heutige Präsident des LVSA, die damalige Stimmung. Wie in Sachsen-Anhalt, so erhält auch der Landesverband Thüringen des Verkehrsgewerbes (LTV) bei seiner Gründung Unterstützung. "Uns hat vor allem der hessische Landesverband mit seinem Vorsitzenden Heinz Herzig an der Spitze bei der Gründung geholfen", sagt Christoph Schuchert, Gründungsmitglied des LTV und seit 1998 dessen Präsident. Doch auch in Thüringen müssen sich die Unternehmer erst mal finden und organisieren. Erste Vorbereitungen dazu erfolgen im Januar 1990: Südthüringer Unternehmer treffen sich gleich drei Mal mit ihren Kollegen aus Hessen. Was zu dem Zeitpunkt jedoch noch keiner von ihnen ahnte geschweige denn wusste: Dass es später mal einen Freistaat Thüringen geben sollte. Das Land Thüringen wurde erst mit dem Tag der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 gegründet. "Wir waren damals Vertreter der Bezirke Suhl, Gera und Erfurt", sagt Schuchert. Doch der Wissensdurst der Unternehmer und das Interesse an einer Mitgliedschaft sind groß, weshalb der Verband laut Schuchert schnell 2000 Unternehmer als Mitglieder zählt. "Zum einen gab es viele Unternehmer, die eingetreten sind, um an Konzessionen heranzukommen", sagt der LTV-Präsident. Eine Mitgliedschaft war zwar keine Voraussetzung, doch über den Verband kam man deutlich schneller an Informationen über die Konzessionsvergabe. Zudem sind auch viele Westunternehmen dem Verband beigetreten, weil sie Interesse an Kooperationen mit in Ostdeutschland ansässigen Betrieben hatten, die Konzessionen besaßen. "Es waren mulmige Zeiten", sagt Schuchert und spielt damit auch darauf an, dass die Unwissenheit vieler Unternehmen ausgenutzt wurde. So habe die Nutzfahrzeugindustrie die Lkw im Osten um 15 Prozent über dem Preis im Westen an die Unternehmen verkauft. Denn die Fuhrbetriebe bekamen eine Investitionszulage in Höhe von 15 Prozent, sofern sie nachweisen konnten, dass 80 Prozent der Kilometer im Fördergebiet zurückgelegt wurden. "Das konnten viele Unternehmen mangels Aufträge nicht bewerkstelligen und mussten die Investitionszulage inklusive Zinsen zurückzahlen", sagte Schuchert. Dazu habe jedoch vielen das Geld gefehlt, sodass sie Konkurs anmelden mussten. Aber auch bei der Bezahlung der Frachtraten wurde die Unwissenheit der ostdeutschen Fuhrbetriebe ausgenutzt (siehe Kasten oben). Das war alles andere als Aufbauhilfe Ost, aber die Wirklichkeit, mit der ostdeutsche Firmen konfrontiert wurden. Neue SVG in den neuen Bundesländern Die SVGen als Wissensvermittler für DDR-Betriebe Aus Sicht der SVG Bundes-Zentralgenossenschaft (BZG) Straßenverkehr war die deutsche Einheit ein Glücksfall. Denn die Expertise der SVGen (Straßenverkehrsgenossenschaften) in den neuen Bundesländer war nahezu unverzichtbar: Wie in der Bundesrepublik sollten sie auch im Osten für die Frachtenprüfung zuständig sein. Damals gab es noch feste Tarife, die kontrolliert werden mussten."Doch meine Vorgänger wollten wie im Westen auch Serviceleistungen anbieten", sagt Werner Gockeln, damals unter anderem Geschäftsführer der Tarifkommission des Güterfernverkehrs (TKF) und heute Vorstand der SVG BZG. Und Bedarf gab es eine Menge. Nicht nur, weil für die DDR-Unternehmen der Ordnungsrahmen im Straßengüterverkehr völlig unbekannt war. "Wir dachten damals alle, im Osten existierten die Deutrans, die Kombinate und ein paar weitere Transportunternehmen. Aber alleine in Sachsen gab es damals über 1800 private Fuhrbetriebe, in Thüringen nochmals 800", sagt Gockeln. "Bei denen bestand natürlich ein immenser Informationsbedarf."Das hat auch Willi Michalzik beobachtet, bis Jahresende 2014 Vorstandsvorsitzender der SVG Niedersachsen/Sachsen-Anhalt und zur Wende Prokurist der SVG. "Zum Teil wurden die Unternehmen brutal dem Wettbewerb ausgesetzt und sind über den Tisch gezogen worden", sagt Michalzik. Das sei auch bei den Frachtenprüfungen zu beobachten gewesen. "Einige westdeutsche Speditionen haben ihren Frachtführern im Osten nicht den rechtmäßigen Tarif gezahlt, sodass wir den Spediteuren eine Differenzrechnung ausgestellt haben und sie nachzahlen mussten." Aber nicht immer wurden solche Missstände aufgedeckt. Hinzu kam, dass kaum Sendungen aus dem Osten rausgingen."Westdeutsche Firmen konnten mit ihrer Organisationsstruktur die Leerfahrten viel besser auffangen", sagt Michalzik. Die Folge: Seiner Einschätzung nach musste sich innerhalb von fünf Jahren etwa die Hälfte der ostdeutschen Betriebe verabschieden.Aber auch die Gründung einer SVG in Sachsen-Anhalt gestaltete sich schwierig. "In einem solchen Flächenstaat gab es nicht genügend Unternehmen und damit Kapital für die Gründung einer Genossenschaft", sagt Michalzik. Folglich hat man zunächst eine SVG Service und Vertrieb GmbH gegründet und deren Aktivitäten im Jahr 2000 mit der SVG Niedersachsen verschmolzen. cd

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