Faktencheck zum EU-Mobilitätspaket

Die Neuregelungen aus dem ersten EU-Mobilitätspaket, die bereits am 20. August 2020 in Kraft getreten sind, werfen derzeit bei Spediteuren und Transporteuren mehrere Fragen auf. Und Gerüchte über Grauzonen sorgen für viel Verunsicherung. Gemeinsam mit Olaf Horwarth geben wir Antworten und räumen die häufigsten Irrtümer aus der Welt. Unser Experte schult und berät als Inhaber der Firma SBS Fleet-Competence regelmäßig sowohl Verkehrsunternehmer als auch Berufskraftfahrer. Vor allem zur Ladungssicherung, dem Umgang mit dem digitalen Tachografen, den Sozialvorschriften im Güterverkehr und in der Aus- und Weiterbildung. Mythos 1: Ihre Wochenruhezeiten dürfen Fahrer seit August öfter verkürzen Das stimmt mit gewissen Einschränkungen: Im grenzüberschreitenden Güterverkehr dürfen Lkw-Fahrer zwei aufeinanderfolgende reduzierte Wochenruhezeiten von mindestens 24 Stunden einlegen. "Das geht allerdings nur, wenn beide verkürzte Ruhezeiten außerhalb des Niederlassungslandes ihres Unternehmens oder des Landes ihres Wohnsitzes begonnen werden", sagt Horwarth. Bisher war eine Verkürzung der Ruhezeit nur jede zweite Woche möglich. Die Neuregelung gilt unter der Voraussetzung, dass der Fahrer in vier jeweils aufeinanderfolgenden Wochen mindestens vier wöchentliche Ruhezeiten einlegt, von denen zwei reguläre wöchentliche Ruhezeiten mit einer Dauer von mindestens 45 Stunden sein müssen. Die verkürzten Ruhezeiten muss er laut dem ersten EU-Mobilitätspaket unmittelbar vor Beginn der regelmäßigen Ruhezeit der Folgewoche ausgleichen - und zwar am Stück. "Die Idee ist also, dass der Fahrer ein langes Wochenende bekommt", erklärt Horwarth. "Ein späterer oder gesplitteter Ausgleich, wie das teilweise falsch kolportiert wird, ist nicht erlaubt", sagt er. Der Fahrer könne die Neuregelung auch nur in Anspruch nehmen, wenn er außerhalb des Landes unterwegs sei, in dem er seinen Wohnsitz und sein Arbeitgeber seinen Firmensitz habe. "Ein deutscher Fahrer kann also seine Wochenruhezeit hierzulande nicht zweimal hintereinander reduzieren." Mythos 2: Fahrer sind verpflichtet, alle vier Woche heimzukehren "Fälschlicherweise ist im Zusammenhang mit dem ersten EU-Mobilitätspaket häufig von einer Rückkehrpflicht die Rede", stellt Horwarth klar. Dabei habe der Gesetzgeber vor Kurzem bloß für Lkw-Fahrer das Recht geschaffen, innerhalb von vier aufeinanderfolgenden Wochen mindestens einmal an ihren Wohnort oder die für sie zuständige Betriebsstätte zurückzukehren, um dort eine Wochenruhezeit von mindestens 45 Stunden zu verbringen. Die Neuregelung verpflichtet eigentlich die Verkehrsunternehmen, ihre Einsatzplanung so anzupassen, dass die Fahrer in der Lage sind, die Rückkehr auch zu schaffen. Sie müssen dies dokumentieren und bei Kontrollen nachweisen. Wenn der Fahrer zum Wohnort oder zur Betriebsstätte zurückkehren möchte, um seinen Ausgleich für zwei zuvor reduzierte Wochenruhezeiten einzulegen, muss der Verkehrsunternehmer dies bereits vor Beginn der verlängerten Wochenruhezeit in der Folgewoche ermöglichen. "Die verkürzten Wochenruhezeiten muss er am Stück zusammen mit der regelmäßigen Wochenruhezeit ausgleichen", sagt Horwarth. Die Rückkehrfrist verkürzt sich dementsprechend. "Die Rückkehr zum Wohnort oder zur Betriebsstätte ist für den Fahrer letztlich ein Kann, aber kein Muss", betont der Experte. "Wenn er lieber 200 Kilometer früher bei seiner Freundin übernachten möchte, kann der Verkehrsunternehmer ihm nicht vorschreiben, wo er seine Freizeit verbringt." Diese oder eine andere Abweichung von der Möglichkeit zur Rückkehr zum Wohnort oder zur Betriebsstätte sollte beweissicher dokumentiert werden, damit es später keinen Ärger gibt, rät Horwarth. Kritisch sieht er, dass einige Arbeitgeber schon Verzichtserklärungen ausgearbeitet haben, die sie ihren Arbeitnehmern zur Unterschrift vorlegen, um sich jeglichen Stress bezüglich der Neuregelung aus dem ersten EU-Mobilitätspaket zu ersparen. Mythos 3: Das Übernachten in der Lkw-Kabine ist seit Kurzem überall verboten Nur die Ruhezeiten, die 45 Stunden und mehr andauern, dürfen EU-weit nicht mehr im Fahrzeug verbracht werden. "Diese Regelung gilt auch für Ruhezeiten, die Fahrer als Ausgleich für eine vorherige Verkürzung an eine regelmäßige Wochenruhezeit anhängen - also zum Beispiel bei 45 plus fünf Stunden", erklärt Horwarth. Zuvor war dieses Verbot nicht ausdrücklich im Unionsrecht geregelt gewesen, weshalb es unterschiedliche Interpretationen gab. Kürzere Zeiträume dürften Fahrer auch weiterhin in ihrer Lkw-Kabine verbringen, versichert der Fachmann. Die regelmäßige Wochenruhezeit ist laut dem ersten EU-Mobilitätspaket jetzt in einer geeigneten, geschlechtergerechten Unterkunft mit angemessenen Schlafgelgenheiten und sanitären Einrichtungen zu verbringen. "Genauere Angaben, was damit gemeint ist, macht der Gesetzgeber nicht", bemängelt Horwarth. Die Bandbreite der zulässigen Schlafmöglichkeiten für einen Fahrer reicht in der Praxis deshalb vom Wohncontainer auf einer Freifläche bis zur Herberge oder ein Hotel an einer Fernstraße. Die Entscheidung über das Komfort-Level dürfte in den meisten Fällen dessen Chef treffen, denn er muss für die Unterbringungskosten außerhalb des Lkw aufkommen. Eine Dokumentations- und Nachweispflicht für den Verkehrsunternehmer oder den Fahrer besteht nicht. "Deshalb, und weil Kontrolleure die Trucker nicht bei bereits eingelegten Ruhezeiten auf Rastplätzen stören dürfen, ist es quasi kaum überprüfbar, ob eine Übernachtung ordnungsgemäß stattgefunden hat oder nicht", sagt Horwarth. Mythos 4: Freitags dürfen Fahrer jetzt immer zwölf Stunden am Steuer sitzen "Das ist ein Trugschluss, der mitunter gefährlich werden kann", warnt Horwarth. Abweichungen von der maximal zulässigen täglichen und wöchentlichen Lenkzeit sowie von der Schichtzeit des Fahrers um maximal zwei Stunden sind nur am letzten Arbeitstag einer Woche möglich, "wenn außergewöhnliche Umstände vorliegen und die Straßenverkehrssicherheit nicht gefährdet wird", um zum Wohnort oder zu der zuständigen Betriebsstätte zu gelangen. Dies allerdings nur unter folgenden Voraussetzungen: Bis zu eine Stunde länger darf ein Trucker gemäß dem ersten EU-Mobilitätspaket fahren, um an den gegenannten Orten eine Wochenruhezeit zu verbringen - egal, ob verkürzt oder regulär. Bis zu zwei Stunden länger darf er unterwegs sein, um dort seine regelmäßige Wochenruhezeit zu verbringen. "In dem letzteren Fall muss der zusätzlichen Lenkzeit von zwei Stunden direkt eine Fahrtunterbrechung von 30 Minuten vorausgehen", erläutert Horwarth. Die Regelung, dass nach spätestens 4,5 Stunden Lenkzeit mindestens 45 Minute Pause eingelegt werden müssen, bleibt davon abgesehen gültig. "Hier muss man also auf die Umstände achten", mahnt er. Es handelt sich in jedem Fall nicht um einen Freifahrtschein: Der Verkehrsunternehmer muss die aktuelle Verkehrslage und Staus oder auch Wartezeiten an der Laderampe bei der Disposition einkalkulieren und die Routen so planen, dass der Fahrer auch unter normalen Bedingungen rechtzeitig zurückkehren kann. Kommt es durch solche Situationen zu Verzögerungen, sind das aus Sicht des Sachverständigen des Schulungs- und Beratungsunternehmens SBS in der Regel nicht automatisch außergewöhnliche Umstände, bei denen die Ausnahme greift. Anders wäre das unter anderem bei einem technischen Defekt, Extremwetter oder Unfall. "Es ist auch zu prüfen, was zumutbar ist - etwa, ob man den Fahrer ablösen könnte", sagt er. Weitere Krux: Die Entscheidung, ob er die Ausnahme in Anspruch nimmt, kann nur der Fahrer treffen. Er haftet deshalb auch dafür, wenn es zum Beispiel in dieser Zeit wegen Übermüdung zu einem Unfall kommt. Wichtig ist darüber hinaus: "Jede Verlängerung der oben genannten Lenkzeit muss durch eine gleichwertige Ruhezeit bis zum Ende der dritten Folgewoche ausgeglichen werden", so Horwarth. Mythos 5: Auf Fähre/Zug darf man auch die Wochenruhezeiten unterbrechen Auch hierzu sagt Horwarth: "Ja, aber ...": Reduzierte und regelmäßige Wochenruhezeiten dürfen im begleiteten Kombinierten Verkehr auf einer Fähre oder einem Zug jetzt unter ganz bestimmten Voraussetzungen bis zu zweimal für insgesamt eine Stunde unterbrochen werden, um darauf und wieder herunter zu fahren. Das bringt Flexibilität in die Disposition. "Denn bisher war in solchen Transport-Situationen nur die Unterbrechung der regelmäßigen Tagesruhezeit von elf Stunden erlaubt", erinnert der Fachmann. Während der Zeit an Bord von Fähre oder Zug muss der Fahrer den digitalen Tachografen auf "Fähre/Zug" stellen. Diese Neuregelung aus dem ersten EU-Mobilitätspaket ist seit dem Sommer für die regelmäßige Wochenruhezeit dann anwendbar, wenn die geplante Reisedauer mit Fähre beziehungsweise Zug acht Stunden oder mehr beträgt und der Fahrer durchgehend Zugang zu einer Schlafkabine hat. In der Lkw-Kabine zu übernachten, ist bei 45 Stunden und mehr verboten. Bei der reduzierten Wochenruhezeit muss dem Fahrer zumindest eine Schlafkoje oder ein Liegeplatz zur Verfügung stehen, will er sich auf die Ausnahme berufen. "Wie beim Verbot zum Übernachten im Lkw sind die Begriffe für die vorgeschriebenen Unterkünfte leider nicht genauer definiert, was problematisch werden könnte", betont der Experte Olaf Horwarth. ...... In Kürze Obwohl das erste EU-Mobilitätspaket schon vor ein paar Monaten in Kraft getreten ist, kennen noch nicht alle Transport- und Speditionsunternehmer die Neuregelungen. Dabei können sie sich angesichts der Tragweite der Reformen eigentlich keine Wissenslücken leisten. Online Umfassend informiert Auf dem Profiportal VR plus können sich Abonnenten über alle rechtlichen Neuerungen aus dem ersten EU-Mobilitätspaket informieren. Unter dem entsprechenden Suchbegriff finden sie etwa eine Übersicht aller Änderungen, die zwischen 2020 und 2026 in Kraft treten.Zudem gibt es dort einen Kurs zu dem Thema. Mit dem Transport-Trainer lernen Verkehrsunternehmer, welche Auswirkungen das EU-Mobilitätspaket auf die Praxis hat und was für Vorschriften zu beachten sind. agwww.verkehrsrundschau.de/plus/mobilitaetspaket

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