Komplett entgleist

2,517 Millionen Lkw fuhren im Jahr 2018 über die Brenner-Autobahn. Im Vergleich zu 2010, als 1,9 Millionen Lkw die Route nutzten, ist die Steigerung enorm und das bedeutet eine große Belastung für die Bevölkerung. "Das ist schon brutal mit den Lkw dort. Das ist komplett entgleist", fasst Karl Fischer die Entwicklung entlang der A 13 zusammen. Fischer ist Geschäftsführer des Logistik-Kompetenz-Zentrums (LKZ) in Prien und befasst sich intensiv mit Güterverkehrsthemen rund um den Alpentransit. Nachdem das Land Tirol immer mehr Verbote gegen die Transit-Lkw verhängt hat (siehe VR 30/2019, Seite 20), hat Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) schnell reagiert und einen Brenner- Gipfel einberufen. Dieser hat einen 10-Punkte-Plan beschlossen (siehe auch Kasten Seite 29). Ein ganz wesentliches Element darin, vielleicht sogar der Schlüssel zur Lösung des Problems, ist die Verlagerung von Transporten von der Straße auf die Schiene. Doch wie realistisch sind die dort aufgelisteten Maßnahmen? Bahnexpertin Maria Leenen, CEO des Beratungsunternehmens SCI Verkehr, bewertet es grundsätzlich positiv, dass man mit dem 10-Punkte-Plan versucht, eine Lösung für eine zeitnahe Verlagerung zu schaffen. Damit spielt sie auf den Ausbau der rollenden Landstraße (Rola) an. Laut dem Papier will man die Kapazität von derzeit 206.000 Lkw pro Jahr bis zum 1. Januar 2021 auf 450.000 Lkw erhöhen. Leenen hegt jedoch Zweifel, ob diese Kapazitätsauslastung erreicht wird. Zudem gibt sie zu bedenken: "Mehr Lkw auf die Schiene zu bringen gelingt nur, indem man dieses System subventioniert." Das sei kein nachhaltiger Umbau. "Wenn die Förderung wegfällt, werden die Lkw wieder auf der Straße fahren", prognostiziert sie. Dass es gute Gründe für Leenens Skepsis gibt, belegen die Zahlen der Rola am Brenner. Deren Auslastung liegt laut der Österreichischen Bundesbahn (ÖBB) bei 82 Prozent. "Das Gesamtaufkommen wird bis Ende 2019 unter 140.000 Lkw betragen", so ein ÖBB-Sprecher gegenüber der VerkehrsRundschau. Ein Minus gegenüber dem Vorjahr von 13 Prozent. Hinzu kommt, dass mit der Rola Trassen für die langströmigen KV-Verkehre verloren gehen. "Für 2019/2020 meldet der Korridorbetreiber zehn Trassen pro Tag und Richtung", sagt Leenen, was insgesamt 20 Zügen entspricht. Leenen würde bevorzugen, den klassischen KV stärker zu fördern. "Wir plädieren für den KV im Gleisanschluss", sagt sie, also eine Kombination des Einzelwagenverkehrs mit dem KV. Als weitere Maßnahme des 10-Punkte-Plans wird die Erweiterung der Terminals in München-Riem und in Regensburg genannt sowie der Neubau einer Umschlaganlage im Raum München. Zumindest in München ist eine solche Maßnahme notwendig: "Wir arbeiten in München an der Kapazitätsgrenze", teilt eine Sprecherin von DB Netz mit. Derzeit würden Erweiterungsmöglichkeiten am vorhandenen Standort geprüft und bezüglich der Machbarkeit bewertet. Kein Platz in München für einen Ausbau Doch so leicht wird der Ausbau nicht werden. Karl Fischer ist skeptisch, weil es um das Terminal kaum noch Flächen gibt. In Regensburg hingegen sei eine Erweiterung möglich. "Aber wenn man sich die Verkehrsströme über den Brenner ansieht, führen die nicht gerade nach Regensburg", so Fischer. Der Ausbau dort sei notwendig für die Aufnahme weiterer Seehafenhinterlandverkehre. "Optimale Standorte für die Italien-Route per Bahn wären jedoch München, Nürnberg oder Hof", sagt Fischer. Für Regionen wie München, wo es schwierig ist, Flächen zu finden, plädiert Fischer für eine neue Technik, das BrecoHub. Dabei handelt es sich um einen 1,5 Kilometer langen Strang neben dem Hauptgleis. Dort sollen KV-Züge neu zusammengestellt werden, um so die derzeitige Auslastung von 80 Prozent auf annähernd 100 Prozent zu erhöhen. Laut Fischer könnte man so pro Jahr immerhin 240.000 Lkw-Sendungen zusätzlich aufnehmen. Doch wie bei allen Infrastrukturmaßnahmen benötigt man selbst für diese abgespeckte Variante das, was man in Tirol nicht hat: Zeit. "Wenn alles optimal läuft, braucht man für den Bau eines solchen Hubs fünf Jahre", erklärt Fischer. Bis auf die umstrittene Rola gibt es also keine Maßnahme, die akut wirkt. Fischer kann dem Ergebnis des Gipfels dennoch etwas Positives abgewinnen: "Das Schöne an dem 10-Punkte-Plan ist, dass jetzt Druck reinkommt in das Thema Verlagerung." Mehr zum Thema finden Sie im Dossier "Österreich" www.verkehrsrundschau.de/dossiers In Kürze Wenn es um die Verkehrsüberlastung auf Transitstrecken geht, dann wird von der Politik schon reflexartig die Bahn als Hoffnungsträger in den Vordergrund gerückt. So auch im Alpentransit. Dort könnte die Rola tatsächlich zahlreiche Lkw von der Straße holen. Dennoch beurteilen Experten diesen Schritt skeptisch. Löst das Lkw-Leitsystem 2.0 tatsächlich die Blockabfertigung ab? Die Blockabfertigungen und die Sperrungen von Ausweichrouten entlang der Brenner-Autobahn haben das Fass zum Überlaufen gebracht: Angesichts kilometerlanger Staus sah sich Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer genötigt, einen Brenner-Gipfel einzuberufen, mit den beiden Verkehrsministern aus Bayern und Österreich, Hans Reichhart und Andreas Reichhardt, sowie dem, Tiroler Landeshauptmann Günter Platter. Herausgekommen ist ein Zehn-Punkte-Papier. Neben der Verlagerung von Transporten auf die Bahn gehört als eine Maßnahme ein intelligentes Lkw-Leitsystem 2.0 dazu. Es ist als ein Instrument im Gespräch, das die Blockabfertigung ablösen könnte. Doch nach allem, was man dazu weiß, muss man einen solchen Effekt bezweifeln. Denn letztlich soll es sich "nur" um ein Leitsystem handeln, das den Stau anzeigt und Ausweichmöglichkeiten anbietet. Aber schon heute kennen die Speditionen die Tage der Blockabfertigungen und weichen dennoch nicht auf andere Routen aus. cd