Zu stark für diese Welt?

Wir sparen uns die Sinnfrage nach 625 PS und akzeptieren, dass Daimlers neuer Motor neben den Schwerlastzugmaschinen auch konventionelle Sattelzüge befeuert - sofern der Kunde das wünscht. OM473 heißt der starke Motor. Mit 15,6 Liter Hubraum hat Daimler ihm gut eingeschenkt. 171 Millimeter Hub - bei 139 mm Bohrung - versprechen üppiges Drehmoment. Und tatsächlich stampft der Sechszylinder aus niedrigen Drehzahlen wie ein Schiffsdiesel und hat keine Mühen, 40 Tonnen zügig in Schwung zu bringen. Doppelturbo mit Technik-Leckerbissen Mercedes spendiert hier Turbocompound, wo ein zweiter Lader über ein Getriebe direkt mit der Kurbelwelle verbunden ist. Das bringt zusätzliche Leistung. Dass diese Technik nur bei Konstantleistungsmotoren richtig passt, tut der Sache keinen Abbruch. Denn das Power-Aggregat arbeitet praktisch nur zwischen 1100 und 1300 Touren! An der unteren Grenze steht das maximale Drehmoment parat - immerhin 3000 Newtonmeter. An der oberen Grenze verfügt der Fahrer bereits über mehr als 540 PS. Um es kurz zu machen: Der 1863er feuert los wie eine von einer Treibladung aus dem Kanonenrohr gefeuerte Kugel. Eingebremst wird nur von zwei Dingen: einer träge arbeitenden Zweischeiben-Kupplung und einer, wohl durch ihre Doppel-Turbo-Technik bedingte zögerliche Gasannahme. Der Fahrer hört aus dem Untergeschoss, dass Powershift die Gänge regelrecht rein- und wieder rausschießt - der eigentliche Gangwechsel dauert kaum länger als einen Wimpernschlag. Bis aber die zwei Scheiben der Kupplung wieder geschlossen sind und die Elektronik wieder Gas gibt, vergeht gefühlt eine halbe Ewigkeit. Abgemildert wird dieser Effekt durch die Vehemenz, mit welcher der Sechszylinder antritt. Trotzdem gibt es weder "jammernde" Reifen noch einen überlasteten Antriebsstrang. Am Ende kaum verwunderlich, dass der Power-Benz eine neue Bestzeit in den Asphalt der VR-Testrunde brennt. Mit fast einem km/h Unterschied deklassiert er den anerkannt starken Scania R 520 - der noch nicht mal sparsam war. Und das ist das Erstaunliche am Daimler: Bei aller Fahrfreude und Leistung zeigt er sich am Ende des Tages als durchaus wirtschaftlicher Hochleistungssportler. Klar kann er nicht mit den Sparfüchsen à la Actros 1843 oder Scania G 410 mithalten. Aber wer in über 600 PS investiert, weiß, dass viele Pferde mehr trinken. Auf die Waage bringt der große Benz 8050 Kilo. Mit üppig ausgestatteter Gigaspace-Kabine, extrem leistungsstarkem Voith-Wasserretarder sowie 400-Liter-Dieselplus 60-Liter-Adblue-Vorrat und Fahrer geht das einigermaßen in Ordnung. Beim Fahren merkt man die vorwiegend auf der Vorderachse lastenden Extra-Pfunde an einem trägeren Einlenkverhalten und etwas mehr Kraftaufwand in der Lenkung. Dafür sind wenig Vibrationen im Volant zu spüren. Weil aber der Motor generell im niedrigeren Drehzahlniveau läuft, vibriert es ein wenig mehr als im 1845-Referenzauto. Durch das höhere Gewicht vorn wird die Federung an der Hinterachse nicht besser. Auf jeden Fall schafft es die Komfortlagerung der großen Kabine, jenen Langstreckenkomfort zu realisieren, den man von einem Fahrzeug dieses Schlages erwartet. Den Namen Gigaspace trägt die große Kabine zu Recht: zwölf Kubikmeter umbautes Volumen, über 1000 Liter Stauraum - leider aber auch ein Einstieg, der zur Kletterpartie ausartet - zumindest aber ein ebener Boden. Sitz- und Lenkradverstellbereich gehen in Ordnung, setzen aber weiterhin keinen Maßstab. Das obere Bett bietet mehr Platz, weil es kürzer, dafür aber breiter ist. Dass in einem LKW dieser Preisklasse Komfortmatratzen extra bezahlt werden müssen, finden wir schade. Die Klimasitze sind vor allem im Sommer eine prima Sache, das Sitzpolster könnte aber etwas weicher sein. Zumindest darf man die einfache Verstellung als beispielhaft ansehen. In der Nacht gefällt der Actros durch ein sehr gutes Abblendlicht und ein noch besseres Fernlicht. Die mandelbeigen Innenmaterialien neigen leicht zum Verschmutzen und das Interieur lässt sich generell nicht so gut reinigen. Wie nicht anders erwartet, macht der GPS-Tempomat "PPC" im Power-Benz eine gute Figur. Mit plus/minus fünf km/h bei gesetzten 85 ist man flott unterwegs und rollt dennoch viel. Auch wenn wir im Grunde genommen Befürworter eines Retarders sind: Man kann sich die Wasser-Bremse im Falle des 1863er sparen und dafür in die Performance-Motorbremse investieren. Die ist optimal ins Bremsmanagement integriert und bringt dank üppigem Hubraum viel Leistung. Auch bei niedriger Drehzahl souverän Sehr gut gelungen ist die Abstimmung der zahlreichen Assistenzsysteme. ESP kommt spät und setzt sanft ein. Eher dynamische Fahrer können mit dieser Charakteristik viel Schwung mitnehmen - ohne dass es gefährlich wird. Der Abstandstempomat arbeitet ebenfalls akkurat. Wer auf maximalen Abstand geht, erfreut sich an einer sicheren Regelung, die es leidlich gut schafft, den Spritverbrauch im Zaum zu halten. Die Konzentration aller Schaltfunktionen auf den rechten Hebel zeigt sich gelungen. Viele Mercedes-Fahrer schätzen auch den optionalen Komfortschlüssel mit seinen zahlreichen Funktionen wie Lichtcheck, Reifendruckkontrolle und noch einer Menge Spielereien mehr. Wenig gelungen sind die Spiegel. Die Gehäuse sind so groß, der Abstand zur A-Säule so klein, dass ganze Transporter im toten Winkel verschwinden. Das ist vor allem in Kreisverkehren problematisch. Dass Daimler bei der Konzeption des Neuen nicht an einen besseren Frontaufstieg, einen besseren Zugang zur Arbeitsplattform sowie eine vernünftigere Anbringung der Kabel und Leitungen hinter dem Fahrerhaus gedacht hat, sind nach wie vor einige der existierenden Mankos. Bei der nächsten Modellpflege wäre es gut, in eine vernünftige Verstellung des Dachspoilers zu investieren. Das Economy-Paket ist so teuer, dass eine Kurbel à la Renault oder DAF drin sein sollte! Apropos Pakete - der Testtruck verfügte über Safety-Pack-Top, Economy-Top und Comfort-Top und damit alles, was gut und teuer ist. Und teuer heißt in dem Fall gut 28.000 Euro! Da bleibt sich Mercedes seit Jahren treu und verdient über die Aufpreisliste. Trotzdem muss man sich überlegen, ob die "Packs" nicht am Ende die bessere Wahl sind. Denn günstiger als die Einzelpreise sind sie unterm Strich letztlich dann doch. Wer auf den Retarder verzichtet, kann 7000 Euro sparen, auch die Streamspace genügt für die meisten Einsätze. Zudem ist sie aerodynamischer, einen Zentner leichter und ein paar Tausender billiger. Das Ersparte wäre in einer automatischen Klimaanlage gut angelegt. Teuer, aber eine Wohltat für gestresste Fahrer ist der Klimasitz mit Massagefunktion, die einen tatsächlich angenehm durchknetet! Seine Berechtigung hat der 1863er in jedem Fall. Es war schon mal viel unvernünftiger, so ein Auto zu fahren. Insofern sparen wir uns auch am Ende des Tests die Sinnfrage. Dumm nur, dass der Power-Benz in Deutschland bei all den Überholverboten meist nur einen Bruchteil seines Potenzials ausspielen können wird ... Test mit Referenz-Lkw Testen wie die Industrie Jeden VR-Profi-Test begleitet der redaktionseigene New Actros 1845 mit Kögel-Curtainsider (40 Tonnen). Mit dieser Kombination haben wir unter Normalbedingungen (windstill, trocken, 20 °C) Basiswerte für die Verbrauchsmessung erfahren. Ändern sich bei der Testfahrt die äußeren Bedingungen durch Wind, Regen oder Temperatur, ändert sich auch der Verbrauch des Referenz-LKW. Um diese Abweichung können wir die Verbrauchswerte des jeweiligen Test-LKW korrigieren und schaffen eine Basis, alle Werte unserer Einzeltests vergleichbar zu machen. Da die Messwerte je nach Witterung um bis zu zehn Prozent abweichen, halten wir eine vergleichende Darstellung ohne Referenz-LKW für nicht legitim. gg Der Actros im TÜV-Urteil Wartung und ServiceServiceintervall (max. 100) 100Abfahrtskontrolle (max. 90) 77Servicearbeiten (max. 80) 67Fahrerfreundlichkeit (max. 90) 59Kleinreparaturen (max. 70) 56Gesamtpunkte: (max. 430) 359Detaillierte Ergebnisse unter www.verkehrsrundschau.deLanges ServiceintervallAuch mit dem OM473 bleibt Mercedes bei einem Wartungsintervall von 150.000 km - überlagert von der Empfehlung des Wartungsrechners. Der Partikelfilter hält rund 450.000 km. Bei der Abfahrtskontrolle erledigt viel der Bordrechner, der generell mit einem reichhaltigen Menü, vor allem aber einfacher Bedienbarkeit gefällt. Treten Fehler auf, bekommt der Fahrer in den meisten Fällen eine Klartextmeldung. Für zahlreiche Servicearbeiten (Kraftstofffilter tauschen, Kühlwasser nachfüllen, Luftfilter wechseln, Lenköl nachfüllen, Kupplungshydraulik prüfen) muss man das Fahrerhaus kippen. Reifenfüllanschluss und Handpumpe verstecken sich im Rahmen. Das Abnehmen der Seitenverkleidungen sowie die Erreichbarkeit des Lufttrockners könnte man verbessern. Das Fahrgestell des Mercedes ist wartungsfrei, regelmäßiges Abschmieren kann also unterbleiben. Zu achten ist auf den Kabelstrang zwischen Fahrgestell und Motor - der bereitet am Durchgang schon mal Ärger. gg

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