Wir sind die Neuen

Lean, disruptiv, innovativ: So manches etablierte Unternehmen bewundert Startups. Doch vielen bereitet die Agilität, ja fallweise Aggressivität, mit der die neuen Anbieter seit Mitte der 2010er-Jahre in den Logistikmarkt drängen, Sorge. Auch aufgrund der Investorengelder, die in die Newcomer fließen. Jüngstes Beispiel sind die milliardenschweren Deals im ultraschnellen Liefersegment im Herbst 2021 von etwa Gorillas, Flink & Co. Höchste Zeit also für eine Analyse des Logistik-Startup-Marktes. Einordnung nach Leistungsangeboten Der folgende Beitrag fokussiert sich ausschließlich auf Startups mit Bezug zur Logistik, also auf die neuen Anbieter, die Leistungen in Transport, Umschlag, Lagerung erbringen oder aber wesentlich unterstützen. Eine erste Einordnung nach Kategorien ermöglicht die Netzdarstellung (siehe Grafik 1, S. 40). Es handelt sich um eine Anzahl von rund 270 Logistik-Startups, die ihre Leistungen im deutschsprachigen Raum in Zentraleuropa anbieten. Die Unternehmen in der Netzdarstellung können mit ihren Leistungsangeboten je einer oder mehreren Kategorien zugeordnet werden, die im Netzwerk als Knoten eingefügt sind. Diese Knoten sind "Urban/ Last Mile", "Surface Transport", "Contract/ Intra Logistics", "International Forwarding", "Bulk/Terminal Logistics", "Supply Chain Management" und "Others". Die Darstellung der Startups orientiert sich also an den wesentlichen Tätigkeitsfeldern in der Logistikwirtschaft. Wobei die Startups, die dem "Supply Chain Management (SCM)" zugeordnet sind, vor allem durch eine übergeordnete Perspektive gekennzeichnet sind. Als Beispiele können die Anbieter Project44, Oceaninsights, Evertracker und Riskmethods genannt werden, die vor allem Transparenz entlang der Transport- und Wertschöpfungsketten versprechen. Mehr Neugründungen als Austritte Die Daten des Netzwerkgraphen stammen von Mitte 2021. Verglichen mit den Daten aus Mitte 2019 zeigt sich folgende Entwicklung: 14 Prozent der Startups, die in der Stichprobe in 2019 erfasst worden waren, mussten aufgeben. Die Zahl dieser Geschäftsaufgaben wurde jedoch durch neue Anbieter, die in die Stichprobe 2021 aufgenommen wurden, deutlich überkompensiert mit der Folge, dass die aktuelle Stichprobe um 17 Prozent auf 270 Startups (2019: 233 Unternehmen) angewachsen ist. Am deutlichsten ist die Zahl der Startups in den Bereichen Surface Transport (ein Plus von 35 Prozent zusätzlich zugeordneter Anbieter 2021/2019) und SCM (ein Plus von 200 Prozent zusätzlich zugeordneter Anbieter 2021/2019). Zusätzlich erfuhren beide Bereiche in jüngster Vergangenheit erhöhte Aufmerksamkeit. So stieg Sennder im Bereich "Surface Transport" Anfang 2021 zum ersten deutschen Logistik-Startup-Einhorn auf. Und bei diesem einen Startup-Unicorn blieb es nicht. Denn die Corona-Pandemie ist bislang eher durch gestiegenes Investitionsvolumen gekennzeichnet denn durch Investitionsstau. Dies haben auch weitere Investments gezeigt, etwa in Gorillas (Same-Hour-Food-Lieferant) und Forto (International Forwarding-Plattform), die in 2021 deshalb zu weiteren Einhörnern aufsteigen konnten. Im Bereich SCM sind vor allem Startups zugeordnet, denen durch ihre "Transparenzversprechen" eine gestiegene Bedeutung zukommt, weil Transparenz ein Baustein auf dem Weg zu resilienten Versorgungsketten ist. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Corona-Krise ist das ein tagesaktuelles Thema. Partner oder Wettbewerber Eine weitere Unterscheidung der Logistik-Startups kann anhand der Unternehmenstypen vorgenommen werden. Wird zum Beispiel eine Leistung selbst erbracht (auch rechtlich), kann ein Logistik-Startup ein Logistikdienstleister und direkter Wettbewerber von etablierten Firmen werden wie etwa Sennder, Forto oder Instafreigt. Handelt es sich um Vermittlungsplattformen, die nicht selbst die Rolle des rechtlichen Anbieters übernehmen, sondern Anbieter und Nachfrager zusammenbringen, dann fungieren diese nicht im herkömmlichen Sinn als Logistikdienstleister, sondern als Unterstützer oder Lieferant etablierter Player, etwa Pamyra oder die genannten Beispiele aus dem Bereich SCM. Warum aber ist diese Unterscheidung so wichtig? Weil nur ein vergleichsweise kleiner Anteil der geschätzten rund 350 Logistik-Startups, die im deutschsprachigen Raum Leistungen bieten, wirklich als Logistikdienstleister fungieren. Sehr viele der jungen Unternehmen offerieren hingegen eine Dienstleistung oder Technologie, die Logistikleistungen unterstützt, ohne dass sie damit zu Wettbewerbern etablierter Anbieter werden. Die aus Sicht von europäischen Logistikdienstleistern interessantesten Logistik-Startups sind in der folgenden Wortwolke aufgezeigt (siehe Grafik 2, S. 43). Die Unternehmensnamen wurden im Rahmen der jährlichen Erhebungen für die aktuelle europäische Ausgabe der "TOP100 in European Logistics"-Marktstudie durch das Fraunhofer IIS erhoben. In größeren Schriftgraden sind Startups dargestellt, die mehrmals durch die befragten Logistikunternehmen genannt wurden. In den kleinen Schriftgraden sind die dargestellt, die je einmal genannt wurden. Die rund 60 Unternehmen enthalten nicht nur pure Startups, die sehr jung sind. So werden mit Timocom und Transporeon bereits etablierte Player ebenfalls als innovative Startup-ähnliche Unternehmen eingeschätzt. Auf dem Weg zu Einhörnern Die Frage, welche Unternehmen zu einem Einhorn werden können, ist spannend, kann aber nicht sehr belastbar geführt werden. Letztlich fehlen verlässliche Me triken (Gesetzmäßigkeiten - Anmerkung der Redaktion), um den künftigen Erfolg eines Startups messen zu können. So hängt der Wert eines Startups stark von der Einschätzung der Investoren und deren zugeschossenen Investitionssummen ab, die auch falsch liegen können. Außerdem finanzieren sich auch Startups nicht ausschließlich über Investorenkapital und können auch ohne Einhornstatus zu erfolgreichen etablierten Unternehmen werden. Dennoch bleibt es spannend, zu beobachten, welche Startups hohe Investments erhalten. Die Lieblinge der Investoren Zu rund der Hälfte der Startups in der Wortwolke konnten die Investments ermittelt werden, die in Summe auf etwas über sieben Milliarden US-Dollar kommen. Rund 56 Prozent davon entfallen auf Plattform-Geschäftsmodelle. Am prominentesten sind hier die digitalen Speditionen Sennder, Flexport und Forto sowie Plattformen der urbanen Logistik wie Gorillas. Weitere rund 40 Prozent des Kapitals flossen in Robotik (Auto-StoreLogistics, Attabotics, Magazino). Der übrige Anteil ist Geschäftsmodellen im Bereich des Internet der Dinge zuzuordnen (Wearables von Proglove; Sensorik und IOT-Plattform von Nexxiot). Die Kategorien Plattform und Robotik sind je auf ihre eigene Weise kapitalintensiv. Robotik kann erst durch wesentliche Anschubinvestitionen zu serienreifen Produkten entwickelt werden. Plattformen müssen viel Geld in die Entwicklung stecken und mindestens ebenso viel in den Vertrieb, damit die Marktplätze Erfolg haben können. Wie viel Investorenkapital die Startups bislang eingesammelt haben, zeigt die Übersicht auf Seite 42 des US-Datenbank-Anbieters Crunchbase. Gelistet sind hier 17 Startups aus der Wortwolke, für die ein eingeworbenes Gesamtkapital von mindestens 30 Millionen US-Dollar ermittelt wurde. Die ersten sechs gelisteten Startups bis Anbieter Bringg haben bereits Einhornstatus. Die darauf folgenden Unternehmen bis Rang zehn (Movinga) sind mit einer einzelnen weiteren Finanzierungsrunde durchaus in der Lage, ebenfalls Einhornstatus zu erlangen. Hinweis: Eine festgeschriebene Regel für die Bewertung gibt es nicht, weil diese immer im Ermessen der Investoren liegt. Aber zieht man die rund 185 Millionen US-Dollar heran, die Bringg den Einhornstatus erzielen ließen, liegt die Bewertung hier beim 5,5-fachen des in Summe investierten Kapitals. Bei Sennder lag dieser Faktor etwas niedriger mit einer rund vierfachen Bewertung bei einem Investment von rund 260 Millionen US-Dollar zum Zeitpunkt, als Sennder Einhornstatus erlangte. Auch diese Übersicht zeigt, dass nur ein kleinerer Teil der Startups tatsächlich als Logistikdienstleister fungiert und so den Status eines Wettbewerbers etablierter Unternehmen in diesem Segment erlangt. Es handelt sich um Startups aus dem Bereich der Plattformanbieter (vor allem Flexport, Sennder, Instafreight, Forto, Movinga). Vor allem die Robotik-Startups sind Technologieanbieter für die Lagerstandorte von Logistik-, Industrie- und Handelsunternehmen. Sie sind also nicht Wettbewerber, sondern Partner oder Unterstützer etablierter Player der Logistik. Blick in die nahe Zukunft Der im Beitrag skizzierte Ansatz zeigt, dass einige weitere Logistik-Startups die Schwelle zum Einhornstatus in nächster Zukunft überschreiten können. Investorenkapital ist aktuell (Stand November 2021) vorhanden und wird dazu beitragen. Auch ein schnelles Wachstum von derzeit weniger bekannten Namen ist denkbar. Zudem hat der schnelle Aufstieg von Gorillas zum Einhorn gezeigt, dass der Markt für Überraschungen gut ist. Einige Startups werden auch den Schritt zu ernst zu nehmenden Marktteilnehmern im Logistikmarkt schaffen. So berichtet Sennder, in bestimmten Tätigkeitsfeldern bereits profitabel zu agieren, und verfolgt zudem ambitionierte Ziele im europäischen Landverkehr. In Ranglisten der größten Player (etwa TOP100 Logistik-Studie) sind diese Player zwar noch nicht auf Höhe der etablierten Unternehmen, können aber mittelfristig hier durchaus eine Rolle spielen. Ähnliches gilt zum Beispiel für Flexport und einige andere Anbieter. Der Großteil der Startups ist aber deutlich stärker als Partner denn als Wettbewerber für die bestehenden Logistikunternehmen zu sehen. Darunter fallen alle Technologieanbieter und Pioniere in ganz verschiedenen Feldern, etwa Blockchain, Internet der Dinge, Drohnen, Robotik und Künstliche Intelligenz). "Neue Logistik" Neben einem Technologiefokus, der etablierte Player mit Startups zusammenbringt (Beispiel Fiege/Magazino im Bereich Robotik), wird in Zukunft auch das Thema Daten zunehmend eine Rolle spielen. Während die etablierten Logistikdienstleister hier aus einer sehr physischen Perspektive auf die Logistik blicken (Pakete, Flotten, Mitarbeiter, Standorte, Netzwerke), blicken Logistik-Startups vor allem aus der digitalen Perspektive auf die Logistik (sendungsbegleitende Daten, Algorithmen, Software, Plattformen, digitale Netzwerke, digitale Assets). Der Kondensationspunkt, an dem die beiden Perspektiven sich treffen, sind letztlich die Daten. Diese werden künftig noch mehr zum Ausgangspunkt der Planung, Steuerung, Weiterentwicklung von Geschäftsmodellen in der Logistik. Für Logistikunternehmen entsteht daraus die Notwendigkeit, ergänzend zum Fokus auf den Transport von physischen Paketen, zunehmend auch den Transport von digitalen Paketen, die eine Sendung begleiten, leisten zu können. Sei es aus eigener Kraft oder aber mithilfe von entsprechenden Partnern. In diesem Zusammenhang stehen also die neuen Logistik-Startups für etwas, für das ich die Bezeichnung "Neue Logistik" vorschlagen möchte. Sprich: für neue datengetriebene Geschäftsmodelle zur Ausführung oder wesentlichen Unterstützung der Logistik beziehungsweise logistischer Aktivitäten. Darüber wird in Zukunft sicher noch häufig gesprochen werden. Martin Schwemmer, Senior Consultant Fraunhofer-Arbeitsgruppe für Supply Chain Services SCS Autor: Martin Schwemmer, Senior Consultant Fraunhofer SCS Martin Schwemmer ist Senior Consultant bei der Fraunhofer-Arbeitsgruppe SCS des Fraunhofer IIS in Nürnberg. Seit 2011 ist er Autor der Studienreihe "Die Top 100 der Logistik", die sich zum Standardwerk zur Beschreibung und Analyse der Logistikbranche entwickelt hat. 2021 schloss er erfolgreich seine Promotion zum Erfolg von Logistik-Startups ab. In seiner Funktion bei Fraunhofer SCS leitete Schwemmer zudem diverse Projekte im Bereich Logistics Market Intelligence, ist Autor verschiedener Markt- und Potenzialstudien und ermittelt Marktgrößen, Marktpotenziale und Markttrends für öffentliche und industrielle Auftraggeber. Er ist Mitglied des deutschen Logistik-Expertengremiums "Gipfel der Logistikweisen".

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