Wegbegleiter und Wegbereiter

"Wir sind heute zu Ihnen gekommen ..." - Herr Seiters, bei diesen historischen Worten von Hans-Dietrich Genscher am 30. September 1989 in der Prager Botschaft standen Sie als Kanzleramtsminister neben dem damaligen Außenminister. Welche Gefühle haben Sie heute, wenn Sie die Bilder sehen? Es war sicher einer der bewegendsten Momente meines politischen Lebens: Dieser Blick auf den verschlammten, dunklen Garten mit den 5000 Zuflucht suchenden Menschen, die dort viele Wochen unter schwierigen hygienischen Verhältnissen ausharren mussten. Von daher ist mir die Erinnerung an den Jubel, die Erleichterung, die Hoffnung der Menschen, als die Ausreisefreiheit verkündet wurde, natürlich immer präsent. Sie waren einer der maßgeblichen Unterhändler in den Verhandlungen mit der DDR-Führung. Wie verliefen diese Gespräche, bis das Ergebnis"Ausreisefreiheit" erzielt war? Das erste Gespräch habe ich nach der Schließung der Ständigen Vertretung in Ost-Berlin geführt. Diese war mit 117 Flüchtlingen total überfüllt. Danach füllten sich die Botschaften in Warschau, Prag und Budapest. Das Gespräch mit der Riege alter Männer, die ich in Ost-Berlin vor mir hatte, war äußerst unerfreulich. Es gab überhaupt keine Einsicht. Sie seien diejenigen, die vom Volk geliebt würden. Wir müssten das Problem lösen. Wir brachen das Gespräch nach zwei Stunden ohne Ergebnis ab. Ich bin dann zu den 117 Menschen in die Ständige Vertretung gefahren. Das war unglaublich bewegend und beeindruckend. Wie kam es zum Umschwung bei den Gesprächen? Wir standen auf dem Standpunkt, wir bauen keine Mauern um unsere Botschaften und wir schicken die Menschen auch nicht auf die Straße. Dabei verhandelten wir mit Politikern, die die Realität nicht mehr zur Kenntnis nahmen, die auch nicht sahen, was in Polen und Ungarn an Reformen durchgeführt wurde, die nicht einverstanden waren mit Perestroika und Glasnost von Michail Gorbatschow. Diese Gesprächspartner wurden allerdings immer nervöser, als der Oktober näherrückte und damit die Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR. Ich hatte immer gesagt, die DDR muss wissen, ob sie sich einen Gefallen tut, wenn ihr Jahrestag Anfang Oktober mit den Bildern aus Prag überschattet wird. Ich habe auch gesagt, dass wir zu finanzieller Hilfe bereit sind, aber nicht vor einer Lösung der Flüchtlingsfrage. Diese Punkte waren ausschlaggebend. Denn die DDR wollte unbedingt unsere Devisen. Die Stimmungslage änderte sich auch, nachdem die Ungarn Anfang September 1989 die Grenzen zu Deutschland geöffnet haben. Sahen Sie die Gefahr, dass die Situation eskaliert und die Bruderstaaten zu Hilfe kommen? Das war aus unserer Sicht nicht zu erwarten. Kohl und Gorbatschow hatten sich in Bonn getroffen und in freundschaftlicher Atmosphäre unterhalten. Nach dem Gespräch gab es ein Telefonat von Kohl mit Gorbatschow. Darin wies der Bundeskanzler auf die Absichten der Ungarn hin, die Grenzen völlig zu öffnen. Nach einem Augenblick der Stille sagte Gorbatschow: ,Die Ungarn sind gute Leute'. Wir wussten, dass Gorbatschow bei den Großdemonstrationen in Berlin, Dresden oder Leipzig nie Militär einsetzen oder den Befehl dazu geben würde. Und Honecker würde nicht wagen, ohne Zustimmung von Gorbatschow entsprechend zu reagieren. Im Nachhinein muss man allerdings schon sagen, wir hatten Glück, dass alles friedlich blieb. Wer hätte ausschließen wollen, dass bei diesen Demonstrationen, die die Volkspolizei ja gar nicht kannte, nicht ein verunsicherter Polizist eventuell schießt? Oder, als die Menschen am 9. November massenhaft zu den Grenzübergangsstellen liefen, ein fanatisierter Grenzpolizist falsch handelt? Die Posten wussten ja noch gar nicht, was passiert war: Dass in einer Pressekonferenz ein uninformierter Pressesprecher eine falsche Erklärung abgegeben hatte. Wo waren Sie am 9. November, dem Tag des Mauerfalls? Ich war im Kanzleramt in Bonn. Nach einer Unterbrechung des Bundestages habe ich eine kurze Regierungserklärung verlesen, da der Bundeskanzler - mit Genscher - in Polen auf Staatsbesuch war. Dann sprachen die Vorsitzenden der Fraktionen, danach erhoben sich alle Abgeordneten und sangen die Nationalhymne. Das war noch nicht vorgekommen. Keiner hatte erwartet, dass an diesem Tag die Mauer geöffnet würde. Den Abend haben wir damit verbracht, den Bundeskanzler in Warschau zu informieren. Er war ebenso überrascht wie wir. Was war die Botschaft Ihrer Regierungserklärung? Ich sagte, es sei ein bedeutender Tag in der Geschichte unseres Landes. Praktisch werde die Reisefreiheit für die Bürger der DDR hergestellt. Ich wiederholte, was Bundeskanzler Kohl an anderer Stelle gesagt hatte, dass wir zu umfassender wirtschaftlicher Hilfe der DDR bereit seien - unter der Voraussetzung, dass es freie Wahlen gebe und das Selbstbestimmungsrecht der Menschen garantiert werde. Ich habe an die Bevölkerung appelliert, ein hohes Maß an Solidarität mit unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern der DDR zu zeigen. Dachten Sie damals, dass die Wiedervereinigung so schnell kommt? Der Gedanke an eine schnelle Wiedervereinigung war damals noch nicht präsent. Am 28. November, wenige Wochen nach dem Fall der Mauer, verkündete Kohl im Bundestag seinen 10-Punkte-Plan. Der ging von einer ganz anderen Zeitschiene aus. Er war eine Antwort auf das Angebot der DDR auf Vertragsgemeinschaft und langfristig auf die Wiedervereinigung ausgerichtet. Erst am 19. Dezember waren wir der Überzeugung, wir müssten den Schalter umlegen zu einem operativen Handeln mit Blick auf die Wiedervereinigung. Was war am 19. Dezember passiert? Kohl hatte einen Staatsbesuch in der DDR gemacht und schon auf dem Flugplatz in Dresden die Begeisterung der Menschen erlebt. Wir zogen daraus den Schluss, die Menschen wollten, dass er zu ihnen spricht. Dann ist spontan die Abendveranstaltung organisiert worden mit der Rede vor der Ruine der Frauenkirche in Dresden vor zigtausend DDR-Bürgern. Das Erstaunliche war, dass niemand von der DDR-Regierung dabei war. Man verdrückte sich, weil man offensichtlich nicht den Beifall für Kohl und die Pfiffe für sich selber erleben wollte. In dieser Nacht waren wir überzeugt, es habe überhaupt keinen Sinn, jetzt noch irgendwelche Vereinbarungen mit der DDR-Führung zu treffen. Mit einer Ausnahme: möglichst schnell freie Wahlen herbeizuführen, die es dann am 18. März 1990 auch gab. Wie waren die Reaktionen im Ausland? Der amerikanische Präsident George W. Bush sen. war völlig begeistert. Er hatte von Anfang an hinter der Politik der Bundesregierung gestanden. Der französische Präsident Francois Mitterand war da kritischer gewesen. Da dauerte es, bis er seine Einstellung änderte. Für ihn war es wichtig, dass Gorbatschow nicht beschädigt wird und dass die Grenzfrage zwischen Deutschland und Polen geklärt wird. Die britische Regierungschefin Margret Thatcher war außer sich. Auch andere hatten ihre Vorbehalte. Ich erinnere mich an die Worte des italienischen Ministerpräsidenten Giulio Andreotti. Der hatte gesagt, wir lieben Deutschland so sehr, dass wir am liebsten zwei davon haben. Das war eine weitverbreitete Stimmung, auch in Holland. Macht es Sie stolz, Teil dieser Wiedervereinigung gewesen zu sein? Es war eine unglaubliche Erleichterung und Freude über das, was - und auch ein Staunen, wie schnell es - passieren konnte. Aber wir haben uns auch immer wieder zur Vorsicht gemahnt, keine Erklärung abzugeben, die irgendeine Seite provoziert. Wir haben immer darauf hingewiesen, dass wir das in Freundschaft mit Russland machen möchten und mit den anderen europäischen Staaten selbstverständlich. Wir mussten jeden Tag neue Entscheidungen treffen, innerhalb weniger Wochen liefen die internationalen Gespräche, der Beitrittsantrag vonseiten der DDR musste gestellt werden - nicht zu früh, um in der Außenpolitik keinen Ärger hervorzurufen und auf keinen Fall vor Abschluss der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen. Gibt es Punkte, die Sie im Rückblick anders entschieden hätten? Über einige Dinge ließen die DDR-Vertreter nicht mit sich verhandeln. Zum Beispiel, was die Enteignung von 1945 bis 49 betraf. Sie wollten auch einen Umtauschkurs, der nicht zu sozialen Verwerfungen führt, was ja auch die Haltung Kohls war. Es gab dazu andere Stimmen aus der Bundesbank. Wir wollten aber ein Zeichen der Solidarität setzen, gerade bei den Renten. Unter finanzpolitischen Gesichtspunkten war das kritisch. Politisch gesehen aber richtig. Falsch war eventuell, die Steuern nicht zu erhöhen. Hier hätten wir möglicherweise anders entschieden, wenn wir nicht die katastrophale ökologische und ökonomische Erbschaft der DDR-Führung unterschätzt hätten. Weder wir noch die Geheimdienste oder die Wirtschaftsvertreter hatten dies gewusst. Das ist heute noch unerklärlich. Dazu kam das Auseinanderbrechen der Sowjetunion. Dies hatte zur Folge, dass es von heute auf morgen keine Militäraufträge für die Ostsee-Werften und keinen Auftrag aus dem Ostblock für das Chemie- und Stahldreieck Bitterfeld mehr gab. Es gibt die Meinung, der Westen habe im Osten alles an sich gerissen, was wirtschaftlich halbwegs interessant war. Es gab aus meiner Sicht keine Alternative zur Arbeit der Treuhand. Ich sage nicht, dass jede Entscheidung unbedingt richtig gewesen ist. Aber es ging nicht anders, als die Einrichtungen und Unternehmen der DDR zu sanieren. Ich glaube nicht, dass es heute noch Diskussionen gibt. Sehen Sie sich doch mal um, was aus der DDR geworden ist. Es gibt nicht überall blühende Landschaften. Aber es gibt viele: die Ostseebäder, Leipzig, Dresden, Thüringen. In vielen Bereichen sind die Technologiestruktur, die Infra- und die Verkehrsstruktur besser als in vielen Teilen Westdeutschlands. Ist die Wiedervereinigung für Sie abgeschlossen? Ein Italiener hat letztens gesagt, die deutsche Einheit sei weiter vorangeschritten als die italienische. Natürlich ist der Weg zu einer vollständigen Einheit eines Landes nie abgeschlossen. Es wird auch nie eine absolute Gleichheit der Lebensverhältnisse geben. Das war auch in der Bundesrepublik nie der Fall. Wir haben heute einen unterschiedlichen Standard in den einzelnen Ländern. Deshalb muss der Solidaritätspakt weiterlaufen. Die Frage ist, ob er auf Westdeutschland ausgeweitet werden soll. Auch hier ist der Standard in Ländern wie Bremen oder Schleswig-Holstein anders als in Bayern oder Baden-Württemberg. Andererseits haben in einer Umfrage 93 Prozent der Befragten im Alter von 18 bis 25 Jahren gesagt, sie fühlten sich nicht als West- oder Ostdeutsche, sondern als Deutsche. In der ganzen Welt wird der Prozess, der zur deutschen Einheit geführt hat, als absolut erfolgreich bezeichnet. Das sehe ich auch in meinen Gesprächen mit den Vertretern des Roten Kreuzes und des Roten Halbmonds. Was kann man aus heutiger Sicht aus der Wiedervereinigung lernen? Erstens, wie wichtig es ist, dass die politische Führung ihre Überzeugungen umsetzt und nicht darauf achtet, wie das medien- und umfragemäßig einzuordnen ist. Bestes Beispiel ist der Nato-Doppelbeschluss, den Bundeskanzler Helmut Schmidt nicht durchsetzen konnte. Und der von Kohl dann gegen viel Widerstand in der deutschen Bevölkerung umgesetzt wurde. Wir wissen heute, dass dies einer der wichtigsten Punkte war, der zum Umdenken Moskaus geführt hat. Man muss auch bereit sein, in solchen Fällen ein verantwortbares Risiko zu tragen. Zweitens, dass man Vertrauensverhältnisse zu den handelnden Personen aufbauen muss. Zwischen wem bestand das damals? Es gab ein ausgeprägtes Vertrauensverhältnis zwischen Kohl und Gorbatschow, später auch zu Mitterand und Felipe González, dem Ministerpräsidenten von Spanien, ein hundertprozentiger Freund von Kohl. Kohl hat es verstanden, Vertrauensverhältnisse aufzubauen, zu bestätigen und daran festzuhalten. Er wusste um die wirtschaftlichen und politischen Schwierigkeiten von Gorbatschow, er wusste um die Ängste der Polen, er wusste um die Befindlichkeiten in Frankreich und England. Alle seine Erklärungen und alle Begegnungen waren ein einziges Werben um Vertrauen und das Betonen der Verlässlichkeit seiner politischen Arbeit. Drittens, man darf nie vergessen, was Europa für uns bedeutet. Es war richtig, den osteuropäischen Ländern die Möglichkeit des Beitritts zu eröffnen. Es war auch richtig, ihnen bei der Reformierung ihres eigenen Landes zu helfen. Viele Fragen lassen sich in Zukunft nicht mehr außerhalb einer Europäischen Union lösen. Werden diese drei Punkte von der Politik heute ausreichend bedacht und umgesetzt? Stichwort Griechenland Nach meiner Einschätzung haben sich die Mitglieder der Eurozone einmütig um eine Verständigung mit Griechenland bemüht. Vita Rudolf Seiters Geboren am 13. Oktober 1937 in Osnabrück, studierte Rudolf Seiters Rechts- und Staatswissenschaften in Münster. 1958 gründete er die Junge Union in Bohmte. Von 1972 bis 1998 war er stellvertretender CDU-Landesvorsitzender Niedersachsens, von 1992 bis 98 außerdem Mitglied des Präsidiums der CDU Deutschland. Von 1969 bis 2002 war Seiters Mitglied des Deutschen Bundestags, hier Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion, stellvertretender Vorsitzender der Fraktion und Vizepräsident des Deutschen Bundestags. Am 21. April 1989 wurde er als Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes berufen. Am 26. November 1991 wurde er zum Bundesminister des Innern ernannt. Seit November 2003 ist Seiters Präsident des Deutschen Roten Kreuzes. bb 4.7.89 - Rudolf Seiters (links) wird von DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker zu Gesprächen in Ostberlin empfangen30.9.89 - Hans-Dietrich Genscher (Mitte vor dem Fensterkreuz) verkündet die Reisefreiheit, mit ihm auf dem Balkon der Prager Botschaft ist Rudolf Seiters22.12.89 - Rudolf Seiters, Helmut Kohl und Berlins Bürgermeister Walter Momper auf dem Weg zur Öffnung des Grenzübergangs Brandenburger Tor (von links)

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