Vorfahrt in den Tod

Ein Lkw biegt rechts ab, übersieht ein Kind, das auf dem Fahrrad vorfahrtsberechtigt die Kreuzung überqueren will und überrollt es mit dem rechten Hinterrad. Dem Radfahrer bleibt vor der Kollision kaum Zeit zu reagieren. Wenn überhaupt, merkt er erst kurz vor dem Zusammenprall, in welcher Gefahr er schwebt - oft zu spät. Die Folgen sind dramatisch - auch für den Lkw-Fahrer. Der kann den Radler im toten Winkel nicht sehen. Schulungen hin, technische Hilfsmittel her: Bis heute ist es nicht gelungen, Abbiege- und Totwinkel-Unfälle zu vermeiden. Über die Ursachen und mögliche Lösungswege diskutierten Verkehrsexperten jüngst auf dem Kongress "Kinderunfälle im Straßenverkehr - Ursachen, Folgen, Vermeidung" im westfälischen Münster. Eingeladen hatten die Gesellschaft für Ursachenforschung bei Verkehrsunfällen und die Verkehrsunfall-Opferhilfe Deutschland. Stress beim Abbiegen Die Ursachen liegen in der Natur der Sache: Abbiegen mit Lkw ist alles andere als leicht. Es ist kaum möglich, Verkehrssituation, Verkehrszeichen und andere Verkehrsteilnehmer zeitgleich beim Abbiegen im Auge zu behalten. "Es sind zu viele Informationen, die der Fahrer verarbeiten muss", sagte der Münchener Pädagoge Michael Plewka. Um nur einen kleinen Ausschnitt der Straße sicher zu erfassen, seien zahlreiche Blicke notwendig. Die vielen Lkw-Spiegel würden helfen, sagte Plewka, "aber das braucht Zeit, denn nur ein einziger Spiegel lässt sich fixieren". Hinzu komme, dass Lkw-Fahrer - wie alle Menschen - mit "schwankender Aufmerksamkeit" und "zu starrer Fokussierung" zu kämpfen hätten. Zudem versperren die Wände der Ladefläche, Sattelauflieger oder Kastenaufbauten die Sicht zurück. Der Fahrer muss auch die andere Straßenseite, auf der vielleicht Autos entgegenkommen, im Blick haben, denn ein derart großes Fahrzeug wie ein Lkw benötigt Platz für seine Schleppkurve. Und schließlich muss er daran denken, dass Radfahrer und Fußgänger im toten Winkel verschwinden. Vergisst er das, kann das tödlich enden. Technik, Aufklärung, Infrastruktur Wie kann man Lkw-Unfälle beim Rechtsabbiegen verhindern? Der Deutsche Verkehrssicherheitsrat und die Berufsgenossenschaft für Transport und Verkehrswirtschaft sehen drei Ansatzpunkte: in der Fahrzeugtechnik, in der Aufklärung über Risiken und in der Verbesserung der Infrastruktur. Unternehmer und Fahrer hoffen, dass der sogenannte Abbiegeassistent die Risiken mindern wird. Rechts vom Lkw und vor dem Lkw fahrende Radfahrer soll dieser erkennen, den Fahrer warnen und idealerweise selbstständig bremsen. Radaraugen sehen mehr Zum Beispiel arbeitet Daimler derzeit an einem solchen Abbiegeassistenten, dem "Blind-Spot"-Assistenten. Dabei handelt es sich um ein Radar-Sensormodul, das beidseitig vor der Hinterachse der Zugmaschine angebracht ist und dort die komplette Länge des Zugs beim Rechtsabbiegen - aber auch beim Spurwechsel - überwachen soll. Fährt dort ein Radfahrer, warnt ein optisch-akustisches Signal an der A-Säule des Lkw. "Das Warnsignal wurde so konstruiert, dass es peripher sichtbar ist", sagte Daimler-Entwickler Carsten Barth. "Der eh schon stark geforderte Lkw-Fahrer wäre anderenfalls zusätzlich abgelenkt." Da ein Radarsystem allein nach Barths Angaben nicht in der Lage ist, zwischen stationären und beweglichen Objekten zu unterscheiden, wurde eine Tracker-Software installiert. Diese verfolgt mögliche Bewegungen des Objekts, also etwa die eines Radfahrers. Dadurch piepst das Warnsystem nicht, wenn der Lkw zum Beispiel neben einem Hydranten zum Stehen kommt. Daimlers Abbiegeassistent soll Ende 2016 in Serie gehen. Experten schätzen, dass mit solchen Abbiegeassistenten etwa 70 Prozent der Totwinkel-Unfälle vermieden werden könnten. Ein toter Winkel? Vier! Ein Abbiegeassistent bietet zusätzliche Sicherheit, aber keine hundertprozentige. Deswegen sind vor allem die "schwächeren" Verkehrsteilnehmer gefragt, wenn es darum geht, Totwinkel-Unfälle zu vermeiden. Ihnen hilft Aufklärung über Risiken und über das richtige Verhalten, wenn ein Lkw neben einem Radfahrer zu stehen kommt. Alexander Schröder und Markus Uebel vom Verein Transportbotschafter bieten dazu Totwinkel-Schulungen für Kinder vom dritten bis zum sechsten Schuljahr an. "Der tote Winkel ist größer als man denkt, halbe Schulkassen verschwinden darin problemlos", erklärte Schröder. Erschwerend kommt hinzu: Es gibt nicht nur einen, sondern deren vier. Unmittelbar vor und hinter dem Fahrzeug sowie links und natürlich rechts daneben, wo der tote Winkel beim Rechtsabbiegen besonders gefährlich ist. Drei Tipps, die helfen: Blickkontakt zum Fahrer suchen, weit rechts hinter dem Fahrzeug bleiben und nicht daneben sowie auf die eigene Vorfahrt verzichten und den Lkw erst abbiegen lassen. Trixi-Spiegel an der Ampel Wie kann der Straßenraum gestaltet werden, um Totwinkel-Unfälle zu verbannen? Ist es überhaupt möglich, diesen kindersicher zu gestalten, vor allem da "immer mangelhaftere motorische Fähigkeiten der Kinder" einem "immer wuseligeren Verkehr gegenüberstehen", wie Jürgen Gerlach, Professor für Straßenverkehrsplanung und -technik aus Wuppertal, feststellte. Eine Möglichkeit ist der sogenannte Trixi-Spiegel, ein kleiner Konvexspiegel, der an der Ampel angebracht ist und den toten Winkel beim Abbiegen großer Fahrzeuge reduzieren soll, indem er die Sicht auf Fußgänger und Radfahrer nebenan verbessert. In einem Forschungsprojekt der Technischen Universität Karlsruhe haben fast 90 Prozent der befragten Lkw- und Busfahrer den Spiegel als hilfreich beurteilt. "Wir sollten nicht auf Godot warten, bis wir ein 150-prozentiges System haben, um Totwinkel-Unfälle zu vermeiden", forderte der Münchener Rechtsmediziner Wolfram Hell. "Eine Kombination aus Abbiegeassistenten, Totwinkel-Aufklärung und Trixi-Spiegel könnte dazu einen Beitrag leisten", sagte Hell. Mehr zum Thema im Dossier Verkehrssicherheit www.verkehrsrundschau.de/dossiers

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