Von Geisterhand gefahren

Es bewegt sich was im Lager, eigenständig und wie von Geisterhand gesteuert - es fährt in die Regalanlage und über die Freiflächen. Zukunftskonzepte wie Industrie 4.0 und das Internet der Dinge skizzieren eine Lagerwelt, in der Schwärme von Transportfahrzeugen untereinander kommunizieren, sich mit dezentraler Intelligenz selbst koordinieren und autonom bewegen. Fahrerlos. Ein Teil dieser Zukunft ist bereits heute Gegenwart. Immer öfter werden für das Palettenhandling Systemkonzeptionen mit Fahrerlosen Transportsystemen (FTS) und Kanalfahrzeugen als Alternative zur herkömmlichen Fördertechnik eingesetzt. "Der Bedarf an Automation steigt", sagt Kai Beckhaus, Leiter Portfolio- und Marktmanagement der Sparte Logistiksysteme beim Staplerbauer Jungheinrich. "Dabei ist ein Trend zu autonomen Lösungen erkennbar, denn die benötigten Fahrzeuge werden immer intelligenter und kostengünstiger." "Wer sich mit Materialflussoptimierung und Automatisierung beschäftigt, kommt an Fahrerlosen Transportsystemen nicht vorbei", urteilt Markus Kölsch von der MLR Gruppe, die Fahrerlose Transportsysteme herstellt. Dabei umfasse der Begriff FTS neben den Fahrerlosen Transportfahrzeugen (FTF) auch einen Leitrechner, der die Anlage steuert und die Schnittstelle zur übergeordneten IT bildet, sowie die Installationen zur Navigation und die Ladestationen für die Batterien der Fahrzeuge. Zur Navigation dienen Reflektoren an den Wänden für die Lasernavigation oder im Boden integrierte Magnete für die Magnetnavigation. Hybride lagern und transportieren Marktbeobachter gehen vom Zusammenwachsen beider Technologien, FTF und Shuttle, in naher Zukunft aus. "Hybride Lösungen, die durch die Verschmelzung von FTS- und Shuttle-Lösungen entstehen, sind besonders für mittlere Kontraktlogistikaufgaben geeignet, bei denen ein Dienstleister aus dem Warenbestand des Kunden kommissioniert, Endkundenaufträge versendet und Retouren abwickelt", erläutert Guido Follert, Abteilungsleiter beim Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML) (siehe Interview Seite 42). Lagerhaltung, Kommissionierung und innerbetrieblicher Transport würden auf diese Weise integriert. "Eine Entwicklung des Shuttles über die Begrenzung der Regalanlage hinaus ist bei geringeren Leistungen sicherlich sinnvoll und wünschenswert", bekräftigt Frank Sonnefeld, Mitglied der Geschäftsleitung von Miebach Consulting. "Zumal derartige Anwendungen bei Behälter-Shuttles schon im Einsatz sind." Die Hersteller der Paletten-Shuttles und -FTS, zu denen neben spezialisierten Produzenten von Fahrerlosen Transportfahrzeugen (FTF) inzwischen sowohl die Flurförderzeugehersteller wie auch Unternehmen der klassischen Fördertechnik zählen, urteilen etwas differenzierter. "Was geschieht in der Regalanlage, wenn das Shuttle die Regalanlage verlässt und die Palette im Lagerbereich verfährt?", fragt Elmar Issing, Bereichsleiter New Technologies and Solutions bei SSI Schäfer mit Blick auf die Transfer- und Durchsatzzeiten. "Dann entstehen Wartezeiten im Regal." Dem könne gegebenenfalls mit einer erhöhten Anzahl der eingesetzten Transportfahrzeuge begegnet werden. Doch die seien teuer. Zudem würden sie ab einer gewissen Menge zu temporären Inbalancen zwischen Lager- und Transportbewegungen führen - sich beim Verkehrsfluss im wahrsten Sinne des Wortes gegenseitig ausbremsen. 2XL lässt im FTF transportieren Überdies seien bei der Realisierung solcher hybriden Lösungen, bei denen die gleichen Shuttlesysteme sowohl im Regal als auch bei der Verbringung im Lagerbereich arbeiten, von der Bodenbeschaffenheit und Sicherheitstechnik bis hin zu den Transportmitteln für den Ebenenwechsel in der Regalanlage weitere kostspielige Aspekte zu beachten. Dabei ist es nicht so, dass der Bereichsleiter aus dem vermeintlichen Eigeninteresse eines Fördertechnikherstellers heraus argumentierte. Mit Übernahme der Mehrheitsbeteiligung an dem belgischen FTS-Produzenten MoTuM im Frühjahr dieses Jahres hat SSI vielmehr sein Produktportfolio um das Segment der FTF für Palettentransporte erweitert und FTS-Anwendungen bereits realisiert. So etwa beim Transport- und Logistikdienstleister 2XL aus dem belgischen Zeebrugge. Zwischen Hochregallager (HRL) mit regalgebundenen Palettenshuttles und dem Warenausgangsbereich setzt 2XL eine Flotte von 15 individuell zugeschnittenen FTF-Geräten ein. Die Fahrerlosen Transportfahrzeuge werden von einer zentralen Flottensteuerung geführt und übernehmen mit rund 360 Palettenbewegungen pro Stunde vollautomatisch die Hallentransporte im Konsolidierungslager. Dazu sind direkt am HRL Übergabeplätze eingerichtet, an denen die FTF die Paletten übernehmen beziehungsweise abgeben. In Höhe der Fördertechnik sind die FTF mit einem quer zur Fahrtrichtung laufenden Rollenförderer als Lastaufnahmemittel ausgestattet. Das ermöglicht eine direkte Anfahrt der Übergabeplätze, ohne dass die FTF rangieren müssen. Die Orientierung im Raum erfolgt über Laser. 2XL-Unternehmensgründer Jean Van den Poel ist zufrieden mit der Lösung: "Herkömmlicher Staplereinsatz auf diesen immer gleichen Transportstrecken hat - zumal mit Blick auf die erforderlichen Leerfahrten - unnötig Ressourcen gebunden und viel Zeit gekostet". Die Automation der Transporte durch die FTF ermögliche hohe Durchsätze und biete eine enorme Flexibilität. "Das zeigt, dass sich Automation auch für Logistikdienstleister lohnt", so der Geschäftsführer. Shuttle brauchen viele gleiche Artikel Die aktuell verfügbaren und wirtschaftlichen Lösungen mit automatisierten Palettentransportgeräten entkoppeln, wie das Beispiel 2XL zeigt, die Prozesse in der Regalanlage von den Transporten in der Lagerhalle. "Heutige Installationen von Hochregallagern mit Palettenfördertechnik oder FTS funktionieren auch deshalb gut, weil die Palettenfördertechnik als Puffer dient", urteilt Miebach-Geschäftsleiter Sonnefeld. "Palettenfördertechnik ist wesentlich günstiger als Fahrzeuge, deshalb entscheidet der jeweilige Einsatzfall über die Zukunftsfähigkeit einer kombinierten Lösung." Für die Lagervorgänge im Regal gibt es Regalbediengeräte (RBG) mit herkömmlichem Lastaufnahmemittel oder mit einem Shuttle. Herkömmliche RBG lagern in der Regel ein- oder zweifachtief ein und bieten schnellen Einzelzugriff auf ein breites Artikelspektrum. Shuttlesysteme verbringen die Paletten hingegen vielfachtief in einen Lagerkanal. "Die Entscheidung für RBG mit oder ohne Shuttle ist tendenziell getrieben von dem notwendigen Durchsatz in Verbindung mit der Anzahl der Artikel im Lager", erklärt Sonnefeld. Je geringer, sortenreiner die Artikelvielfalt und je höher die Durchsatzanforderung, desto rentabler der Einsatz von Kanallager und Shuttlesystemen. Ein weiterer Aspekt: Kosteneinsparung. Mit einem Kanallager lässt sich mehr Kapazität in einem vorhandenen Raum schaffen. Daher setzt etwa die Tiefkühlbranche immer öfter auf Kanallager mit Shuttle-Systemen (siehe Tabelle Seite 41). FTS lieben die Langstrecke Die Entscheidungsgründe hinsichtlich klassischer Fördertechnik oder FTS für die innerbetrieblichen Transporte sind geprägt von Durchsatzanforderungen, gewünschter Flexibilität und durchaus auch dem Artikelspektrum. "In der Produktion, bei Herstellern, sind Automation und der Einsatz von FTS wegen der gleichen Chargen deutlich verbreiteter als bei Logistikdienstleistern", erklärt Jungheinrich-Mann Beckhaus. "Gerade für einfache Transporte, lange Transportwege ohne allzu hohen Durchsatz, komplexe Quell-/Zielmatrixen mit vielen Auf- und Abgabestationen bieten FTS gegenüber konventioneller Fördertechnik Vorteile", sagt Berater Sonnefeld. Verglichen mit der bewährten aber fest installierten, raumteilenden Fördertechnik ermöglicht der Einsatz von FTF eine flexible Streckenführung und eine Anpassung der Durchsatzleistung exakt an den Bedarf. "Streckenänderungen und Erweiterungen sind mit einem FTS schneller und leichter zu realisieren als mit konventionellen Fördertechniken oder Regalbediengeräten", ergänzt MLR-Experte Kölsch. "Die frei beweglichen Fahrzeuge nutzen die vorhandenen Flächen und Wege und blockieren keine zusätzlichen Lagerflächen." Vor diesem Hintergrund haben FTF- und Stapler-Hersteller damit begonnen, dem Markt mit automatisierten Standardfahrzeugen attraktive Einstiegslösungen für FTS anzubieten. So hat MLR für den Logistikdienstleister DSV bei Amsterdam ein Hochregallager mit 30.000 Stellplätzen für den Betrieb mit FTS ausgestattet. Sechs automatisierte Schmalgangstapler lagern dort über Magnetnavigation gesteuert selbstständig pro Stunde bis zu 160 beladene Paletten ein und aus. Die nur 1,50 Meter breiten Stapler können mit ihrem Hubmast Lasten bis zu 1,3 Tonnen auf 10,50 Meter heben. Die exakte Übergabehöhe wird dabei per Laserscanner justiert. Für derartige Lösungen hat MLR ein Nachrüst-Kit entwickelt, mit dem sich Schmalgangstapler in wenigen Schritten automatisieren lassen. Linde Material Handling hat im FTF-Segment gegenwärtig einen automatisierten Hochhubwagen und einen automatisierten Schlepper im Markt. In Kürze, so der Hersteller, sollen ein Hochhubwagen mit höherer Tragfähigkeit und ein Gegengewicht-Hochhubwagen folgen, mittelfristig ein Schubmaststapler und Schmalganggeräte. "Die automatisierten Geräte können unabhängig von Arbeitszeitvorgaben flexibel eingesetzt werden und helfen, mögliche Fehlbedienungen sowie damit zusammenhängende Unfallrisiken zu vermeiden, und sie tragen zu geringeren Personalkosten bei", erklärt Heike Oder von Linde Material Handling. Ob getunter Stapler oder eigens entwickeltes Shuttle, die von Geisterhand gesteuerten Systeme sparen den Fahrerlohn. Mehr zum Thema finden Sie im Dossier FTS www.verkehrsrundschau.de/dossiers

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