Sicherheitstechnik im Brennpunkt

Das Unglück ereignet sich Anfang Februar auf der Autobahn 5 nahe dem Autobahnkreuz Walldorf: Ein Lkw-Fahrer kann nicht rechtzeitig bremsen und schiebt mit seinem Sattelschlepper zwei Autos unter einen weiteren Lastwagen, die auf der rechten Spur gehalten hatten. Bei dem Unfall am Stauende sterben vier Menschen. Bisher ist ungeklärt, ob der automatische Bremsassistent im Unfall-Lkw nicht richtig funktioniert oder der Fahrer die Sicherheitstechnik ausgeschaltet hat, weil er vom Piepton genervt war. Auffahrende Lkw machen ein Fünftel aller schweren Lkw-Unfälle in Deutschland aus. Leider häufen sich diese in letzter Zeit (siehe Kasten auf Seite 13). Allein in Baden-Württemberg kamen 2017 insgesamt 111 Menschen bei Crashs mit Lkw-Beteiligung ums Leben. Dies entspricht einem Plus von 20,7 Prozent gegenüber 2016. Auch andere Bundesländer schlagen Alarm, weil der Schwerlastverkehr vermehrt für Negativschlagzeilen sorgt. Notbremsassistent soll aktiv bleiben Daher macht sich Baden-Württemberg nun dafür stark, dass die Bundesregierung auf EU-Ebene endlich schärfere Vorgaben zum Einsatz von Notbremsassistenten durchdrückt. Es sei nicht nachzuvollziehen, dass Lkw zwar mit solchen Sicherheitssystemen ausgerüstet sein müssen, diese aber manuell wieder ausgeschaltet werden können, erklärte der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl (CDU). In Abstimmung mit dem Verkehrsminister des Landes, Winfried Hermann (Grüne), will Strobl im zweiten Quartal eine Bundesratsinitiative einbringen, damit sich Deutschland bei den Vereinten Nationen (UN) engagierter für rechtliche Änderungen einsetzt. Notbremssysteme in Lkw sollen ab einer Mindestgeschwindigkeit von 30 Stundenkilometern idealerweise dauerhaft aktiv sein oder sich bei einer Abschaltung nach einem Zeitraum von zwei Minuten automatisch wieder aktivieren. Für neue Lkw ab acht Tonnen sind Notbremsassistenten unionsweit seit Ende 2015 vorgeschrieben. Die Genehmigungsstufe eins sieht vor, die Geschwindigkeit um zehn Kilometer pro Stunde zu verringern. Ab November 2018 wird die Anforderung auf neue Lkw ab 3,5 Tonnen auf 20 Stundenkilometer erweitert. In der Regel erfüllen serienmäßig verbaute Notbremsassistenten die Anforderungen der künftigen Genehmigungsstufe zwei schon. "Der Notbremsassistent ist in 70 Prozent aller Lkw auf deutschen Straßen schon eingebaut", schätzt Andrea Marongiu. Er ist Geschäftsführer des Verbandes Spedition und Logistik Baden-Württemberg. Das System könne einen Lkw von Tempo 80 auf 60 verlangsamen und schließlich zum Stillstand bringen. Ohne Vorschrift sei es aber dem Fahrer überlassen, ob er den Assistenten einschalte oder nicht. Marongiu fordert, dass die Politik handelt. "So ließen sich bis zu drei Viertel aller tödlichen Auffahrunfälle vermeiden", glaubt er. Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV), ist skeptischer. "Wir schätzen, dass 75 Prozent der Fahrzeuge, die zurzeit auf deutschen Straße fahren, den Notbremsassistenten noch nicht eingebaut haben", sagt er. Denn die in der EU ausgemusterten Lkw haben nach seiner Erfahrung ein zweites Leben in Osteuropa und fahren anschließend auf deutschen Straßen weiter. Der Experte geht bei einem Lkw im grenzüberschreitenden Verkehr von einer Lebensdauer von acht bis zehn Jahren aus. Das bedeute, so Brockmann, dass es noch mindestens bis 2023 dauern könnte, bis alle Lkw in Deutschland mit dem Notbremsassistenten der ersten Generation ausgestattet sind. Der UDV-Leiter verlangt, dass die Wirksamkeit von Notbremssystemen deutlich erhöht werden muss: "Auch auf stehende Fahrzeuge muss die Kollision vollständig vermieden werden, und das System darf durch den Fahrer nicht dauerhaft deaktivierbar sein." Vereinte Nationen müssen entscheiden Die Forderung ist an die Bundesregierung nicht neu: Um die Zahl von Auffahrunfällen von Lkw auf stehende Fahrzeuge weiter zu senken, hatte sich der Bundesrat bereits im November 2016 für eine Anpassung und Erweiterung der UN-Regelung zu Notbremsassistenten und Abstandswarnern ausgesprochen. Die Länder forderten, die rechtlichen Vorgaben so anzupassen, dass diese Geräte optimal eingesetzt werden können. Die Bundesregierung sollte eine Änderung der entsprechenden europäischen Verordnungen an die aktuellen technischen Möglichkeiten bewirken. Passiert ist allerdings wenig: Der ehemalige Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) reagierte erst Monate später nach einem schweren Busunglück auf der A 9 mit 18 Toten und vielen Schwerverletzten. Im September 2017 schlug er in der zuständigen Arbeitsgruppe der europäischen Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen (UNECE) vor, dass Lkw-Notbremsassistenzsysteme ab einer Geschwindigkeit von 30 Stundenkilometern nicht mehr vom Fahrer abgeschaltet werden dürfen und sich bei einer Abschaltung nach einer gewissen Zeit automatisch wieder aktivieren sollen. Scheuer: Assistenten nicht abschalten Im UNECE-Arbeitskreis in Genf fand der Vorschlag nach Auskunft des Bundesverkehrsministeriums bislang aber nicht die erforderliche Unterstützung der anderen Vertragsstaaten, um die UN-Regelung so anzupassen. Genaue Gründe nannte Berlin nicht. Der Vorschlag werde auf EU-Ebene aber weiter diskutiert, hieß es. Die EU-Kommission hat dem neuen Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) dabei Unterstützung zugesagt. Er setzt sich nach eigenen Angaben bei der Brüsseler Behörde dafür ein, dass die nichtabschaltbaren Assistenzsysteme EU-weit vorgeschrieben werden. Stephan Kühn, verkehrspolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag, kritisierte kürzlich den Umgang der deutschen Regierung mit den Lkw-Unfällen und ihren Ursachen. Den Vorschlag an die zuständige Arbeitsgruppe der UNECE bezeichnete er als "ungenügend". Die Ankündigungen im Koalitionsvertrag (siehe Kasten Seite 13) bezüglich mehr Verkehrssicherheit durch Fahrerassistenzsysteme dürften keine leeren Versprechen bleiben und nicht weiter auf sich warten lassen, betonen die Grünen. Bis es zu einer gemeinsamen europäischen Regelung komme, müssten Union und SPD auf Bundesebene "noch in diesem Jahr handeln und Fahrerkabinen mit verbesserter Sicht sowie Abbiegeassistenzsysteme für Lkw als neuen Standard implementieren", heißt es. Bundesländer machen Druck Die Bundesländer setzen sich parallel ebenfalls für verpflichtende Abbiegeassistenten für Lkw ein, um so die Unfallgefahr für Radfahrer und Fußgänger zu verringern. In einem von Berlin formulierten und von Bremen und Hessen unterstützten Bundesratsantrag wird die Bundesregierung aufgefordert, sich noch intensiver als bisher auf EU-Ebene für entsprechende Vorschriften einzusetzen. Es geht ihnen dabei um Assistenzsysteme, die Radfahrer oder Fußgänger im direkten Umfeld eines Nutzfahrzeugs erkennen sollen und dem Lkw-Fahrer beim Rechtsabbiegen akustisch, optisch, taktil oder in sonstiger Weise warnen und bei Bedarf bremsen, wie es in dem Antrag heißt, der vermutlich am 27. April in die Länderkammer eingebracht werden soll. Nach Meinung von Berlins Verkehrssenatorin Regine Günther (parteilos) sollten auch alte Fahrzeuge nachgerüstet werden. Dieser Forderung steht die Bundesregierung aber anscheinend skeptisch gegenüber. Die aktuell am Markt verfügbaren Abbiegeassistenzsysteme für schwere Lkw sind nach ihrer Ansicht noch nicht technisch ausgereift. Das geht aus der Antwort auf eine kleine Anfrage der Fraktion Die Linke von Ende März hervor. Die existierenden Nachrüstsysteme verwendeten in der Regel Sensorik, die nicht hinreichend zwischen bewegten und statischen Objekten unterscheiden könne und daher anfällig für Fehlwarnungen sei, hieß es darin. Das Bundesverkehrsministerium setze sich auf EU-Ebene dafür ein, Kriterien festzulegen, nach denen die Abbiegeassistenzsystemen geprüft werden. Wichtig sei, dass die Wirksamkeit der Systeme durch Ausrüstungsvorschriften sichergestellt sei. UDV-Leiter Brockmann sieht das anders. Zwar funktionieren Abbiegeassistenten noch nicht fehlerlos, sie würden aber ohnehin nur warnen und nicht bremsen. "Wenn das in 2 von 100 Fällen nicht funktioniert, ist das hinnehmbar." Studien zufolge könnten mithilfe dieser ausschließlich warnenden Systeme im Idealfall 30 Prozent der Unfälle mit Todesopfern bei Abbiegeunfällen vermieden werden. Das entspricht aufs Jahr gerechnet für Deutschland 28 Todesfällen. Anders als beim Notbremsassistenten, der wegen der komplexen Mechatronik schwer nachrüstbar sei, seien Abbiegeassistenten in Lkw vergleichsweise einfach einzubauen. Auch Hersteller sind in der Pflicht Die deutsche Transport- und Speditionsbranche spricht sich seit Jahren für den Einsatz von Assistenzsystemen in Lkw aus, die helfen, Verkehrsunfälle zu vermeiden. Der Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik und Entsorgung (BGL) engagiert sich für die verbindliche Einführung von Abbiegeassistenten und forderte vom Verordnungsgeber sowie von den Fahrzeugherstellern mehr Einsatz bei entsprechenden Angeboten für Fuhrunternehmen. Kein einziger Lkw-Hersteller biete Abbiegeassistenten an, die im Gefahrenfall automatisch bremsen, kritisierte der BGL. Nur ein einziger Lkw-Hersteller biete ein radargestütztes System für einen Teil seines Sortiments an, das im Gefahrenfall zumindest automatisch akustisch warne. Alle anderen Lkw-Hersteller hätten nichts dergleichen im Angebot. Zuvor hatte der BGL bereits die Pflicht zum Einbau von Notbremsassistenten in Lkw mitinitiiert. Allerdings kritisiert auch der Transportverband, dass viele Fahrer diese Technik bisher nicht nutzen. Man könne nicht akzeptieren, sagte Hauptgeschäftsführer Dirk Engelhardt, dass es möglich bleiben soll, die Assistenzsysteme bei Fahrtantritt dauerhaft abzuschalten und so im Extremfall die gesamte Lenkzeit ohne sie zu absolvieren. Die deutschen Speditionsverbände denken genauso. Allerdings warnt der Landesverband Bayerischer Spediteure (LBS), sich künftig zu sehr auf Fahrassistenzsysteme zu verlassen und den Kopf auszuschalten. In punkto Einbau- oder Nachrüstpflicht sei außerdem zu klären, ob die Systeme technisch ausgereift seien und wie es um die Investitionssicherheit stehe, betonte LBS-Geschäftsführerin Sabine Lehmann: "Sind diese Systeme zuverlässig? Sind Nachrüstungen auch bei älteren Fahrzeugen uneingeschränkt möglich und genehmigungsfähig? Wie sind Haftungs- und Versicherungsfragen geregelt? Im Fall der Abbiegeassistenten fehlen noch zu viele Antworten für eine geregelte betriebliche Praxis." Vision Zero droht, zu scheitern Am Ende steht die Erkenntnis, dass die Vision Zero (null Verkehrstote) nicht überall in Europa mit der gleichen Intensität verfolgt wird und der Weg zu diesem Ziel weit ist. Das belegen aktuelle Statistiken: Die Zahl der Verkehrstoten in der EU ist 2017 kaum zurückgegangen. Im vergangenen Jahr kamen 25.300 Menschen auf Europas Straßen ums Leben. Das waren den Daten der EU-Kommission zufolge 300 Tote oder knapp 1,2 Prozent weniger als im Vorjahr. Von dem Vorhaben, die Zahl der Verkehrstoten zwischen 2010 und 2020 zu halbieren, hatte sich die Brüsseler Behörde angesichts der Zahlen schon im vergangenen Jahr so gut wie verabschiedet. Als neue Marke nannte EU-Verkehrskommissarin Violeta Bulc, dass es ab 2050 gar keine Verkehrstoten auf Europas Straßen mehr gibt. Auf dem Weg dahin will sie im Mai Vorschläge für neue Regeln zur Ausstattung von Neufahrzeugen machen. "Ich erwarte, dass der Einbau von Techniken wie eine automatische Notbremsung oder ein Spurhalteassistent künftig helfen werden, Leben zu retten", sagte Bulc der Zeitung "Die Welt". Jeder im Straßenverkehr getötete Mensch ist einer zu viel. Diese Auffassung vertritt auch die Bundesregierung. Aktuell sieht es nicht so aus, als würde bis zum Jahr 2020 die Zahl der Verkehrstoten wie geplant um 40 Prozent im Vergleich zum Jahr 2010 sinken. Jedenfalls nicht ohne zusätzliche Maßnahmen und bessere Fahrzeugtechnik. Denn der Verkehr nimmt bis dahin weiter zu - auch auf der A 5 bei Walldorf. Mehr zum Thema finden Sie unter Assistenzsysteme www.verkehrsrundschau.de/dossiers Koalitionsvertrag Das Versprechen Die neue Bundesregierung hat sich für diese Legislaturperiode mehr Verkehrssicherheit als Ziel gesetzt. Auf Seite 80 des Koalitionsvertrags heißt es:"Wir werden Fahrerassistenzsysteme wie nicht abschaltbare Notbremssysteme oder Abbiegeassistenten für Lkw und Busse verbindlich vorschreiben und eine Nachrüstpflicht für Lkw-Abstandswarnsysteme prüfen."Quelle: Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD Stand der Technik Nur Daimler bietet Abbiegeassistenten an Notbremsassistenten gegen Auffahrunfälle hat jeder Nutzfahrzeughersteller in Deutschland in allen aktuellen Modellen der europäischen Produktpalette serienmäßig verbaut. Bei Abbiegeassistenten, die Unfälle aufgrund des toten Winkels reduzieren sollen, ist das Angebot dürftiger. Auf Nachfrage der Verkehrs-Rundschau geben die meisten Hersteller an, derzeit an einem entsprechenden Sicherheitssystem zu forschen. Nur Daimler hat es bisher mit einem vollintegrierten Abbiegeassistenten bis zur Marktreife geschafft. Dieser ist seit Ende 2016 erhältlich. Nach Aussagen des Konzerns wurde 2017 in jedem vierten in Deutschland ausgelieferten Lkw ein solches Radarsensorsystem eingebaut. Es registriert Hindernisse und Bewegungen auf der rechten Seite des Lkw, die im Spiegel für den Fahrer nicht zu sehen sind, und alarmiert ihn durch ein Warnsymbol in der A-Säule und einen lauten Warnton. Kostenpunkt: derzeit etwa 2500 Euro.Auch MAN hatte sich an einem Abbiegeassistenten versucht und erhielt für den Prototyp 2009 vom ADAC den "Gelben Engel" für Sicherheitsinnovation im Straßenverkehr. Das System habe bisher nicht die erforderliche Reife erreicht, heißt es seitens des Nutzfahrzeugherstellers. Dennoch sei ein solches Projekt geplant, teilte ein Sprecher auf Anfrage mit. MAN prüfe gerade die verschiedensten Technologien im Rahmen eines Konzeptwettbewerbs. "Die beste Lösung wird umgesetzt", erklärte der Sprecher.Nachfrage zu geringIveco hatte eigenen Aussagen zufolge eine Nachrüstlösung für einen Abbiegeassistenten im Angebot. Diese wurde aber eingestellt, weil die Nachfrage zu gering gewesen sei, teilte ein Sprecher mit. Eine alternative Lösung bietet beispielsweise der niederländische Hersteller DAF: Eine optionale Seitenkamera auf der Beifahrerseite soll eine zusätzliche optische Hilfe bieten. stm/ag

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