Schwerlaster mit sehr viel Gefühl

Fährt sich so leicht wie ein Smart, zumindest solange man keinen Parkplatz sucht" - mit diesem Zitat eines Kollegen preist Mercedes-Trucks-Chef Stefan Buchner die Fahreigenschaften des neuen Mercedes SLT. Die Schwerlastversion des Actros bildet den "krönenden Abschluss" einer bisher beispiellosen Stuttgarter Modelloffensive. Und dass die SLT-Version von Anfang an mit angelegt war in der Entwicklung der Actros-Reihe, sieht Daimler ebenfalls als Vorteil gegenüber dem Wettbewerb. Was die Mercedes-Mannen unter einem integrierten Schwerlastantriebsstrang verstehen, ist die Kombination aus 15,6-Liter-OM-473-Motor, 16-Gang-Getriebe sowie einer Turbo-Retarder-Kupplung (TRK), auf die man besonders stolz ist in Stuttgart. Nicht ganz ohne Grund, wie die ersten, ausführlichen Testfahrten zeigten. Vielleicht nicht wie ein Smart, aber zumindest sehr leicht lässt sich der Actros 4163 SL 8x4, in unserem Falle ein auf 170 Tonnen ballastiertes 21-Meter-Gespann, in Bewegung setzen. Wobei der Fahrer hier die Wahl hat. Entweder er tippt im Normalmodus aufs Gaspedal und der Zug setzt sich, nachdem die Turbo-Retarder-Kupplung gefüllt ist, mit leichter Verzögerung, aber fein dosierbar in Bewegung. Feinfühliges Rangieren An leichten Steigungen hilft auch der Hill-Holder, der nach gewohnter Sitte drei Sekunden den Betriebsdruck der Bremse aufrechterhält. Alternativ und in Situationen, in denen längeres Rangieren angesagt ist, kann man den Rangiermodus per Taste aktivieren. Dann lässt sich der Schwerlastzug sogar wie beim Wandler automaten mit dem Bremspedal manövrieren. Pedal loslassen und ebenfalls nach kurzem Zögern und völlig ohne Rückrollen drängt der Actros nach vorn, im sogenannten "Heavy"-Modus sogar mit noch mehr Drehmoment. Letztlich ist es Geschmackssache, ob man das für den Rangiertest aufgestellte Holzpodest per Gas- oder Bremspedal überrollt. Was das Schönste ist an der Turbo-Retarder-Kupplung: Die ganze Rangiererei vollzieht man ohne schlechtes Gewissen, denn das alles geht ja verschleißfrei vonstatten. Und heiß wird dem System offenbar auch nicht wirklich: Das Zusatzinstrument, bisher fester Bestandteil des Schwerlastinventars, weist bei erhöhter Anforderung gerade mal 105 Grad im übrigens gemeinsamen Kühlmittelkreislauf aus, die Nadel fällt im Normalbetrieb schnell wieder auf 84 Grad. Halten der Fuhre nur per Gaspedal Faszinierend auch das Anfahren am Berg, wo sich der 170-Tonnen-Zug selbst in einer siebenprozentigen Steigung nur mit dem Gaspedal halten und zentimetergenau rückwärts schaukeln (im Jargon "Abseilen") lässt - bei einer Reibkupplung ein Fall für die Werkstatt, beim Wandler drohte wohl akute Überhitzungsgefahr. Wie von Geisterhand geht es dann wieder bergan, wobei die mit eigenem Öl versorgte TRK auch höhere Anfahrgänge ermöglicht - und so etwaige Zugkraftunterbrechungen minimiert. Lange dauert es allerdings ohnehin nicht, bis das 16-Gang-Powershift-Getriebe die nächste Stufe einlegt - 20 Prozent schneller als beim Vorgänger soll das passieren. Flüssig und ohne spürbaren Tempo verlust sortiert die Box durch, bis sich der drehfreudige Motor in Stufe Vier am Berg verbeißt und die Fuhre mit zehn km/h bei 1700/min kontinuierlich nach oben zieht. Im Fahrmodus "Heavy" geht das Ganze noch schneller über die Bühne, insbesondere für knifflige Situationen am Berg empfehlenswert. Sobald die Neigung etwas flacher wird, stuft der neu entwickelte 625-PS-Motor selbstbewusst wieder rauf, teilweise sogar zwei Gänge - ein Vorgang, den man als vorsichtiger Fahrer eher unterlassen hätte. Doch wie sich der 15,6-l-Motor dann entschlossen knurrend aus dem Drehzahlkeller unter 1000 Touren hocharbeitet, das nötigt schon Respekt ab. Und lässt natürlich die Frage im Raum stehen, ob es allein die schiere PS-Zahl ist, die den Unterschied macht - oder eben das Drehmoment von in diesem Falle 3000 Nm, das kombiniert mit feiner Gangabstufung mindestens genauso viel bringt. Laut wird der mit Turbocompoundtechnik doppelt geladene Common-Rail-Motor übrigens nie, er versieht tendenziell sogar dezenter den bärenstarken Dienst als seine OM-Geschwister im Actros, wenngleich der Klang natürlich nicht an den Sex-Appeal des verblichenen V8 heranreicht. Gut kontrolliert in die Senke Umgekehrt ist es kaum minder faszinierend, wenn man bergab spürt, dass die fast 1000 PS Systemkraft aus im TRK integriertem Primärretarder (476 PS) und Motorbremse (646 PS) die Fuhre doch gut im Griff haben. Der Fahrer sollte allerdings den Drehzahlmesser im Blick behalten, mehr als 2200/min, empfiehlt der Werksfahrer, sollten es nicht sein. Gelegentliches Beibremsen bleibt da nicht aus oder man sortiert nach stärkerer Verzögerung noch eine Stufe runter. Alternativ kann man auch das Tempo limitieren, dann kommt das der Idee vom "automatisierten Fahrer" schon sehr nahe. Die Gefälle der Teststrecke in Münsingen ließen sich im Minimalfall mit Stufe sechs bewältigen. Wird es der Standardkühlanlage dann zu heiß, aktiviert sich mit mächtigem Fauchen der zweite Kühler hinter der Kabine - übrigens eine leicht ersetzbare Standardkomponente aus dem Busbereich - und schaufelt die überzählige Wärme weg. Angenehm ist, dass man die Kraft des Primärretarders aus der TRK auch bei relativ niedrigem Tempo nutzen kann, was zusätzlich Verschleiß an den Bremsen minimiert. Klar hat so viel faszinierende Technik ihren Preis: 20.000 Euro Extra muss der Kunde für die Turbo-Retarder-Kupplung, die mit Voith über drei Jahre lang speziell für den Actros und Arocs integriert wurde, berappen. Doch Vertriebschef Ulrich Bastert rechnet vor, dass man mit dem Aufpreis ja auch einen hoch befähigten Retarder erhalte, womit sich die Preisdifferenz auf etwa 10.000 Euro reduziere. Und natürlich will er das Thema Verschleiß auch auf der Kostenseite verbucht wissen. Semi-SLT für leichtere Anwendungen Empfohlen wird das System von den Daimler-Ingenieuren nicht nur für wirklich schwere Einsätze über 120 Tonnen, sondern eben auch für leichtere Schwertransporte mit 70 bis 80 Tonnen, wenn viel Rangierarbeit ansteht. Oder eben für den flexiblen Einsatz auf der Baustelle (siehe Kasten). In jedem Fall wiegt die TRK zwar 70 Kilo mehr als eine normale Reibkupplung plus Retarder, aber 80 Kilo weniger als eine Wandlerschaltkupplung (WSK) und baut mit nur 200 Millimetern Länge um 150 Millimeter kompakter als eine WSK. Wer das alles trotz allen Werbens der Daimler-Leute nicht braucht, für den hält der Hersteller den sogenannten "Semi-SLT" vor: ohne TRK und Zusatzkühler, mit 12- oder 16-Gang-Powershift samt Zweischeibentrockenkupplung für Einsätze bis 120 Tonnen in überwiegend flachem Terrain. Hier empfiehlt sich dann auch der Griff zum spürbar komfortableren, luftgefederten Actros. Den Arocs SLT mit Blattfedern, kleinerem Big-Space-Haus sowie etwas schlichterem Interieur sollte wählen, wer öfter auch mal grobere Pisten zu bewältigen hat. Auch sonst ist der SLT-Baukasten derart vielseitig, dass es Vertriebler Bastert in Anbetracht einer begrenzten Nachfrage von maximal 100 Stück pro Jahr fast die Tränen in die Augen treibt: Drei Achsübersetzungen, Versionen 6x4 und 8x4 beim Actros, 6x4, 6x6, 8x4, 8x6 und 8x8 beim Arocs, zwei Schwerlastkupplungen, drei Tonnagen für die Vorderachse et cetera - man fühlt sich fast wie bei Ikea: Entdecke die Möglichkeiten. Alle Tests und Fahrberichte seit dem Jahr 2008 für Premium-Abonnenten unter www.verkehrsrundschau.de/testdatenbank Technische Daten Motor Mercedes OM 473; Sechszylinder-Reihenmotor, Turbocompound-Aufladung, LLK; Hubraum (l): 15,6; var. X-Pulse-Common-Rail-Einspritzung; Leistung PS (kW): 517/578/625 (380/425/460) bei 1600/min; max. Drehmoment (Nm): 2600/2800/ 3000 bei 1100/min; Euro 6, SCR/AGR/DPF Mercedes Arocs Kipper mit Turbo-Retarder-Kupplung Kieskutschen fast narrensicher Nein, das mache ich nicht - mitten in der Steigung anhalten! "Probier es einfach mal aus ", insistiert unser Beifahrer im Arocs 8x4 4145 mit dem teuren, aber feinen Extra einer Turbo-Retarder-Kupplung. Völliger Wahnsinn, in einer 27-prozentigen Steigung anzuhalten. Also, gut, widerwillig gestoppt, sogar das instinktive Einlegen der Feststellbremse soll man unterlassen. Das grüne TRK-Lämpchen im Display signalisiert den Beginn der Füllung. Wie unter körperlichen Schmerzen nimmt man den Fuß von der Bremse, wechselt aufs Gas und fürchtet dennoch, gnadenlos in die Tiefe gezogen zu werden. Doch der Kipper bleibt stoisch am Fleck, bis genug Moment aufgebaut ist, um vorwärts zu kommen. Selbst ohne dass der Fahrer stärker aufs Gas drückt, rollt die zu Demo-Zwecken auf 41 Tonnen beladene Kiesfuhre los. Wer es braucht, der kann etwa zwischen zwei Hügeln prächtig und wohldosiert hin- und herschaukeln oder im Rangiermodus nur per Bremspedal feinfühlig an einem Förderband rangieren. Selbstredend steht mit Retarder und Motorbremse auch bergab mit 750 kW satte Verzögerung zur Verfügung."Wir stellen fest, dass es zunehmend eher unerfahrene Chauffeure gibt, auch im Kipperbereich. Da kann sich das Investment in die TRK lohnen", rechtfertigt ein Entwickler die Anwendung auch im Arocs. jr