Nur einer flog übers Kuckucksnest

Ein knappes Jahr nach Maueröffnung konnten anscheinend einige VEB-Betriebsleiter noch nicht ahnen, welch gewaltige Veränderungen sie bald überollen sollten. Das zeigt ein Interview, das die VerkehrsRundschau am 10. März 1990 mit dem stellvertretenden Generaldirektor der IFA Nutzkraftwagen in Ludwigsfelde, Reiner Handrick, führte: Er mag zwar gefühlt haben, wie schwer sich der IFA L60 in Westeuropa tun würde, ging aber trotzdem davon aus, dass die Ludwigsfelder Palette weitergebaut werde. Immerhin räumte er ein, dass es "sicherlich notwendig sein wird, an unserem L60 eine Reihe von Veränderungen und Ergänzungen vorzunehmen ...". Westeuropa stelle andere Anforderungen an Lkw als die bisher im Export belieferten Entwicklungsländer. "Die wenigen Stücke, die wir in diesen Teilen (Westeuropa, Anmerkung der Redaktion) der Welt verkauft haben, lohnten den Aufwand wirklich nicht." Immerhin sah er, dass die Kabine veraltet war und ein Servicenetz fehlte. Schon kurz nach diesem Interview wurde eine strategische Partnerschaft mit Mercedes-Benz verkündet, was zum IFA1318 führte: einem L60-Chassis mit der Kabine des Atego-Vorgängers LN2. Die Absatzzahlen und erzielbaren Preise von IFA W50 und L60 fielen ins Bodenlose. Am Schluss wurden die Ludwigsfelder Erzeugnisse für kleines Geld regelrecht verramscht und gingen vor allem an Entwicklungsländer und an einige letzte Markenliebhaber, die noch passende Einsätze für die rundlichen Ifas hatten. Am 18. Juli 1990 teilte der Generaldirektor des IFA-Kombinats auf einer Sitzung in Ludwigsfelde mit, dass Mercedes-Benz sich aufgrund der veränderten politischen Lage nicht mehr an die Vereinbarungen gebunden fühle, was auch andere Betriebsteile betraf. Das VEB Getriebewerk Brandenburg ging an ZF, das VEB Motorenwerk Nordhausen existiert gar nicht mehr. Bereits am 27. Juni 1990 wurde das VEB IFA Kombinat Nutzfahrzeuge Ludwigsfelde von der Treuhandanstalt aufgelöst und die VEB IFA Automobilwerke Ludwigsfelde in eine GmbH umgewandelt, die später in der Nutzfahrzeuge Ludwigsfelde GmbH aufging. Im August 1990 endete die Fertigung des L60 nach 20.289 Fahrzeugen, der ältere W50 "starb" erst im Dezember desselben Jahres und brachte es auf 571.789 Exemplare. Das Presswerk ging an den damaligen Thyssen-Konzern und wurde 2011 vom spanischen Gestamp-Konzern übernommen, der es heute als Technik-Center Ludwigsfelde führt. 1991 startete die Produktion der Mercedes-Benz Modelle LN2 und T2. 1994 ging die Nutzfahrzeuge Ludwigsfelde GmbH zu 100 Prozent an die damalige Daimler Benz AG und fertigt heute als Mercedes-Benz Ludwigsfelde GmbH die Mercedes-Benz-Sprinter- und (noch bis 2016) VW-Crafter-Pritschenwagen. Robur: Am Ende keine Kraft mehr Weniger glimpflich ging die deutsche Einheit für die Robur-Werke in Zittau aus, ehemals Phänomen-Werke. Die waren seit 1946 VEB-Staatsbetrieb. Wie in Ludwigsfelde wurden dem Betrieb 16 weitere Produktionsstätten angegliedert. Ein Teil der Gebäude des ehemaligen Werk II werden heute von anderen Betrieben genutzt, doch die meisten Gebäude verfallen. Bis Mitte der Sechzigerjahre kamen die Robur-Werke gut voran: Die Fertigung stieg jährlich und erreichte 1966 mit rund 7000 Lkw ihren Höhepunkt. Der 1961 vorgestellte LO (Lastwagen mit Ottomotor) mit luftgekühltem Benziner erhielt wegen seiner Trinksitten bald den Spitznamen "Ello der Durstige". 1971 begann auf Beschluss des Ministerrates die Arbeit an Nachfolgern für W50 und Robur mit einer in Länge und Breite skalierbaren Einheitskabine. Im Oktober 1974 wurde das erste Funktionsmuster des 0611, ein 4x4-Pritschenwagen, vorgestellt. 1980 wurde das Projekt - wieder auf Geheiß des Politbüros - gestoppt. Immerhin folgte nach weiteren Verzögerungen 1982 endlich die Dieselversion des Robur, der LD. Bei der Wiedervereinigung fand sich kein Interessent für die Robur-Werke samt ihren zu dem Zeitpunkt völlig veralteten Modellen. So versuchte man mit der Faceliftversion LD 3004 samt Deutz-Diesel im Geschäft zu bleiben. Man baute einen Werkskühler mit Schmitz-Frigokoffer, doch Ende 1991 wurde die Fertigung eingestellt. 1995 wurde die Robur-Fahrzeug-Engineering GmbH gegründet. Sie erwarb das Know-how der Robur-Werke Zittau. 1999 folgte die FBZ (Fahrzeuge, Baugruppen, Zulieferungen) GmbH Zittau. 2012 firmierte die unter neuem Eigentümer in Robur-Fahrzeug-Engineering-Zittau GmbH um. Daraus entstand ein allgemeiner Ersatzteilhandel, die Robur-Bremse GmbH. Multicar: In der Nische überlebt Doch ein einstiger DDR-Hersteller überlebte bis heute und flog sozusagen "übers Kuckucksnest": Die Multicar-Werke in Waltershausen. Sie agierten bereits vor der Wende in einer Nische, die Westhersteller nur am Rande bedienten: Multicar fertigte schmale Leichttransporter, die vor allem im Galabau- und Kommunalbereich genutzt wurden. Aus den 1920 gegründeten Ade-Werken (benannt nach dem Unternehmer Arthur Ade) wurde 1946 der Gerätebau Waltershausen und 1948 das VEB Fahrzeugwerk Waltershausen. Erstes Produkt war eine fußgelenkte, stehend zu fahrende "Diesel-Ameise" ähnlich den westdeutschen Elektrokarren an den Bahnhöfen. 1958 startete die Produktion des Multicar-Leicht-Lkw als Typ M22 neben den letzten Ameisen der Typen M21. 1974 beerbte der M24 den M22, dem 1978 der M25 folgte. Der wurde erfolgreich auch nach Westeuropa verkauft und überlebte die Wende. 1991 wurde Multicar privatisiert und der M25 erhielt einen modernen VW-Motor. Auch der brachte genug Geld für eine Weiterentwicklung: 1993 folgte der bis 2010 produzierte M26, der immer den M24-Basisrohbau nutzte. 1998 übernahmen die Hako-Werke die Anteile der Deutschen Beteiligungsgesellschaft. Hako sorgte dafür, dass einstige West-Produkte in Multicar aufgingen: Die Fertigung des Kramer Tremo Mercedes-Benz Unimogs UX 100 führte man in Waltershausen zusammen. 2001 startete die Reihe M30 Fumo (Funktion und Mobilität) mit komplett neuer Kabine. Davon abgeleitet wurden die Typen M27 und M31. Jüngste M31-Version ist die Euro-6-Variante, die ein 3,0-Liter-Iveco-Diesel antreibt. Trailer: Von der Reparatur zum Werk Anders sieht die Situation bei den Trailerherstellern aus: Am bekanntesten dürften heute Fliegl, Saxas, Schmitz Cargobull und Sommer sein. Während Fliegl und Sommer aus ehemaligen landwirtschaftlichen Reparaturwerken hervorgingen und dort den Sprung zum vollwertigen Fahrzeugbauer vollzogen, wurden in Gotha und Werdau schon immer Komplettfahrzeuge gefertigt. Als Schmitz Cargobull in Gotha einstieg, hatte man dort schon viel gebaut: Hervorgegangen aus der 1883 gegründeten Gothaer Waggonbaufabrik produzierte man dort im Laufe der Jahre auch Karussells, Flugzeuge, Komponenten für die Wartburg-Pkw im nahe gelegenen Eisenach und Kühlelemente. Mit der Wiedervereinigung hoffte man, am ehesten im Trailerbau Fuß fassen zu können. Anfangs fertigte man ein eigenes Trailerprogramm unter dem Namen "die Gothaer", doch die nötigen Serienstückzahlen blieben gering. 1997 übernahmen die Cargobullen Gotha vollständig und gliederten es als Standort für Containerchassis, Kipper, Wechselbehälter und Lafetten sowie Schubbodenfahrzeuge in den Konzern ein. 2015 wurde Gotha umstrukturiert und konzentriert sich jetzt auf die Fertigung von Curtainsider-Anhängerzügen sowie Kippaufbauten und -satteln. Saxas in Werdau (siehe Kasten rechts) hat sich im Laufe der Jahre auf KEP- und Verteilerfahrzeuge spezialisiert. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Sommer im einstigen landwirtschaftlichen Ausbesserungswerk in Laucha, jetzt statt Bielefeld Hauptstandort. Das "Herstellersterben" gab es übrigens auch im einstigen Westdeutschland: Die Konzentrationswelle im Nutzfahrzeugsektor raffte ab Ende der Sechzigerjahre die Lkw-Hersteller Büssing, Faun, Kaelble, Krupp, Hanomag und Henschel dahin. Zwar existieren viele Standorte noch, allerdings meist als Produktionsstätten für Komponenten oder Zuliefererteile. Die zeitlich extrem verkürzte Umstrukturierung lässt aus den Wendejahren 1989 bis 1991 rückwirkend betrachtet wilde Zeiten einer extrem schnellen Umstrukturierung werden, deren Ende für den Standort Deutschland noch nicht abzusehen ist. Man darf gespannt sein, welche Fertigungen in den nächsten 25 Jahren noch existieren werden. Fliegl in Triptis: Weit über sich hinaus gewachsen Neu bauen statt reparieren Triptis galt einst als klassischer Porzellanstandort, der hinter dem Zaun "auch" ein technisches Instandsetzungswerk, hauptsächlich für landwirtschaftliche Geräte und Nutzfahrzeuge, unterhielt. Dieses Verhältnis hat sich nach dem Einstieg der Familie Fliegl 1990 praktisch umgekehrt: Die Porzellanfabrik brennt noch immer auf kleiner Flamme vor sich hin, während Fliegl das Ausbesserungswerk Stück für Stück zu einer kompletten Trailerfertigung für Straßenfahrzeuge umbaute. Zu den anfänglich gebauten Spezialfahrzeugen nach Kundenwunsch kamen mehr und mehr regionale Anfragen nach "Standardtrailern" wie Kippern und Curtainsidern, die bald nach einer Serienfertigung verlangten.2005 startete Fliegl mit dem Bau des Werkes 2 auf der anderen Seite der A 9, das im Gegensatz zum ehemaligen Instandsetzungsbetrieb komplett auf der grünen Wiese entstand und komplett auf die Serienfertigung von Trailern ausgelegt wurde.In diesem Werk 2 (das eine Kapazität von bis zu 6000 Fahrzeugen im Jahr hat) fertigt Fliegl aktuell alle Curtainsider und Kippfahrzeuge, während der Sonderbau im Werk eins verblieben ist. Mit beiden Standorten avancierte Fliegl mit rund 230 Mitarbeitern zu einem der größten Arbeitgeber in Triptis und plant 2015 die Fertigung von rund 5000 Anhängern. gs Saxas in Werdau: Bewegte Zeiten Vom Lkw- zum Aufbaustandort Der sächsische Saxas-Standort Werdau war einst das Zentrum der schweren Lkw-Fertigung und produzierte die Vorgängertypen des IFA W50. Mit der Verlagerung der Lkw-Fertigung nach Ludwigsfelde wurde aus Werdau das Anhängerwerk Ernst Grube und war für mittelschwere und schwere Trailer verantwortlich. Durch einen Fünfjahresplan wurde Werdau kurz vor der Wende Fertigungsstandort für Pkw-Trailer. Ab 1989 versuchte man sich neben Trailern auch mit Bussen und Pkw-Lizenzmontagen, bis Kögel 1990 einstieg. Werdau wurde für die Ulmer zum Standort für Lkw-Aufbauten, Koffer und Kühler. 2004 führte die Kögel-Insolvenz zum Management-Buyout und der Gründung von Saxas. gs

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