Neue Spezialisten aus dem Baukasten

Eine optische Revolution hatte wohl kaum jemand erwartet. Die war schließlich schon bei der Präsentation der neuen Fernverkehrsmodelle im vergangenen Jahr ausgeblieben. Die lehnen sich optisch stark an ihre Vorgänger an und mancher tut sich bis heute schwer, zwischen Alt und Neu zu unterscheiden. Dass die neuen Scanias den alten tatsächlich aber in keinem Bauteil gleichen, fällt erst auf den zweiten Blick auf. Die gleiche Strategie fährt Scania bei seinen frisch erneuerten Bauarbeitern, die der schwedische Hersteller ab sofort auf die europäischen Märkte loslässt. Die Baumodelle bekamen einen Namen Eines ihrer Erkennungszeichen ist die neue Bezeichnung "XT" - abgekürzt für Xtreme - was darauf verweisen soll, dass diese Greife für grobschlächtige Transportaufgaben entwickelt wurden. Davon zeugt optisch, neben gittergeschützten Scheinwerfern und einer robusten Schutzplatte am Unterboden, der massive und um 15 Millimeter nach vorn überstehende Stahlstoßfänger. In dem versteckt Scania auch gleich eine für 40Tonnen Zugkraft ausgelegte Abschleppöse. Nur für den Fall, dass der XT im Gelände doch mal auf fremde (Zug)-Hilfe angewiesen sein sollte. Die nach vorn gewanderte Stoßstange sorgt zwar für eine gewisse "Unterbissoptik", die man schon von Bauspezialisten anderer Hersteller kennt, dafür trifft es aber im Falle eines Falles zunächst den Stoßfänger anstatt empfindlicher und teurer Anbauteile. Im Kontrast zur Robust-Optik außen steht der Innenraum. Hier erbte der XT den Armaturenträger der aktuellen Fernverkehrs-Scania, inklusive des ergonomisch wohldurchdachten und übersichtlichen Bedienkonzepts. Zusätzlich zieht in die Kipperklasse so eine bis dato nicht gekannte Haptik und Materialanmutung ein. Alle Schalter und Hebel greifen sich angenehm satt, rasten präzise und die Türen fallen mit einem wertigen "Flopp" ins Schloss, das selbst die Konzernschwester Audi wohl kaum besser hinbekommen würde. Nur im Fußraum und bei der Motorkistenverkleidung griffen die Schweden zu weniger ansehnlichen, aber eben pflegeleichten Kunststoffen. Das Prädikat vorbildlich verdienen auch die Sichtverhältnisse nach draußen. Der nach rechts abgeflachte Armaturenträger und der im Vergleich zum Vorgängermodell um einige Zentimeter nach vorn versetzte Fahrerplatz helfen vor allem in den niedrig montierten P- und G-Kabinen tote Winkel vor und neben dem Fahrzeug zu minimieren - bei Baufahrzeugen, die sich regelmäßig durch engste Lücken zwängen müssen, kein unbedeutender Faktor. Seit Jahren Teil der Scania-Philosophie: das konsequente Baukastenprinzip, das eine erschöpfende Modellvielfalt zur Folge hat. Allein 19 Kabinenvarianten vom kurzen P-Fahrerhaus mit flachem Dach bis zum S-Highline mit ebenem Kabinenboden und 2,07 Meter Innenhöhe sind für die XT-Reihe zu haben. Gleiches gilt für die Technik: Ein gewichtsoptimierter (7 mm Rahmenstärke), vollluftgefederter und scheibengebremster 8x4-Straßenroller mit dem leichten Fünfzylinder-Diesel oder doch lieber die brachiale Ausführung mit 9,6 Millimeter starkem Rahmen, Blattfedern, Trommelbremsen, starr gelagerter Kabine und 730-V8-PS? Oder vielleicht von beiden Extremen ein bisschen? Für den Scania-Baukasten kein Problem, sofern der Kipper-Kunde damit leben kann, dass beispielsweise die Konstruktion der Luftfederung unverändert von den Scania-Straßenfahrzeugen übernommen wird. Kleine Programmlücken Ähnlich umfangreich sieht es bei den Achskonfigurationen aus. Von der standardisierten 4x2-Sattelzugmaschine bis zum Vierachser mit permanentem oder zuschaltbarem Allrad sollen nach und nach verschiedenste Konfigurationen lieferbar sein. Darüber hinaus gehende Sonderwünsche kann zudem die Spezialmanufaktur im schwedischen Laxå erfüllen, verspricht der Hersteller. Programmlücken lassen sich trotzdem entdecken: Das Scania keine lift- und abkoppelbaren Antriebsachsen à la Volvo bringen will, werden wahrscheinlich nur wenige Kunden monieren. Anders siehst es bei hydrostatisch angetrieben Vorderachsen als günstige und spritsparende Alternative zum Allrad aus, bei denen die Scania-Verantwortlichen ebenfalls mit dem Kopf schütteln. Allerdings garniert mit der Andeutung, dass bei diesem Punkt noch nicht das letzte Wort in Södertälje gesprochen sei ... Von Softie bis Hardliner Ebenso vielfältig wie die Varianten präsentierten sich auch die Fahreindrücke der XT, die wir während der ersten Probefahrten sammeln konnten. Klar, dass der vollluftgefederte Softie mit großer R-Kabine weicher über die buckligen Pisten des Testgeländes federte als der blattgefederte P-Vierachser. Für alle XT gilt aber: Die Akustik stimmt, auch wenn es etwas lauter als in den Fernverkehrsmodellen zugeht, wofür vor allem die hinter der Kabine stehende Abgasanlage verantwortlich ist. Gleich daneben bringt Scania übrigens zusätzlich die nach oben verlegte Luftansaugung unter, die für den XT konfigurierbar ist. Freuen wird Baustellenprofis, dass nun auch für die halblangen Kabinen endlich Außenstaufächer lieferbar sind. Wie bei Scania üblich, öffnen deren Deckel allerdings nach oben und blockieren dann bei Zugmaschinen das Vorklappen der eventuell verbauten Seitenflaps. Bei Kippern sollte man das Fach unbedingt auf der rechten Seite ordern, auch wenn es wenig praktisch erscheint. Denn links wird der vorgesehene Platz vom obligatorischen Tritt eingenommen, über den der Fahrer einen kontrollierenden Blick in die Kippbrücke werfen kann. Dafür muss man allerdings, trotz des stabilen Handlaufs auf dem Kabinendach, gewisse Sportlichkeit mitbringen, denn der Abstand vom Kabinenboden bis zum Tritt fällt recht groß aus. Nicht ganz erschlossen hat sich uns der Sinn eines Kupplungspedals bei der automatisierten Schaltung "Opticruise", die Scania optional anpreist. Darüber kann der Fahrer den Motor jederzeit vom Getriebe trennen, vor allem aber soll es in extremen Situationen feinfühligstes Anfahren und Rangieren ermöglichen. Durch den gummibandartigen Pedalweg mit kaum spürbarem Schleifpunkt gelang zumindest uns das aber nicht besser, als es die automatisierte Kupplung bei der Zweipedal-Opticruise vermag. Die Fahrer von Abroll- und Holzfahrzeugen hätten sich das Kupplungspedal aber explizit gewünscht, versichern die Scania-Leute. Oder man schaltet, wie bei vielen Kipperkunden bis heute beliebt, gleich ganz manuell, wofür die Schweden ihre manuelle Zwölfgang-Box im Programm haben. Dessen zwölf Gänge lassen sich zwar präzise und leicht schalten, trotzdem würden wir ganz klar zur automatisierten Lösung greifen. Auch weil die für Geländeausflüge einen brauchbaren Offroad-Modus bereit hält, der früher niedrigere Gänge wählt und die Fahrstufen entsprechend ausdreht. Vier Prozent weniger Verbrauch Nur etwas für spezielle Einsätze ist sicher die ebenfalls für den XT lieferbare Sechsgang-Wandlerautomatik von Allison. Mit der dürfte sich die von Scania versprochene Verbrauchsreduzierung von vier Prozent zum Vorgänger nämlich kaum einfahren lassen. Ermöglicht werden soll die Ersparnis durch eine verbesserte Aerodynamik sowie Modifizierungen an den Motoren wie der beim Achtzylinder neu eingeführten SCR-only-Technik. Auch das soll dazu beitragen, dass sich Scanias Baufamilie künftig ein deutlich größeres Stück vom europäischen Baukuchen herausschneiden soll. Wem die Bauarbeiter für ihren Einsatz eine Nummer zu grobschlächtig erscheinen, kann übrigens auch die Normalo-Scanias auf Bau trimmen. Zum Beispiel mittels der um vier Zentimeter nach vorne überstehenden Kunststoff-Stoßstange erhält man so etwas wie einen "XT light". Der Baukasten macht es möglich. Alle Tests und Fahrberichte für Abonnenten www.verkehrsrundschau.de/testdatenbank Die neuen P-Verteiler sind jetzt lieferbar Mehr Varianten für Scanias kleinste Baureihe Am Rande der XT-Präsentation fast unbemerkt, zeigte Scania erstmals auch seine neuen Verteiler, die weiterhin bei 18 Tonnen Gesamtgewicht starten. Die bisherige Bezeichnung "P" blieb dabei erhalten und wie ihre größeren G-, R- und S-Brüder können die P-Modelle Ähnlichkeiten zum Vorgängermodell nicht verleugnen. Trotzdem handelt es sich auch hier um eine komplette Neuentwicklung, wie Scania betont. Dank Baukastenprinzip konnten neben dem Armaturenträger und den Außenspiegeln auch viele Designmerkmale von den großen Scanias übernommen werden.Bei den Kabinen erweiterten die Schweden das Programm auf insgesamt sechs Varianten. Wenig Platz und Sitzverstellmöglichkeiten bietet nach wie vor die kurze Kabine, weshalb man dem Fahrer die halblange Ausführung gönnen sollte, die sich jetzt sogar noch mittels Hochdach nach oben vergrößern ließe. Trotz des mächtigen Motortunnels, der aufgrund der niedrig montierten Kabine 44 Zentimeter in die Kabine ragt, sah Scania zusätzlichen Bedarf für Fernverkehrsvarianten. Deshalb kann das lange P-Fahrerhaus auch mit dem Highline-Hochdach kombiniert werden. Beim Antrieb wird im P vorrangig der 9 Liter große DC09-Fünfzylinder zum Einsatz kommen. Der leistet 280, 320 oder 360 PS und soll jetzt bis zu drei Prozent sparsamer sein. Ermöglichen soll das die neue SCR-only-Abgasreinigung ohne AGR, zudem stellten die Entwickler das Aggregat auf einen Turbolader mit starrer Geometrie um und nahmen sich Motorsoftware und Brennräume vor. Darüber hinaus geschieht die Ölkühlung nun themostatgeregelt und der Kühlerlüfter wird jetzt direkt von der Kurbelwelle angetrieben und benötigt so weniger Leistung. Neben den Diesel-Varianten bleiben auch die Erdgas-Ausführung des Fünfzylinders sowie der in der Anschaffung teure Hybrid im Programm. bj

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