Interview

Interview „Ich habe am Anfang Fehler gemacht“ Winfried Hermann, erster grüner Verkehrsminister in Baden-Württemberg, kämpfte erfolglos gegen Stuttgart 21. Im Interview erklärt er, was sich trotzdem durch den Widerstand geändert hat und welchen Kurs sein Land künftig nimmt. Als Vorsitzender des Bundestags-Verkehrsausschusses waren Sie geschätzt als ein moderater, sachorientierter Politiker. Mit Ihrem Wechsel nach Stuttgart an die Spitze des Verkehrsressorts galten Sie plötzlich als verbohrter, radikaler Hardliner. Hat Sie der Imagewandel überrascht? Winfried Hermann: Aus mir wurde medial innerhalb weniger Tage ein völlig neuer Mensch. Nach mehreren Wochen hart-näckiger Attacken und wiederholter Rücktrittsforderungen wurde mir jedoch klar, dass die Opposition im Land und Teile der Medien in mir die Sollbruchstelle der neuen grün-roten Koalition sahen. Grund war das Konfliktthema Stuttgart 21. Mittlerweile hat sich die Lage beruhigt. Gab es Tage, an denen Sie Ihren Wechsel nach Stuttgart bedauert haben? Keinen Augenblick. Aber die Vorwürfe, ich sei unfair und missbrauche die Macht, haben mich sehr geärgert. Wie haben Sie reagiert? Ich habe mit meiner Arbeit bewiesen, dass ich kein dogmatischer Fundi, sondern ein sehr sachorientierter Politiker bin. Was hat sich für Sie durch das neue Amt des Verkehrsministers geändert? In Stuttgart stehe ich voll im Fokus von Opposition und Medien, das kannte ich so extrem nicht. In den ersten Wochen des Aufbaus eines neuen Ministeriums hatte ich zudem keine Mitarbeiter auf der Leitungsebene, die mir zugearbeitet hätten. Die Pressestelle war mein Handy. Ich habe in dieser Anfangsphase auch Fehler gemacht. Sehr schwierig war für mich etwa der notwendige Wechsel in der Kommunikation. Als Abgeordneter hatte ich den Ruf, unangenehme Wahrheiten oder Kritik offen auszusprechen. Als Minister und Mitglied einer Regierung darf ich das nicht immer, denn meine Aussagen haben ein anderes Gewicht. Es sind nicht mehr die Worte des Abgeordneten Hermann, sondern dann hat das Land Baden-Württemberg gesprochen. Diese neue Wirkung musste ich erst verinnerlichen. Mit Stuttgart 21 standen Sie im Fokus der Kritiker. Kein Infrastrukturprojekt der letzten Jahre wurde bundesweit so emotional diskutiert. Was kann Deutschland aus dem Streit um den Bahnhofsneubau lernen? Ich habe mit meiner Position bei der Volksabstimmung um Stuttgart 21 letztlich verloren, dennoch haben wir viel erreicht. Die Sensibilität in Politik und Wirtschaft gegenüber den Wünschen der Bürger und deren Kritik ist gestiegen, wir haben in Baden-Württemberg eine neue demokratische Kultur und mit der Volksabstimmung mehr Bürgerbeteiligung geschaffen. Die Politik kann Großprojekte künftig nicht mehr einfach beschließen und notfalls durchprügeln. Bereits in einer frühen Phase müssen künftig die betroffenen Bürger eingebunden und Alternativen vorgestellt werden. Die Landesregierung möchte dieses partizipative Vorgehen konkret umsetzen – etwa beim Ausbau der Rheintalstrecke. Sie wollen Alternativen zur Wahl stellen, doch die Wahrheit ist, dass es bei jedem Großprojekt Verlierer gibt. Wer will schon damit leben, dass alle fünf Minuten ein Güterzug am Gartentor vorbeidonnert? In der Tat brauchen wir Alternativen, bei denen das Konzept stimmig ist und die negativen Folgen möglichst wenig Anwohner treffen. Im Rheintal beispielsweise ist die Betroffenheit am größten, wenn die Trasse mitten durch alle Orte führt. Wenn wir eine neue Trasse parallel zur Autobahn mit guten Lärmschutzmaßnahmen planen, die auch den Lärm des Straßenverkehrs dämmen, schaffen wir neue Betroffene, deshalb gibt es neuen Widerstand. Aber insgesamt würde sich die Akzeptanz verbessern. Die von Bund und Ländern eingeführte Schuldenbremse hat auch direkte Folgen für den Verkehrsbereich. Vor allem für den Bau neuer Verkehrswege fehlt Geld. Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer konzentriert sich auf den Erhalt. Welche Prioritäten setzen Sie in Baden-Württemberg? Über die sich anbahnende Wende in der Infrastrukturpolitik auf Bundesebene freue ich mich sehr. Ich habe jahrelang für den Vorrang von Erhalt vor stetigem Neubau gestritten und wurde nicht gehört. In Baden-Württemberg setzen wir konsequent auf Erhalt, Sanierung und auf die Stärkung der Hauptachsen. So müssen etwa die Autobahnen A 8 und A 5 endlich durchgängig sechsspurig ausgebaut werden. Dafür müssen wir auf die eine oder andere Ortsumgehung verzichten. Das wird im Land nicht nur auf Zustimmung stoßen. Es ist ein Markenzeichen unserer Landesregierung, dass wir aufhören, ständig neue Straßen zu versprechen, die aus Geldmangel nie gebaut werden. Täglich muss ich Bürgermeistern und Landräten erklären, dass die vor 30 Jahren versprochenen Umgehungsstraßen auch in den nächsten Jahrzehnten keine Chance haben. Wir haben derzeit laufende Baumaßnahmen bei Bundesfernstraßen für über 1 Milliarde Euro, baureife Maßnahmen für 1,5 Milliarden Euro und im sogenannten vordringlichen Bedarf zusätzlich Straßen für rund 2,5 Milliarden Euro. Tatsächlich plant der Bund mittelfristig rund 120 Millionen Euro pro Jahr. Da kann sich jeder ausrechnen, wie lange wir brauchen, um diesen Berg abzutragen – selbst bei der Verdopplung der Mittel. Bei Landesstraßen sieht es nicht besser aus. Das macht doch keinen Sinn! Was wäre die Lösung? Wir müssen prüfen, ob wir alle Wunschstraßen angesichts des klimatischen und demografischen Wandels wirklich brauchen. Ich will aufgrund der Unterfinanzierung ein Jahr lang kein neues Bundesstraßenbauprojekt beginnen. Das Bundesverkehrsministerium hat mich schon zwei Mal aufgefordert, Neubaumaßnahmen zu benennen. Doch das werde ich nicht. Wir haben so viele laufende Projekte, die nicht ausfinanziert sind, diese will ich erst einmal abschließen. Sollte mehr Geld vom Bund kommen, dann will ich dafür sorgen, dass die bereits begonnenen Baumaßnahmen schneller abgeschlossen werden. Warum sind die Straßen oftmals in einem so schlechten Zustand? Jahrelang war es Praxis, dass das fehlende Geld für Neubaumaßnahmen letztlich einfach aus dem Sanierungsetat abgezweigt wurde. Denn Minister und Regierungschefs beginnen lieber spektakulär mit Spatenstich neue Straßenprojekte, als dass sie eine alte sanieren. Ich will diesem Drang widerstehen und sage, bei uns in Baden-Württemberg hat der Erhalt Vorfahrt. Die Verkehrsminister der Länder wollen die künftige Finanzierung der Verkehrs-wege neu diskutieren. Gibt es schon erste Ergebnisse? Wir starten gerade und müssen folgende Punkte klären: den Sanierungsbedarf, die Kosten der Projekte im vordringlichen Bedarf, die Höhe des strukturellen Finanzierungsdefizits – also wie viel Geld wir brauchen, um unser Netz zu erhalten und sinnvoll auszubauen – und mögliche Geldquellen. Ich will ganz offen und ohne Vorbehalte diskutieren. Auch als Grüner sage ich, wir brauchen deutlich mehr Geld für den Straßenbau – vor allem für den Erhalt und für notwendige Ausbaumaßnahmen. Das Netz in Deutschland ist schon sehr gut, doch wir müssen es auch sorgfältig halten und da und dort perfektionieren. Wie viel Geld fehlt im Verkehrshaushalt? Ich schätze, dass uns jährlich drei bis sechs Milliarden Euro fehlen. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten für höhere Einnahmen: etwa eine Autobahnvignette, Citymaut, Ausweitung und Erhöhung der LKW-Maut, höhere Mineralölsteuer. Das Thema Verkehr wird letztlich im nächsten Bundestagswahlkampf entschieden. Ich bin für eine offene Debatte. Die viel diskutierte PKW-Vignette für 100 Euro würde dem Staat jährlich vielleicht netto 500 Millionen bringen, das ist wenig Ertrag für viel Aufwand. Doch wäre eine Vignette für 500 Euro im Jahr wirklich eine Lösung? Sie schließen eine PKW-Vignette nicht aus? Ich persönlich bin gegen eine solche Flatrate-PKW-Maut. Aber ich will ohne Denkblockaden in die Diskussion gehen und fordere das auch von meinen Kollegen. Am Ende kann jeder für seine Position streiten. Sie sagen, das Thema wird im Bundestagswahlkampf 2013 entschieden. Gibt es einen solchen Zeitplan der Arbeitsgruppe? Den Termin sollten wir schaffen. Die Defizite sind allen bekannt. Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern müssen endlich über mögliche Lösungen reden und entscheiden. Zum Jahreswechsel ist die Ausnahmeverordnung für den Lang-LKW-Feldversuch in Kraft getreten. Sie lehnen diesen Testlauf ab. Warum? Ich bin der Meinung, dass der Vorteil der Lang-LKW ein pseudoökologisches Rechenmodell ist. Der überlange Laster wurde nicht aus ökologischen Gründen erfunden, sondern aus betriebswirtschaftlichen. Die Logistikbranche will Kosten sparen. Ich bin aber dagegen, den Straßengüterverkehr weiter zu verbilligen. Wenn der Kostenvorteil des LKW zunimmt, wird die Schiene Anteile verlieren. Ein Blick auf die völlig überlasteten Straßen zeigt jedoch, dass wir im Gegenteil mehr Verkehr auf die Schiene bringen müssten. Oft gibt es keine Alternativstrecke per Bahn. Ist es dann nicht ein sinnvoller Ansatz, wenigstens den ressourcenschonenden Lang-LKW einzusetzen? Ich will nicht Schritte in die falsche Richtung fördern. Wir müssen die Schiene ausbauen und den Kombinierten Verkehr stützen. Im Ministerium entwickeln wir entsprechende Konzepte. Eine Idee ist etwa, auf dem ehemaligen Flugfeld in Lahr ein großes Umschlagterminal für den Kombinierten Verkehr Straße-Schiene zu schaffen, damit im Rheintal nicht das Chaos ausbricht, wenn die Schweiz 2018 nach Fertigstellung des Gotthardbasistunnels die LKW aussperrt. Auch die Binnenhäfen könnten als trimodale Umschlagplätze gestärkt werden. Das sind zukunftsweisende Projekte, nicht der Lang-LKW. Sollten wir nicht trotzdem die neuen Fahrzeugkonzepte zumindest testen? Ich bin mir sicher, der Testlauf des Lang-LKW ist nur der Vorlauf für den 60-Tonner. Die Infrastruktur in Deutschland ist jedoch nicht für diese überlangen und schweren Fahrzeuge ausgelegt. Die betriebswirtschaftliche Rentabilität der Unternehmen zahlt am Ende die Allgemeinheit über Steuern. Das Vorpreschen des Bundes ohne ausreichende Rücksprache mit den Ländern war ein Fehler. Im Auftrag der grünen und roten Verkehrsminister lasse ich deshalb prüfen, ob eine Klage gegen die Ausnahmeverordnung des Bundes Aussicht auf Erfolg hätte. Baden-Württemberg würde federführend gegen den Lang-LKW-Feldversuch klagen. Trotzdem lassen Sie den verlängerten Trailer, den sogenannten Big-Maxx, weiter zu. Ich will nicht aus rein ideologischen Gründen Kämpfe ausfechten, bei denen es um wenig geht. Bei der Verlängerung der Ausnahmegenehmigung für den um 1,3 Meter längeren Auflieger haben wir die Fakten abgewogen und ich habe mich entschieden, Bestandsschutz zu geben. Es betrifft jedoch nur ein paar hundert Trailer. Unternehmen, die diese Fahrzeuge bereits im Einsatz haben, dürfen es weiter tun. Es gibt keine neuen Genehmigungen. Wir möchten die Schiene stärken, deshalb wäre es inkonsequent, den Einsatz verlängerter Trailer zu forcieren. ❙❚■ Sebastian Bollig Vita Seit Mai 2011 ist Winfried Hermann, geboren am 19. Juli 1952 in Rottenburg am Neckar, Minister für Verkehr und Infrastruktur in Baden-Württemberg. Nach einem Studium der Fächer Deutsch, Politik und Sport arbeitete Hermann zunächst als Lehrer an einem Gymnasium in Stuttgart, bevor er 1984 für die Grünen in den Landtag einzog. 1989 bis 1998 war er Fachbereichsleiter bei der Volkshochschule Stuttgart. Zwischen 1992 und 1997 übernahm er zusätzlich den Landesvorsitz seiner Partei in Baden-Württemberg. 1998 wechselte er in die Bundespolitik und kam insgesamt vier Mal über die Landesliste in den Bundestag. Dort war er ab 2005 verkehrspolitischer Sprecher seiner Fraktion, 2009 übernahm er den Vorsitz des Verkehrsausschusses im Bundestag. sb Hermann fordert eine offene Debatte über neue Einnahmequellen für den Verkehrsetat Der Grünen-Politiker Winfried Hermann leitet seit acht Monaten das Verkehrsressort in Baden-Württemberg Interview Interview Interview Standpunkte Herr Hermann, sind Sie für oder gegen ...  mehr Geld für die Verkehrsinfrastruktur?  den Grundsatz „Erhalt geht vor Neubau“?  die Konzentration der Mittel auf die Hauptverkehrsachsen?  eine PKW-Vignette?  den Feldversuch mit Lang-LKW?  den Einsatz des verlängerten Trailers?  die Stärkung der Binnenschifffahrt?  den Ausbau der Rheintalstrecke?

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