Brüssel. Achteinhalb Monate vor dem britischen EU-Austritt hat die EU-Kommission alle staatlichen Stellen und die Wirtschaft ermahnt, sich für einen möglichen harten Bruch ohne Vertrag zu wappnen. Dieses Szenario sei weiter möglich, erklärte die Brüsseler Behörde am Donnerstag. EU-Chefunterhändler Michel Barnier und sein neuer britischer Gesprächspartner Dominic Raab betonten aber bei ihrem ersten Treffen, weiter mit Volldampf einen Kompromiss zu suchen.
Großbritannien verlässt die Europäische Union am 29. März 2019. Beide Seiten sind sich zwar einig über Eckpunkte eines Austrittsvertrags und eine knapp zweijährige Übergangsfrist bis Ende 2020. Noch gibt es aber keine Lösung für wichtige Knackpunkte. Der schwierigste: die Vermeidung von politisch heiklen Kontrollen zwischen dem EU-Staat Irland und dem britischen Nordirland.
Versicherung für jede Lage nötig
EU-Unterhändler Barnier sagte: „Es ist noch nicht geschafft.“ Nötig sei eine in jedem Fall umsetzbare Lösung für die irische Grenzfrage – der sogenannte Backstop. „Wir brauchen eine Versicherung für jede Wetterlage“, sagte Barnier. Im Übrigen müsse man nun über die „politische Erklärung“ mit Blick auf die langfristigen Beziehungen beider Seiten sprechen. Die EU habe Großbritannien schon im Frühjahr eine „beispiellose Partnerschaft“ nicht nur beim Handel, sondern auch bei Sicherheitsfragen angeboten.
Der neue britische Brexit-Minister Domenic Raab will der EU nach eigenen Worten das neue Weißbuch seiner Regierung für die langfristigen Beziehungen vorstellen und rasche Fortschritte erreichen. Man gehe mit neuer Energie und neuem Nachdruck in die Verhandlungen und sei fest entschlossen, sie intensiver voranzutreiben, sagte er beim Antrittsbesuch in Brüssel.
Raab ist im Amt, weil der bisherige Brexit-Minister David Davis den in Großbritannien umstrittenen Weißbuch-Vorschlag ablehnte. Dieser stößt auch in der EU auf Skepsis. Kern ist eine Freihandelszone nur für Waren, aber nicht für Dienstleistungen, und ein höchst kompliziertes Zollarrangement beider Seiten, das auch Kontrollen in Irland vermeiden soll.
Vorbereitungen für Plan B laufen
Wegen der Schwierigkeiten auf beiden Seiten treiben sowohl London als auch Brüssel parallel zu den Verhandlungen auch ihre Vorbereitungen für den Fall eines Scheiterns voran. Kommt kein Vertrag zustande, gäbe es auch keine Übergangsfrist. Dann müssten sofort nach dem Austritt Zoll- und Warenkontrollen eingeführt werden, die an den EU-Grenzen zu Großbritannien lange Wartezeiten brächten.
Für Autobauer und andere Unternehmen, die Teile zur Produktion über die Grenze hin und her transportieren, würde dies zu Problemen führen. Sie müssten zum Beispiel größere Lager bauen oder ihre Produktionsketten ändern. Befürchtet werden für das „No-Deal-Szenario“ auch Lieferengpässe bei Lebensmitteln in Großbritannien und Chaos im Flugverkehr.
Paket soll bis Oktober vorliegen
Auch für die Zukunft der EU-Bürger in Großbritannien und Briten auf dem Kontinent gäbe es dann keine rechtsverbindlichen Regeln. Diese haben beide Seiten zwar bereits ausgehandelt. Doch träten auch sie nur mit einer Gesamtlösung in Kraft. Ziel beider Seiten ist es, das Paket bis Oktober fertig zu haben und dann im Europaparlament und im britischen Parlament billigen zu lassen.
Geht alles nach Plan, wären die Konsequenzen direkt nach dem Austrittsdatum überschaubar - größere Veränderungen kämen dann erst nach der Übergangsphase 2021. Auch bei einer funktionierenden Verhandlungslösung werde es „zweifelsohne Störungen“ geben, zum Beispiel in den grenzüberschreitenden Lieferketten, warnt die Kommission. (dpa/ag)