Brüssel. In den Streit der EU-Staaten über ein milliardenschweres Corona-Konjunkturprogramm soll ein neuer Vorschlag von Ratschef Charles Michel Bewegung bringen. Neu sind vor allem konkrete Pläne zur Rückzahlung der vorgesehenen EU-Schulden, unter anderem mit einer Plastikabgabe ab 2021. Auch sollen die EU-Staaten Kontrolle erhalten, wie die Krisenhilfen verteilt werden. Doch bleibt der Knackpunkt unverändert: der Umfang des Aufbauplans von 750 Milliarden Euro und die Vergabe des Großteils als Zuschüsse.
Michel präsentierte seinen Vorschlag am Freitag in Brüssel – genau eine Woche vor einem zweitägigen EU-Sondergipfel zum Thema. „Ich möchte eine Brücke zwischen den verschiedenen Meinungen bauen“, sagte der Belgier. Jetzt liege ein konkreter Plan für die weiteren Verhandlungen auf dem Tisch. Michel räumte aber ein, dass noch intensive Gespräche nötig seien.
Ein EU-Diplomat eines größeren Mitgliedsstaats nannte den Vorschlag eine gute Verhandlungsgrundlage und einen wichtigen Schritt zu einer Einigung beim Gipfel. Allerdings werde wohl „nicht jeder mit allem übereinstimmen und es wird intensive Verhandlungen geben“.
Schulden sollen gemeinsam über den EU-Haushalt getilgt werden
Die EU-Kommission hatte Ende Mai einen über Schulden finanzierten Corona-Wiederaufbauplan im Umfang von 750 Milliarden Euro vorgeschlagen, davon 500 Milliarden Euro als Zuschüsse. Dieses Geld müsste nicht von den Empfängern zurückgezahlt werden. Vielmehr sollen die Schulden gemeinsam über den EU-Haushalt getilgt werden.
Der Punkt ist im Kreis der 27 Staaten äußerst umstritten. Die sogenannten Sparsamen Vier – die Niederlande, Österreich, Schweden und Dänemark – haben Einspruch eingelegt. Dennoch bleibt Michel bei den Eckpunkten: 750 Milliarden Euro, davon zwei Drittel als Zuschüsse.
Änderungen schlägt der Ratschef beim siebenjährigen EU-Haushaltsrahmen vor, der mit dem Wiederaufbauplan im Paket verhandelt wird. Dafür hatte die Kommission 1,1 Billionen Euro vorgesehen – Michel will nur 1,074 Billionen Euro, also etwa 26 Milliarden Euro weniger auf sieben Jahre. Für die Nettozahler Deutschland, Österreich, Dänemark, die Niederlande und Schweden soll es weiter Beitragsrabatte geben – ein Zugeständnis an die „Sparsamen Vier“.
Einige wichtige Neuerungen schlägt er auch im Detail vor. So hatte es Kritik an den Vorschlägen der Kommission zur Verteilung der Krisenhilfen gegeben. Sie wollte wichtige Wirtschaftsdaten aus den Jahren 2015 bis 2019 zugrunde legen, also vor der Corona-Krise. Michel plädiert dafür, nur 70 Prozent der Zuschüsse aus dem sogenannten Aufbau- und Resilienzinstrument auf diese Weise zu verteilen und 30 Prozent dann ab 2023 auf Grundlage der tatsächlichen Krisenfolgen.
Konkreter ist Michels Vorschlag auch bei der Rückzahlung der 750 Milliarden Euro Schulden, die die EU-Kommission im Namen der EU aufnehmen will. Dafür will er der EU neue eigene Einnahmen verschaffen, nämlich bereits ab 2021 eine Abgabe auf Plastikabfälle. Zweite Geldquelle könnte eine Abgabe auf importierte und nicht klimafreundliche Waren sein, genannt „Carbon Border Adjustment Mechanism“. Hinzu könnten Teile der Einnahmen aus dem Europäischen Emissionshandel kommen sowie weitere Einkünfte etwa aus einer neuen Digitalabgabe.
Mit Hilfe dieser Einnahmen soll ab 2026 begonnen werden, die EU-Schulden abzutragen. Das war vor allem Deutschland wichtig, den Start der Tilgung nicht zu weit hinauszuschieben. Die EU-Kommission wollte erst 2028 beginnen und die Rückzahlung bis 2058 abschließen.
Fünf Milliarden Euro als Brexit-Notfallreserve
Neu ist in Michels Vorschlag auch eine fünf Milliarden Euro schwere Brexit-Notfallreserve im EU-Haushalt einrichten. Das Geld könnte im Fall der Fälle unvorhergesehene Folgen für besonders schwer vom Brexit betroffene EU-Staaten und Wirtschaftsbranchen lindern. Großbritannien hat die EU Ende Januar verlassen, ist aber noch bis Jahresende Mitglied des europäischen Binnenmarkts und der Zollunion. Danach droht ein wirtschaftlicher Bruch.
Vergleichsweise vorsichtig geht Michel mit Forderungen um, die Vergabe von EU-Geldern künftig ganz klar von der Einhaltung rechtsstaatlicher Standards abhängig zu machen. Mittel sollen demnach nur dann gekürzt werden können, wenn es im Rat der Mitgliedstaaten eine qualifizierte Mehrheit aktiv zustimmt.
Der Grünen-Haushaltsexperte Rasmus Andresen nannte Michels Vorschlag zum Rechtsstaatsmechanismus enttäuschend. „Sein Vorschlag macht es Viktor Orban und anderen zu einfach, im Rat den Entzug von Fördermitteln zu blockieren“, monierte Andresen mit Blick auf den ungarischen Ministerpräsidenten, dessen Rechtsstaatspolitik in der EU sehr umstritten ist. (dpa/ja)