"Ein untragbarer Zustand für Logistiker"

Der VCI hat eine Initiative Verkehrsinfrastruktur gegründet. Warum? Die Chemieindustrie ist eine transportintensive Branche, die auf eine funktionierende und leistungsstarke Infrastruktur angewiesen ist. 2013 haben wir 221 Millionen Tonnen Chemikalien transportiert. Damit verantworten wir 6 Prozent des gesamten Güterverkehrsaufkommens in Deutschland. 80 Prozent unserer Produktion gehen an industrielle Weiterverarbeiter und wir versenden unsere Produkte durch ganz Deutschland. Dabei stellen wir fest, dass alle Verkehrsträger zum Teil gravierende Probleme mit der Infrastruktur haben. Wo ist die Not am größten? Uns bereiten vor allem die Straßenbrücken in Westdeutschland Sorgen; dort sind viele Brücken 40 Jahre und älter. Schon wenn die Transportmenge gleich bliebe, wäre die Belastung kaum noch zu verkraften. Jetzt soll aber bis 2030 das Aufkommen nochmals um 39 Prozent zunehmen. Werden immer mehr Brücken gesperrt, gefährdet das die Logistikketten in der Chemieindustrie und damit unsere Wettbewerbsfähigkeit. Der Staat hat es versäumt, hier frühzeitig etwas zu tun. Deshalb wollen wir darauf drängen, dass diese Versäumnisse aufgeholt werden. Steht die Straße beim VCI auch deshalb im Blickpunkt, weil die Chemieindustrie mehrheitlich den LKW einsetzt? In der Tat wird in der Chemieindustrie etwa 60 Prozent der gesamten Verkehrsleistung durch den LKW erbracht. Zu knapp 14 Prozent nutzen wir die Schiene. 10 Prozent entfallen auf die Binnenschifffahrt, der Rest auf das Seeschiff und das Flugzeug. Wir betrachten jedoch alle Verkehrsträger als wichtig und unverzichtbar. Für die eingehenden Transporte nutzen unsere Unternehmen beispielsweise bis zu 50 Prozent das Binnenschiff: Wir können damit große Mengen umweltfreundlich und sicher transportieren. Ein solches Volumen können die Unternehmen nicht mit dem LKW befördern. Und die Schiene kommt oftmals nicht infrage, weil Anschlussgleise fehlen. Die Chemieindustrie ist jedoch bestrebt, Transporte von der Straße auf die Bahn und das Binnenschiff weiter zu verlagern. Aber dort läuft auch nicht alles reibungslos. Das stimmt. Das Binnenschiff ist zum einen saisonal anfälliger: Bei Niedrigwasser beispielsweise können die Unternehmen nicht so viel transportieren und müssen zusätzlich noch Kleinwassergeld zahlen. Aber auch die Wasserwege sind teilweise in einem miserablen Zustand. Die Schleusenprobleme im Nord-Ostsee-Kanal verdecken, dass der Zustand von Schleusen auf anderen Wasserstraßen zum Teil ebenfalls nicht besonders gut ist. Ich bin an der Schleuse Friedrichsfeld am Wesel-Datteln-Kanal gewesen, durch die jährlich 19.000 Schiffe fahren. Dort haben Schiffe bis zu 32 Stunden warten müssen, weil eine Schleuse bereits nicht mehr funktioniert. Jetzt müssen alle Schiffe, die in den Kanal hinein- und herausfahren wollen, durch eine einzige Schleuse. Für Logistiker ein untragbarer Zustand. Es ist jetzt sogar zu befürchten, dass die Schleuse aufgrund der Belastung völlig ausfällt. Und bei der Schiene? Auch dort sind Tausende von Brücken renovierungsbedürftig. Hinzu kommt das Thema Lärm. Hier laufen Bemühungen mit allen Beteiligten auf Hochtouren, um die Züge leiser zu machen. Der zeitliche und finanzielle Aufwand, die Waggons mit entsprechenden Bremssohlen auszurüsten, ist jedoch enorm. Ist der Zustand der Infrastruktur in Deutschland schon so kritisch, dass die Gefahr besteht, dass Chemie-Unternehmen ihren Standort verlagern? Es gibt wohl kein Unternehmen, das ausschließlich aufgrund von Mängeln bei der Infrastruktur seinen Standort aufgibt. Aber die Verkehrsinfrastruktur als Entscheidungsfaktor bei der Standortfrage spielt definitiv eine weitaus wichtigere Rolle als noch vor fünf Jahren. Denn wir sind eine Industrie, die nicht nur ihre Produkte zum Kunden bringen muss, sondern auch ihre Rohstoffe über Tausende von Kilometern nach Deutschland holt und dabei einen engen Zeitplan einhalten muss. Dafür benötigen wir eine funktionsfähige Infrastruktur. Wie passt das dann zusammen, dass Deutschland zu Beginn des Jahres zum Logistikweltmeister gekürt worden ist? Man kann ja nicht Weltmeister werden, wenn die Infrastruktur marode ist. Bei der Studie der Weltbank, auf der die Auszeichnung beruht, ist nicht die Leistungsfähigkeit der Infrastruktur gemessen worden. Es sind andere Aspekte in die Bewertung eingegangen: die Vernetzung, das Angebot an Dienstleistungen, rechtliche Rahmenbedingungen. Es gibt ein Ranking des Weltwirtschaftsforums zum Zustand der Straßen. 2008 hat Deutschland noch Platz vier belegt, also einen sehr guten Rang. 2013 reichte es noch zu Platz elf und für 2014 rechne ich mit einem noch schlechteren Ergebnis. Ein klares Signal, dass wir auch bei der Qualität der Infrastruktur an Grenzen stoßen. Können Sie beziffern, welche Verluste mit der zunehmend schlechteren Infrastruktur für die chemische Industrie verbunden sind? Nein, aber wir beabsichtigen zum Beispiel einen Infrastrukturindex aufzulegen, der sich mit dem Zustand der Infrastruktur und den Folgen für die Wirtschaft befasst. Für einzelne neuralgische Punkte gibt es Berechnungen. So zum Beispiel für die Sperrung der Leverkusener Rheinbrücke. Alleine die Umfahrten während der dreimonatigen Sperre haben zu volkswirtschaftlichen Kosten in Höhe von 80 Millionen Euro geführt. Die Speditionen können aufgrund der Umwege weniger Rundläufe mit ihren LKW fahren. Die Standzeiten nehmen zu, weil die Ankunft der LKW unberechenbar wird. Jeder Umweg kostet Zeit und Geld für Kraftstoff und Maut. Und an anderen Brücken kommt es zu Überbelastungen, zu mehr Staus, die die Verkehrswege wieder stärker belasten. Was soll der geplante Infrastrukturindex abbilden? Es gibt einen Index in den USA, der die Qualität der einzelnen Verkehrsträger bemisst. Wir prüfen einen vergleichbaren Index, um besser zu dokumentieren, was es eigentlich bedeutet, wenn Transporte ausfallen, wie viel Geld das kostet, welche Leistungen nicht mehr erbracht werden können. Wir wollen die betriebswirtschaftliche Brille ab- und die volkswirtschaftliche Brille aufsetzen. Dazu braucht man Vergleiche, die heute noch nicht verfügbar sind. Wann kann man mit einer Veröffentlichung des Index rechnen? Ich hoffe, dass dies im Laufe des Jahres 2015 so weit sein wird. Gibt es Verladerverbände aus anderen Branchen, die ihrem Beispiel folgen oder ist der VCI der einsame Rufer in der Wüste? Es gibt viele Verlader aus anderen Branchen, die sich ebenfalls für das Thema interessieren und sich engagieren. Wir arbeiten mit anderen Industriezweigen sehr gut zusammen und haben natürlich über den Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) sehr enge Kontakte. Für den BDI ist die Verkehrsinfrastruktur inzwischen eines der wichtigsten Themen. Gut so. In der Politik ist die Einsicht ja durchaus vorhanden, mehr zu investieren. Allein es fehlt das Geld. Woher soll das kommen? Eigentlich ist das Geld da. Wir wissen von der Bodewig- beziehungsweise der Daehre-Kommission, dass Deutschland die nächsten 15 Jahre zusätzlich 7,2 Milliarden Euro jährlich investieren muss, um die Lücke zu schließen. An Steuermitteln fließen dem Staat durch den Verkehr über 50 Milliarden Euro zu; ein Teil davon aus der Mineralölsteuer, das sind über 30 Milliarden Euro. Die Einnahmen aus der Mineralölsteuer sollen laut Straßenbaufinanzierungsgesetz zu 50 Prozent wieder in die Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen fließen, also zweckgebunden verwendet werden. Das ist nicht so zu verstehen, dass die Hälfte der heutigen Einnahmen zweckgebunden verwendet wird, sondern es bezieht sich auf Einnahmen, die auf den Steuersätzen aus den 70er-Jahren beruhen. Jedes Jahr wird dies im Rahmen der Haushaltsplanung neu verhandelt. Ist die Erhöhung oder Ausweitung der LKW-Maut eine Alternative? Die LKW-Maut sollte eine zweckgebundene Abgabe sein. Das ist in der Vergangenheit de facto nicht so gehandhabt worden. Solange eine eindeutige Zweckbindung nicht vorliegt, halte ich die Erhöhung der LKW-Maut für nicht geeignet. Kommt von Ihnen auch ein Nein zur PKW-Maut? Die PKW-Maut kann aus meiner persönlichen Sicht grundsätzlich ein sinnvolles Instrument sein. Aber auch hier gilt: Die Zweckbindung muss vorliegen. Und ich würde dafür plädieren, EU-weit ein einheitliches System zu etablieren. Sämtliche Gelder im Bundeshaushalt sind verplant. Wem wollen Sie Geld wegnehmen? Es sind in der letzten Zeit Entscheidungen getroffen worden, die man in der Form und in der Ausprägung durchaus hätte überdenken können. Grundsätzlich: Mir fehlt eine Gesamtbetrachtung der Volkswirtschaft. Die Infrastruktur ist eine solche Aufgabe, die uns alle betrifft, da wir sie alle nutzen, und die wesentlich für die Wettbewerbsfähigkeit der gesamten Wirtschaft ist. Wenn wir hier nicht rechtzeitig auf den Modernisierungszug aufspringen, fährt die Weltwirtschaft ohne uns ab und das wird die deutsche Wirtschaft nachhaltig schädigen. Deshalb die klare Antwort: Keine Steuererhöhung für die Verkehrsinfrastruktur, stattdessen eine Umverteilung der bestehenden Einnahmen. Sie sind seit neun Monaten Sprecher der VCI-Initiative. Hat sich schon was bewegt oder ist das eine Aufgabe, die einfach Zeit braucht? Die meisten Politiker zeigen schnell Verständnis für die Notwendigkeit, dass wir mehr für die Verkehrsinfrastruktur tun müssen. Aber letztlich müssen wir die Haushaltspolitiker überzeugen, dass mehr Geld für die Infrastruktur bereitgestellt wird. Diesen Dialog führen wir gerade. Wir gehen dazu Allianzen mit anderen Industriezweigen ein. Ich glaube, dann können wir erfolgreich sein. Was macht Sie so zuversichtlich? Derzeit fließt ja schon etwas mehr Geld in die Verkehrsinfrastruktur. Das ist ein Erfolg. Viele Haushälter sind aufgeschlossener, so sind sie zum Beispiel jetzt bei Podiumsdiskussionen dabei. Ich werbe außerdem dafür, die Planungskompetenz stärker bundesweit zu bündeln und so eine schnellere Umsetzung zu erreichen. Sinnvoll wäre auch ein nachvollziehbares Prioritätsraster. Seit Juli sind Sie auch Vorsitzender des Deutschen Seeverladerkomitees (DSVK) im BDI. Sind die Urteile des Bundesverwaltungsgerichtes zur Elbe- und Weservertiefung ein herber Rückschlag für die maritime und verladende Wirtschaft? Das Bundesverwaltungsgericht will noch Fragen durch den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg geklärt wissen, bevor es eine endgültige Entscheidung trifft. Dennoch hätten wir uns natürlich eine Entscheidung für eine Fahrrinnenanpassung gewünscht, da es wichtig ist, dass Hamburg als der größte Exporthafen Deutschlands und Bremerhaven für den Trend zu immer größeren Schiffen gewappnet sind. Wenn die Vertiefung nicht kommt, wie reagiert dann die Industrie? Geht sie dann nach Rotterdam oder Antwerpen? Oder kommt Wilhelmshaven zum Zug? Die Fahrrinnenanpassung muss und wird kommen. Ist für Sie fix, dass der Jade-Weser-Port mehr Mengen bekommen wird? Davon gehe ich schon aus. Derzeit schließen sich die großen Containerreedereien zusammen. Ist das aus Sicht der Industrie eher vorteilhaft oder ein Nachteil? Wir haben immer die Wettbewerbskonformität vor Augen: Die wird stark geprägt durch die Transparenz. Groß-Allianzen können dann sinnvoll sein, wenn durch Skaleneffekte zum Beispiel Kosten und Preise für Reeder und Kunden sinken. Weniger Wettbewerb kann aber zu steigenden Preisen für die Seeverlader führen. Die Transparenz über mögliche Auswirkungen von Kooperationen ist entscheidend. Ist nicht zu befürchten, je marktmächtiger die andere Seite wird, desto eher steigen dann die Frachtraten? Wir wollen nicht, dass durch die Zusammenschlüsse eine zu große Marktmacht entsteht, die uns dann die Preise vorschreibt. Zum 1. Januar 2015 gelten schärfe Grenzwerte für den Schwefelgehalt von Schiffskraftstoffen in der Nord- und Ostsee. Müssen Sie damit rechnen, dass die verladende Industrie mehr zahlen muss für damit verbundene Zusatzkosten? Die Herabsetzung der Schwefelgrenzwerte dient dem Schutz von Umwelt und Gesundheit unter anderem in den Küstenregionen. Das ist richtig. Nur ist eine Umsetzung mit Augenmaß gefordert. Das DSVK setzt sich dafür ein, dass die Um- beziehungsweise Nachrüstung von Schiffen nicht zu einer Verteuerung von Seetransporten führen darf. Ist eine Verlagerung von Transporten auf den Landweg vorstellbar? Ich finde es verwunderlich, warum die neuen Bestimmungen nur in Nordamerika und in der Nord- und Ostsee gelten. Ich halte es für denkbar, dass Reeder künftig die Mittelmeerhäfen anfahren, um dann über die Gotthard-Strecke Container nach Deutschland zu bringen. Ist LNG, also Flüssigerdgas, als Kraftstoff eine Alternative? LNG ist für mich die Zukunft. Aber die Umsetzung braucht Zeit, da weder die Schiffe so schnell umgerüstet werden können noch ein entsprechendes Netz an Tankstellen in den Häfen zur Verfügung steht. Und auch hier sind Investitionen in Millionenhöhe erforderlich. Die Rahmenbedingungen müssen stimmen, dazu gehören der Aufbau einer weltweit harmonisierten Versorgungsinfrastruktur, einheitliche Standards und Anreizsysteme für Umrüstmaßnahmen. Vita Gerd Deimel Gerd Deimel ist am 7. Juni 1956 in Köln geboren. Der Chemiker begann 1977 als naturwissenschaftlicher Trainee bei der Bayer AG in Leverkusen. Im Zuge der Neuorganisation des Bayer-Konzerns wurden Anfang 2005 die meisten der Chemie- und ein Drittel der Kunststoffaktivitäten in den neu gegründeten Lanxess Konzern überführt. Deimel wechselte damit zu Lanxess. Dort wurde er 2008 zum globalen Logistik-Chef ernannt. Bis 2013 verantwortete er das weltweite Logistik-Management, die Transporte und den weltweiten Einkauf der Transport-Logistik.Seit Januar 2014 ist Gerd Deimel hauptamtlich Leiter der Initiative Infrastruktur des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI) in Deutschland. Im Juli 2014 wurde er zudem zum Vorsitzenden des Deutschen Seeverladerkomitees (DSVK) im Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) gewählt. cd Verband VCI Im Verband der Chemischen Industrie (VCI) sind 1650 Unternehmen organisiert. Nach Angaben des Verbandes repräsentieren die Mitglieder 90 Prozent des Chemieumsatzes in Deutschland. 2013 erzielte die chemische Industrie einen Umsatz von über 190 Milliarden Euro. Die Branche beschäftigt 438.000 Mitarbeiter, davon 20.000 Auszubildende.Anfang des Jahres 2014 hat der VCI dann die Initiative "Verkehrsinfrastruktur" gestartet. Acht Unternehmen aus dem VCI-Ausschuss Verkehr und Logistik beteiligen sich aktiv daran. Der Verband will die Politik und deren Entscheidungsträger dort beraten, wo seiner Meinung nach zügig gehandelt werden muss, um den weiteren Verfall der Verkehrsinfrastruktur zu stoppen. Dazu hat der VCI im Juni 2014 auch ein Positionspapier mit dem Titel "Forderungen der chemischen Industrie an die Verkehrspolitik" veröffentlicht. cd

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