E-Actros 600 im VR-Lkw-Test

Das sind wahrlich ungeeignete Bedingungen! Es ist kalt, regnet in Strömen, dazu weht ein starker Wind aus unkalkulierbaren Richtungen. Wetterphänomene, die Elektro-Laster bekanntlich mit einem deutlich erhöhten Stromverbrauch quittieren, der die Reichweite im freien Fall nach unten purzeln lässt. Und Reichweite ist jetzt gefragt: Als erster Groß-Serienhersteller will Mercedes-Benz seinen E-Actros 600 über die Supertest-Runde schicken - und zwar ohne dabei einen zeitraubenden Ladestopp einlegen zu müssen. Ein Vorhaben, dessen Gelingen beim Blick in die Wetter-App alles andere als sicher erscheint. Den begleitenden Daimler-Werksfahrer scheint aber vorrangig eine andere Sorge zu beschäftigen: "Schreib bloß nichts über die Spaltmaße!", schärft er dem VR-Redakteur ein. Schließlich handelt es sich bei diesem Actros noch um ein Exemplar des werksintern genannten Entwicklungsstandes "Reifegrad C", bei dem viele Details noch nicht auf dem Stand des voraussichtlich ab Dezember lieferbaren Serienmodells sind. Am Antriebsstrang seines schwersten Strom-Modells wird Mercedes-Benz allerdings nichts mehr ändern. Wie es der Hersteller gern erwähnt, handelt es sich beim 600er um einen konsequent auf den Elektroeinsatz entwickelten Lkw. Dessen Herzstück versteckt sich hinten, in Form der E-Achse, an der die beiden Synchron-Elektromotoren, samt dem selbstentwickelten Planeten-Getriebe mit vier Vorwärtsgängen direkt angeflanscht sind. Platz für eine Kardanwelle muss so nicht vorgehalten werden, weshalb er für Batterien zur Verfügung steht. Drei der sogenannten Akkustacks à 1,5 Tonnen Gewicht bringt Mercedes-Benz so am Rahmen unter. Und zwar quer zur Fahrtrichtung gelagert, was laut den Ingenieuren im gleichen Zug Vorteile in Sachen passive Sicherheit bietet. Im Falle eines Seitenaufpralls können die Akkus nämlich zur unfallabgewandten Seite nachgeben und so Kräfte absorbieren. Technische Daten Motoren Vollelektrische#r Antrieb über 2 permanenterregte, 3-phasige Synchron-Elektromotoren, vor Hinterachse angeordnet, Wasserkühlung; Leistung: 2 x 200 kW (272 PS), Gesamtleistung: 400 kW (544 PS), Gesamtleistung im Peak: 628 kW (854 PS) maximales Drehmoment: keine Angabe Service: fortlaufend alle 13 und 18 Monate (hier vorrangig Sichtprüfungen der Hochvolt-Steckverbindungen) Kraftübertragung automatisiertes Planeten-Getriebe vor Antriebsachse angeordnet (Hersteller: Daimler Truck), 4 Vorwärtsgänge, 1 Rückwärtsgang, Kriechmodus, Holdfunktion, Differenzial, elektrischer Nebenabtrieb optional Batterien & Ladezeiten Lithium-Eisen-Phosphat-Akkus, modularer Aufbau, Brutto-Kapazität pro Stack: 207 kWh, Netto-Kapazität pro Stack: 200 kWh, Nettokapazität Testfahrzeug: 600 kWh, bestehend aus 3 Batteriestacks, Ladeleistung CCS: max. 400 kW, Ladeleistung MCS-Megawattladen (noch nicht erhältlich): max. 1000 kW Ladezeiten CCS (20 auf 80%): ca. 60 min Ladezeiten MCS (20 auf 80%): ca. 30 min Fahrwerk vorn: 9,0-t-Lenkachse, serienmäßig Zweibalg-Luftfederung hinten: 13,0-t-Elektroachse, Vierbalg-Luftfederung Maße & Gewichte Radstand: 4000 mm, Leergewicht (Test-SZM): ca. 11.600 kg Technisches Gesamtgewicht: 22.000 kg 600 kWh Netto-Kapazität an Bord Vor allem aber lässt sich ordentlich Energie mitnehmen. 200 Kilowattstunden (kWh) Nettokapazität bietet jedes Batteriestack, macht 600 kWh in Summe. Genug Strom für 500 Kilometer verspricht der Hersteller, auch wegen anderer kleinerer Details zur Effizienzverbesserung - beispielsweise die beiden Kühl-Kreisläufe, die miteinander interagieren können. Bewertung Mercedes-Benz E-Actros 600 Motor/Antrieb (max. 140)Getriebe/Kupplung (max. 140)Bremsen (max. 120)Lenkung (max. 40)Pedale (max. 20)Fahrverhalten (max. 60)Sicht (max. 50) Klima/Lüftung (max. 50)Sitze (max. 40)Armaturen/Instrumente (max. 50)Scheibenwischer (max. 30)Fahrerhaus (max. 240)Gesamtwertung (max. 980): 1341321063416544640324024206864 Testurteil + sehr komfortabler Antriebsstrang, der bei Bedarf "Bärenkräfte" liefert, äußerst leise Geräuschkulisse, für einen BEV-Lkw vergleichsweise hohe Reichweite - hoher Anschaffungspreis, der aktuell ohne Förderung zu stemmen ist, hohes Leergewicht, eingeschränkte Reichweite, teils umständliche Bedienung Hat der eine Wärme übrig, kann er diese an den anderen abgeben, beispielsweise um damit die Batterien auf ihrer Wohlfühl-Temperatur zu halten. Das steigert die Effizienz. Aber reicht all das, um das unbestechliche Wetter zu besiegen? Schließlich haben wir sogar bei Sonnenschein oft genug lernen müssen, dass Reichweiten-Angaben in der Praxis im wahrsten Sinne auf der Strecke bleiben. Testfahrt mit 36 Tonnen Gewicht Wir starten mit 100 Prozent Akku-Kapazität direkt von der Hochleistungs-Ladesäule und satteln noch schnell unseren auf 24 Tonnen ausgeladenen Test-Trailer von Krone auf. Mit dem kommen bereits knapp 36 Tonnen Zug-Gesamtgewicht zustande; denn mit 11,6 Tonnen ist die zweiachsige Sattelzugmaschine alles andere als ein Leichtgewicht. Da hilft selbst die Einsicht des Gesetzgebers nicht vollends, E-Lkw zwei Tonnen mehr Gesamtgewicht zuzugestehen - wobei eine Erhöhung auf vier Tonnen aktuell im Gespräch ist. Verbräuche und Geschwindigkeiten: 342,8-km-Teststrecke kWh/100 km km/h Autobahn medium (40 t)A 9 Allershausen - A 93 Regensburg 100,00 81,84 Autobahn hügelig (40 t)A 3 Regensburg - Nürnberg 120,50 80,29 Autobahn Rolletappe (40 t)A 9 Nürnberg - Langenbruck 111,40 82,89 Landstraße (40 t)Langenbruck - Dasing 109,20 61,52 Autobahn leicht (40 t)A 8 Dasing - A 99 AS M-Ludwigsfeld 111,60 82,41 Durchschnitt (gewichtet): 112,00 78,04 Bergwertung Autobahn (Kindinger Berg, A 9) Zeit: 3,33 min, Vmin 72 km/h, Gang: 3 Wer übrigens fürchtet, seine bestehenden Beladungspläne für den E-Actros ändern zu müssen, um ein Überladen der 13-Tonnen-Hinterachse zu verhindern, den können die Daimler-Leute beruhigen. Denn sie behelfen sich mit einem Trick. Weil die Stromer auch etwas länger sein dürfen, rückten die Entwickler einfach die Sattelplatte um einige Zentimeter nach hinten. Zusammen mit der Tatsache, dass das Eigengewicht des E-Actros vorrangig auf der Vorderachse lastet, wird so eine Überlastung der Triebachse verhindert. Wobei ein gewisser Druck auf den Antriebs-rädern auch von Vorteil ist. Energieeffizienz im Vergleich MB E-Actros 600 MB Actros 1848 Diesel*1 Verbrauch Testrunde pro 100 km*2 112 kWh/100 km 23,04 l/100 km*3 Verbrauch Testrunde pro km*2 1,12 kWh/km 0,2304 l/km Energieverbrauch pro km 1,12 kWh/km 2,26 kWh/km*4 *1: siehe VR 20/2023 *2: VerkehrsRundschau-Profitest-Runde: 342,8 km *3: Ohne AdBlue-Anteil *4: Diesel: Dichte 830 kg/m³ flüssig, Heizwert 11,8 kWh/kg = 9,8 kWh/l Zwei mal 314 Kilowatt stehen im Peak zur Beschleunigung bereit. Altmodisch ausgedrückt, entspricht das der Kraft von nicht weniger als 854 PS! Entsprechend spielerisch rollt der Sattelzug bereits kurz nach dem Beschleunigungsstreifen mit Reisetempo 85 dahin. Zusammen mit der elektrotypisch flüsterleisen Geräusch-kulisse würde so echte Wohlfühl-Atmosphäre in der StreamSpace-Kabine aufkommen - wäre da nicht das Wetter, das merklich an unseren Stromreserven zu nagen beginnt. Schon nach wenigen Kilometern sind zehn Prozent der Akku-Kapazität weg! Unwillkürlich fängt im Kopf der Rechenprozess an: Wie viele Kilometer liegen noch vor uns und welche energiefressenden Steigungen warten noch auf der Strecke? Zudem wirft der Beifahrer mehrere Blicke in die WetterApp mit Hoffnung auf Besserung. "Range" bedeutet Vernunft Damit ist heute aber kaum zu rechnen, stattdessen rollen wir den ersten Messberg unserer Teststrecke hinauf. Bewusst rollen und nicht rasen, wie es angesichts der 854 PS problemlos möglich wäre. Die volle Kraft entfaltet der E-Actros aber nur im Fahrprogramm "Power", mit dem keine Kilometer-Rekorde drin sind. Deshalb fahren wir brav in "Range", das auf höchste Reichweite programmiert ist und 70 Prozent der möglichen Power freigibt. An mancher Steigung geht es damit dann aber doch zu langsam bergauf und wir wechseln am rechten Lenkstock-Hebel kurz auf "Economy". Damit gibt´s bis zu 85 Prozent der Maximalpower - genug, um an den meisten Dieselkollegen locker vorbeizuziehen. Das geschieht stets im dritten Gang, die vierte und damit höchste Fahrstufe nutzt der 600er ab knapp 70 km/h vorrangig in der Ebene. Keine Unterschiede zum Diesel finden sich bei den anderen Regelsystemen, GPS-Tempomat oder Abstandsregler funktionieren auf bekannt hohem Niveau. Selbst ein Freilauf-Modus ähnlich Eco-Roll ist hinterlegt. Das alles hilft elektrische Energie zu sparen. Und auch wenn der Regen weiterhin gegen die Frontscheibe prasselt und Windböen die Sonnenblende, die dieses Testfahrzeug in ungewohnter Weise ziert, zum Pfeifen bringen, stellt sich bei der Actros-Besatzung vorsichtiger Optimismus ein. Bei knapp der Hälfte unserer Strecke vermeldet die Akku-Anzeige auf dem Bildschirm rechts in der Mittelkonsole noch 59 Prozent. Und ab hier wird die Strecken-Topografie eher leichter als schwerer - könnte es also reichen? Es reicht und am Ende deutlicher als erwartet! 363 gefahrene Kilometer vermeldet der Bordrechner nach der Testrunde und die Restkapazität steht noch bei 29 Prozent. Die vom Hersteller angegebenen 500 Kilometer wären also heute tatsächlich drin gewesen. Im Durchschnitt flossen dabei 112 kWh/100 km durch die beiden Elektro-Motoren; bei besserem Wetter könnte man diesen Wert vermutlich noch deutlich unterbieten. Doch auch so beweist diese Testfahrt einmal mehr die unschlagbare Energieeffizienz des batterieelektrischen Antriebs. Denn ein vergleichbarer Actros L 1848 hatte unseren Krone-Auflieger mit durchschnittlich 23 l/100 km Diesel über die gleiche Strecke gezogen, die umgerechnet einem Verbrauch von 226 kWh entsprechen. Bremsen produziert Energie Großen Anteil an der angesprochenen Effizienz des E-Antriebs hat die Tatsache, dass Bremsenergie hier eben nicht als Wärme einfach so verpufft. Vielmehr mutieren die beiden E-Motoren beim Verzögern zum Generator und wandeln die Bewegungsenergie in Strom um, der zurück in die Batterien fließt. Neben dem Tritt aufs Bremspedal kann man das, wie bei jedem E-Lkw, auch selbst einleiten. Und zwar über den gewohnten Zug am Motorbremshebel rechts am Lenkrad. Fünf Verzögerungsstufen - "Rekuperation" genannt - stehen bereit und sind kräftig genug, um den Job der verschleißfreien Dauerbremse locker zu übernehme - nur das man hier eben noch Energie zurückbekommt. Trotzdem kommt auch beim E-Actros der Augenblick, wo er an die Ladesäule muss. Was an den deutschen Rasthöfen bis auf Weiteres nur mit abgesatteltem Trailer am Pkw-Schnell-Lader funktioniert und damit wenig praxistauglich ist. Vielen Wettbewerbern ebenfalls einen Schritt voraus ist der Mercedes-Benz in Sachen Ladetempo. Das bereits propagierte Laden mit einem Megawatt, also 1000 kW, erachten wir zum jetzigen Zeitpunkt allerdings als reine Zukunftsmusik, dafür kann der CCS-Bordlader maximal 400 Kilowatt verarbeiten. Aus dem 300-kW-Schnell-Lader, den wir vor und nach unserer Testfahrt genutzt haben, flossen dann auch brav 298 kW durchs Kabel. So kann man also relativ schnell wieder zurück auf die Straße, auch wenn es ab 80 Prozent technisch bedingt deutlich langsamer geht. Apropos Straße: Für das Testfahrzeug steht die nächste Station bereits fest. Nach unserer Fahrt geht es für die Sattelzugmaschine weiter zur Kundenerprobung. Für einen weltbekannten Onlinehandel wird sie künftig Päckchen und Pakete transportieren - bis zu 500 Kilometer weit, bei jedem Wetter! Fazit Versprechen gehalten Das war für mich im Vorfeld alles andere als eine klare Sache! Zu schlecht waren die Wetterbedingungen, zu oft habe ich mein Kilometer-Vorhaben mit E-Lkw (und -Pkw) schon nicht erreicht. Der Mercedes-Benz E-Actros 600 konnte das eingelöste Versprechen allen Widrigkeiten zum Trotz halten, 500 Kilometer Fahrstrecke scheinen immer drin zu sein. Doch auch mit dieser "Sicherheit" im Hinterkopf benötigt der sinnvolle Einsatz des Sternen-Stromers eine entsprechende Tourenplanung. Von der nötigen Infrastruktur, um die 600-kWh-Akkus wieder aufzufüllen, ganz zu schweigen. jan.burgdorf@tecvia.com

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