"Die Logistikkosten werden steigen"

Die Digitalisierung ist auf dem Vormarsch. Wenn man in der Logistik den Handel, die Industrie und die Dienstleister betrachtet, ist dann in der Industrie das größte Potenzial für die Digitalisierung? Ich sehe im Handel das größte Potenzial. Dort nimmt der E-Commerce-Anteil immer stärker zu. Sendungen werden kleinteiliger und es müssen mehr Abnehmer beliefert werden. Damit gibt es ein großes Effizienzpotenzial in der Streckenoptimierung. Auch die Artikelvielfalt ist mit bis zu einer Million verschiedenen Identnummern deutlich höher als in der Industrie. Zum Vergleich: In einem Automobilwerk sind es 50.000 bis 70.000 Teile. Daher kann Digitalisierung im Handel viel bewegen. Zur Digitalisierung gehört auch die Künstliche Intelligenz (KI). Steckt dahinter mehr als nur ein neuer Name, der durch das Logistik-Dorf getrieben wird? "Künstliche Intelligenz" ist ein Übersetzungsfehler, denn im Englischen heißt es "artificial intelligence". Letzteres hat zu tun mit Suchen, Erforschen und Finden. Wenn Sie den ursprünglichen Begriff verwenden, ist KI eine Technologie, die neue Möglichkeiten eröffnet. Nehmen Sie eine Palette mit 25 unterschiedlichen Teilen für die Produktion. KI ist in der Lage, innerhalb von hundertstel Sekunden zu entscheiden, ob alle Teile vorhanden sind. Da ist die KI dem Menschen überlegen. Aber KI ist kein Alleskönner. KI wird den Menschen nicht die Arbeitsplätze wegnehmen. Es ist die Kombination: KI kann als Werkzeug mit dem Menschen neue Potenziale erschließen. Der demografische Wandel macht solche Instrumente notwendig. Wir werden uns mit KI in den nächsten fünf Jahren intensiv auseinandersetzen müssen. Sind wir in Deutschland auf dem Feld der Digitalisierung und KI rückständig wie bei den Plattformen, bei denen USA und China uns voraus sind? Die Menschen in der Logistik sind von sich aus innovativ. Wenn sie abwarten und zuschauen, laufen die anderen davon. Entsprechend agiert unser Wirtschaftsbereich. Deshalb sind wir in der Logistik nicht so weit zurück, wie vielfach behauptet wird. Im Gegenteil, wir haben auf einigen Feldern wie Sensorik, KI-, Expertensystem- und Blockchain-Technologie-Anwendungen die Nase vorn, dürfen uns aber natürlich auch nicht auf Erfolgen ausruhen. Sind Sie eigentlich Anhänger von Fridays for Future? Nein (lacht). Warum nicht? Dafür bin ich zu alt. Nein, die Antwort war nicht ernst gemeint. Junge Menschen haben einen Prozess des Überdenkens ausgelöst bei Themen, bei denen wir Älteren uns vielleicht schon selbstzufrieden zurückgelehnt haben. Nehmen wir die Diskussion um die Energiewende: Wenn ein Kohlekraftwerk so viel CO2 ausstößt wie der gesamte innerdeutsche Flugverkehr und diese Kraftwerke noch bis zu 18 Jahre laufen sollen, muss man ein großes Fragezeichen setzen. Das haben die Akteure von Fridays for Future gemacht und dafür bin ich ihnen dankbar. Macht die Logistik genug für den Klimaschutz? Man macht nie genug für den Klimaschutz. Aber niemand fährt einen Lkw durch die Gegend, um den Laderaum zu lüften. Es steht immer ein Kundenauftrag dahinter. Unsere Aufgabe ist es, die Einsätze mit einem möglichst geringen Ressourcenverbrauch abzuwickeln. Nachhaltigkeit durch Effizienz, sozusagen. Der Güterverkehr verfehlt seine CO2-Ziele. Macht man es sich nicht zu einfach, wenn man sagt: Wir sind ja nur Erfüllungsgehilfe? Die Emissionen können nicht sinken, wenn das Güteraufkommen dramatisch steigt. Es wird gern übersehen, wie viele Maßnahmen bereits umgesetzt wurden, die zu einer deutlichen Schadstoffreduzierung geführt haben. Das ärgert mich an Umweltdebatten, bei denen man solche Entwicklungen nicht berücksichtigt oder nicht berücksichtigen will. Die Unterstellung, die Logistiker würden nichts machen, ist schlichtweg falsch. Aber die Sendungen werden kleinteiliger und die Zahlen der Abnehmer und Bestellvorgänge steigen. Das heißt, der Güterverkehrssektor wird keinen Beitrag zur CO2-Minderung leisten. Der Sektor macht weniger als 10 Prozent der gesamten CO2-Emissionen aus und ist trotzdem mit hohem Engagement dabei, seine Emissionen zu senken. Nehmen Sie Kühne + Nagel als Beispiel: Mit ihrem Net Zero Carbon-Programm wollen Sie bis 2030 CO2-neutral sein - einschließlich der Zulieferer- und Kundenemissionen. Ich kenne mittelständische Unternehmen, die wollen mit E-Fuels den CO2-Ausstoß verringern. Das ist aber politisch bislang nicht gewollt, weil man auf E-Mobilität setzt und generell keine Verbrenner mehr haben möchte. Das halte ich für komplett falsch. Der Verbrenner-Motor wird weiterhin ein Thema bleiben? Aus meiner Sicht wird es ohne Verbrenner-Motoren auch zukünftig nicht gehen. Ich halte es für absoluten Unsinn, dass nach 2030 keine Benzin- oder Dieselmotoren mehr zugelassen werden. Denn nach wie vor ist der Dieselmotor die effektivste Form des Antriebes. E-Lkw können heute noch nicht schwere Lasten über lange Distanzen transportieren. Bei den hohen Transportvolumina wird es ohne Dieselmotor auch in zehn Jahren noch nicht gehen. Müssen wir aus Umweltschutzgründen das Global Sourcing einschränken? Es wird immer Güter geben, die aus fernen Ländern kommen. Manche Regionen werden auch künftig über besondere Fertigkeiten verfügen oder Lohnkostenvorteile in die Waagschale werfen. Daher wird es weiterhin eine globale Beschaffung und einen globalen Einkauf geben. Ich meinte auch keine völlige Abkehr, aber womöglich eine Verringerung der globalen Warenströme. Man kann sicher hinterfragen, ob der Teiletourismus wie beispielsweise in der Autoindustrie unbedingt sein muss, bei dem Teile oder Komponenten mehrfach über die Ozeane verschifft werden. Aber warum macht man das? Das ist doch kein Selbstzweck, sondern erschließt finanzielle Vorteile, die die Kunden einfordern. Verzichtet man also auf solche Produktionsketten, wird daran auch ein Preisschild kleben. Das ist doch zugleich der Vorwurf an die Logistik: Der Preis entspricht nicht den Kosten, weil die externen Kosten für Umweltschäden keine Berücksichtigung finden. Ich gehe davon aus, dass die Logistikkosten steigen werden. Alleine schon, wenn man sich die Knappheit bei Fahrern und anderen Fachkräften ansieht, werden wir uns auf eine Verteuerung einstellen müssen. Für 2020 haben die Experten ein Wachstum für die Logistik prognostiziert. Glauben Sie, die werden Recht behalten nach den Folgen durch das Coronavirus? Die Februar-Umfrageergebnisse für den Logistik-Indikator der BVL zeigen: Ohne Berücksichtigung der wirtschaftlichen Folgen aufgrund des Coronavirus wären die Geschäftserwartungen in einem leichten Anstieg begriffen. Doch nun kommt es anders: Wenn in einigen Tagen die März-Umfrageergebnisse vorliegen werden, dürfte das Bild dramatisch schlechter aussehen. Die deutsche Wirtschaft und auch der Wirtschaftsbereich Logistik werden sich infiziert haben. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich mich irrte. Vergessen sollte man auch nicht andere Risiken wie den Brexit. Ja, es warten immer noch Herausforderungen auf uns alle, die durch Corona von der Agenda verschwunden sind: Wertschöpfung, Welthandel, Nachhaltigkeit, Mobilität, Infrastruktur, Protektionismus, Brexit, volatile Finanzmärkte und vieles mehr. Doch für uns alle gilt: the business of business is business. Lassen Sie uns das tun, was wir am besten können: sachlich bleiben, Herausforderungen lösen, die Wirtschaft in Gang halten. Das könnte allen helfen, zu vernünftigen Reaktionen und besonnenen Entscheidungen zurückzukehren - und so Wirtschaft und Gesellschaft wieder zu stabilisieren. Mehr zum Thema finden Sie unter #Verband-BVL www.verkehrsrundschau-plus.de/hashtag In Kürze Thomas Wimmer gehört bereits seit 1999 der Geschäftsführung der BVL an. In dieser Funktion hält er Kontakt zu Logistikern aus Wirtschaft und Wissenschaft und ist so gut informiert über das gesamte Logistikspektrum in Deutschland und Europa wie kaum jemand anderer. Vita Thomas Wimmer wurde 1959 geboren. Nach einem Maschinenbau-Studium promovierte er berufsbegleitend an der TU Berlin. Danach war er in verschiedenen Positionen unter anderem bei BMW in Dingolfing und bei der Bremer Vulkan Werft tätig. 1999 wurde er Geschäftsführer der Bundesvereinigung Logistik (BVL) und 2004 zum Vorsitzenden der Geschäftsführung berufen. Derzeit übt Wimmer interimsmäßig die Funktion als Vorstandsvorsitzender der BVL aus und lässt seine Mandate als Geschäftsführer bis zur Mitgliederversammlung am 20. April ruhen.Wimmer ist Lehrbeauftragter an der Uni Bremen sowie an der Jacobs University. 2009 wurde er zum Honorarprofessor an der Universität Bremen bestellt. cd

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