Wachstum und Disruption

Digitalisierung und Flüchtlingskrise lauteten die beiden am intensivsten diskutierten Themen auf dem 32. Deutschen Logistik-Kongress Ende Oktober in Berlin. Themen wie die europäische Finanzkrise, die Auswirkungen der dramatischen Einbrüche im Russlandgeschäft oder die Abkühlung im Handel mit China waren dagegen eher Nebensache bei dem mit über 3200 Teilnehmern (Vorjahr 3100) größten deutschen Kongress für Logistik und Supply Chain Management. Logistik weiterhin auf Wachstumskurs Dass wirtschaftliche Krisen in diesem Jahr nicht im Vordergrund der Gespräche standen, mag auch dran gelegen haben, dass es den anwesenden Logistikern aus Industrie, Handel und Dienstleistung recht gut geht. Für das Jahr 2015 erwartet die Bundesvereinigung Logistik (BVL) einen Branchenumsatz von 240 Milliarden Euro. Das wäre ein Plus von 1,3 Prozent zum Vorjahr. Und die Aussichten für das kommende Jahr sind noch besser. Hier rechnet die BVL mit einem Zuwachs von sogar 2,2 Prozent. Die Zahl der Beschäftigten könne im kommenden Jahr sogar die 3-Millionengrenze überschreiten, freute sich BVL-Vorstandsvorsitzender Raimund Klinkner. Aktuell seien rund 2,95 Millionen Menschen in der Logistik beschäftigt. Damit bleibe die Logistik sowohl nach Umsatz als auch nach Arbeitsplätzen Deutschlands drittgrößte Wirtschaftsbranche. Und die Zeichen stünden weiterhin auf Wachstum. Die Unternehmen der Branche würden auch durch den zunehmenden Einsatz von Internet, Apps und Co. nicht ausgebremst. Ganz im Gegenteil: "Durch die zunehmende Digitalisierung der Prozesse in Industrie und Handel ergeben sich gute Perspektiven für die Logistik", meinte BVL-Chef Klinkner und prognostizierte: "Ein Wachstum von fünf bis zehn Prozent ist möglich". Dafür müsse die Logistik aber noch schneller, synchroner, transparenter und flexibler werden. Transformation versus Disruption Gestritten wurde auf dem Kongress darüber, ob die Digitalisierung eine Transformation oder eine Disruption für die bestehenden Geschäftsmodelle von Logistikern und Spediteuren darstelle. Also, ob die bestehenden Geschäftsmodelle einem Wandel unterworfen sind oder es zu einer Zerstörung der bestehenden Geschäftsstrukturen kommt. Die Vertreter aus Wirtschaft und Wissenschaft vertraten in Berlin hierzu unterschiedliche Meinungen. "Es ist eher eine akademische Diskussion", meinte Klinkner. Egal ob Transformation oder Disruption, die Unternehmen in der Logistik stünden vor sehr großen Veränderungen, so der BVL-Chef. Dass Logistikdienstleister und Spediteure durch die Digitalisierung gefordert sind, ihre Geschäftsmodelle gegenüber Internet-Unternehmen wie Amazon oder Uber zu verteidigen, sieht auch Detlef Trefzger von Kühne + Nagel - vor einer Disruption stehe die Logistik aber nicht, so der CEO des Schweizer Logistikkonzerns, der auch viele Jahre beim Wettbewerber Schenker im Vorstand saß. Die deutschen Spediteure hätten in der Vergangenheit oft bewiesen, dass sie sich Veränderungen anpassen könnten, deshalb erwarte er eine schnelle Transformation und keine Disruption. "Wir werden Buchhändlern, Chauffeuren und jungen Wilden nicht den Markt überlassen", sagte Trefzger selbstbewusst. Die Logistiker befänden sich in einer guten Position. Entscheidend sei, neue Kundenbedürfnisse zu erkennen und mit kleinen, modularen Produkten schnell darauf zu reagieren. Um hier erfolgreich zu sein, müssten Spediteure aber die verfügbaren Daten mehr nutzen, um zum Beispiel Handlungen von Versendern und Empfängern von Waren antizipieren zu können. Eine entscheidende Rolle spiele dabei die Sensorik. "Diese liefert uns Echtzeitdaten von der bisher stummen Fracht", sagte Trefzger. Auch über ganz neue Geschäftsmodelle müsse nachgedacht werden. "Wie wäre es, wenn Spediteure Geld verdienen, wenn sie Transporte vermeiden?", so der Kühne + Nagel-CEO. Auf keinen Fall könnten sich die deutschen Logistiker aber zurücklehnen. Denn weltweit investieren Geldgeber in neue Lösungen. Laut Trefzger wurde im vergangenen Jahr eine Milliarde US-Dollar in Start-ups im Bereich Transport und Logistik investiert. Dies sei vier Mal so viel Geld wie in den Jahren zuvor, warnte Trefzger und appellierte an alle Logistiker, sich mehr Gedanken über die Zukunft zu machen. Durch die Digitalisierung ist "die Welt der Logistik mächtig in Bewegung geraten", sagte Daimler-Vorstand Wolfgang Bernhard in Berlin. Der Chef der Nutzfahrzeugsparte des Stuttgarter Automobilherstellers machte in seinem Hauptvortrag deutlich, dass Daten dabei das Gold der digitalen Ära seien und der Bereich Mobilität von der Digitalisierung bisher kaum erschlossen worden sei. "Hier sind die Claims noch nicht abgesteckt", so Bernhard. Vor allem die Trucks seien eine wahre Daten-Goldmine, die erst jetzt richtig erschlossen würde. Über 400 Sensoren lieferten schon heute eine Vielzahl an Informationen von Zugmaschinen und Trailern. Der Anschluss der Lkw an die Daten-Cloud eröffne aber noch einmal ganz neue Möglichkeiten für alle Nutzer. Dann ließen sich mit Echtzeitdaten die Einsatzzeiten der Fahrzeuge noch optimaler planen. Beispielsweise würden Verschleißteile des Fahrzeugs künftig nicht mehr ungeplant ausfallen. "Pannen werden weitgehend der Vergangenheit angehören", versprach Bernhard. Der "Boxenstopp" des Lkw könne mit kurzer Ausfalldauer des Fahrzeuges erfolgen. "Das gesamte Potenzial an Möglichkeiten ist noch gar nicht abzuschätzen", meinte Bernhard. Notwendig dafür sei aber ein nahezu flächendeckendes mobiles Internet an den Autobahnen. "Dies sei heute weder in Deutschland noch in anderen Industrieländern vorhanden. Hier bestünden große Chancen, sich einen Vorsprung vor den sonst oftmals digital führenden USA zu erarbeiten, so Bernhard. Herausforderung CO2-Minderungsziele Mächtig in Bewegung gerät die Nutzfahrzeug- und Logistikbranche laut Bernhard auch durch die CO2-Minderungsziele der EU. Brüssel will, dass der Kohlendioxidausstoß im Straßengüterverkehr um 30 Prozent (bezogen auf das Jahr 2005) bis 2030 reduziert wird. Die Wirtschaft müsse für dieses ambitionierte Ziel praxistaugliche Lösungen finden, so der Daimler-Vorstand, ansonsten würde die Politik Vorgaben machen und das könne sehr teuer werden. "Alle Beteiligten müssen das Gesamtsystem Lkw optimieren", appellierte Bernhard an die anwesenden Logistiker. Nur mit motorischen und fahrzeugtechnischen Verbesserungen ließe sich das Ziel nicht erreichen. Mehr zum Thema im Dossier Deutscher Logistik-Kongress www.verkehrsrundschau.de/dossiers Digitalisierung schafft Transparenz Personalmanagement 4.0 Starre Hierarchien, schlechtes Arbeitsklima, mangelnde Kommunikation, das sind die Hauptkritikpunkte von Mitarbeitern der Logistikbranche an ihrem Arbeitgeber auf dem Bewertungsportal Kununu, einer Tochter von Xing. In Zeiten des "War of talents" kein guter Ausgangspunkt für Logistikfirmen, wie Xing-CEO Thomas Vollmoeller während des Kongresses deutlich machte. Das Thema Personalmanagement spiegelte sich in verschiedenen Sequenzen wider, vor allem vor dem Hintergrund der zunehmenden Digitalisierung der Logistik. Sie eröffnet Mitarbeitern und Unternehmen neue technische und räumliche Möglichkeiten: Die Arbeit kann unabhängig von Ort und Zeit erledigt werden, Netzwerke und Vitamin B werden demokratisiert. "Aber die Transparenz stellt Unternehmen auch vor neue Herausforderungen", warnte Vollmoeller. So bezeichneten in einer weiteren Befragung nur 9,7 Prozent der Teilnehmer ihr Unternehmen als "gut gerüstet" für diese neuen Herausforderungen. "Vollkommene Transparenz" hat Julian Vester, Geschäftsführer von Elbdudler, in seinem Unternehmen realisiert. "Wenn Sie Ihren Mitarbeitern keine Transparenz bieten, was Unternehmenszahlen und Gehaltshöhe betrifft, halten Sie sie für Idioten oder Sie beuten sie aus", erklärte er. bb Top-Thema Flüchtlingskrise "Die Ehre Europas gerettet" Die aktuelle Flüchtlingskrise in Deutschland und Europa durchzog den gesamten Logistik-Kongress. Wolfgang Schäuble (CDU) machte als politischer Hauptgastredner deutlich, dass es die Pflicht Europas sei, bedrohten Menschen aus Kriegsgebieten zu helfen: "Sonst wäre Europa nicht Europa." Die Zusage der Kanzlerin, die Flüchtlinge aus Budapest einreisen zu lassen, "habe auch die Ehre Europas gerettet". Sonst wäre es zu einer humanitären Katastrophe gekommen", meinte der Bundesfinanzminister. "Aber", so Schäuble weiter, "der Zustrom könne nicht grenzenlos sein." Es bedarf zwar keiner hermetischen Abriegelung Europas, aber der Grenzübertritt müsse an den EU-Außengrenzen kontrolliert erfolgen. Menschen, die nicht bleibeberichtigt seien, müssten bereits an den Außengrenzen abgewiesen werden. Auch eine Familienzusammenführung sieht der CDU-Politiker nur für Flüchtlinge, die dauerhaft in Deutschland bleiben werden.Bekenntnis zur HilfeUnterstützung erhielt der Bundesminister von Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchener Instituts für Wirtschaftsforschung (Ifo). Der bekannte Volkswirtschaftsexperte sprach sich ebenfalls für einen geordneten Zuzug von Flüchtlingen nach Deutschland aus, vor allem, um das ab dem Jahr 2030 gefährdete deutsche Rentensystem zu stabilisieren.Gewürdigt wurden in Berlin auch die Leistungen vieler Hilfsorganisationen bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise. Die Bundesvereinigung Logistik (BVL) ehrte mit dem Sonderpreis "Humanitäre Logistik" die Bundeswehr, das Technische Hilfswerk (THW) und das Deutsche Rote Kreuz (DRK). Dass das Erlernen der Sprache ein wichtiger Schlüssel bei der Integration von Flüchtlingen sei, betonte Auma Obama. Die Halbschwester des US-Präsidenten Barack Obama berichtete den Kongressteilnehmern über ihre Erfahrungen in der Entwicklungs- und Flüchtlingshilfe. ak

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