Vor der Zerreißprobe

Der Logistikkongress der Bundesvereinigung Logistik (BVL) kommende Woche in Berlin wird wieder ein Anlass sein sich zu feiern für den Gastgeber und die Besucher. Aus gutem Grund. Denn wer zehn Jahre oder noch länger zurückblickt und die Situation von damals mit den heutigen Transport- und Logistikketten vergleicht, der wird fundamentale Unterschiede feststellen. Die Fortschritte sind enorm. Hält dieser Aufwärtstrend an oder werden die Schrauben irgendwann überdreht und kommt es womöglich zu einer Überhitzung, zu einem Crash, wie man es von der Finanzwelt an den Börsen kennt? Logistiker haben sich als Problemlöser bewährt Schaut man sich die vier Trendszenarien auf den folgenden Seiten an, wird deutlich: Es handelt sich nicht um fiktive Horrorszenarien, sondern um reale Herausforderungen. Optimisten werden vielleicht sagen: Wir standen in der Vergangenheit vor ganz anderen Problemen und die Logistik hat immer Lösungen gefunden. Die Pessimisten werden einwenden, dass die Transport- und Logistikketten immer komplexer, graziler und detaillierter geworden sind und damit anfälliger für Einflüsse von außen. Wer hat Recht? Zerreißprobe: Ja oder nein? Die Aussagen zu den Thesen erheben keinen Anspruch auf die absolute Wahrheit - wie auch, wenn es um die Zukunft geht. Sie sollen ein Schlaglicht auf mögliche zukünftige Wege werfen. Und Thesen wie die zum Klimawandel zeigen, dass die Branche in der Tat vor großen Herausforderungen steht. So wurde diese Woche bekannt, dass der Bundesrat ein Papier verabschiedet hat, in dem das Ziel formuliert ist, dass "spätestens ab dem Jahr 2030 unionsweit nur noch emissionsfreie Pkw zugelassen werden." Auch wenn nicht von Lkw die Rede ist, so ist dies doch ein Indiz dafür, dass bei der CO2-Vermeidung die Daumenschrauben weiter angezogen werden. Ach ja: Die vier Thesen sind nur eine Auswahl zahlreicher Entwicklungen, mit denen sich die Verantwortlichen in der Logistik befassen werden müssen. Ein Scheitern der Freihandelsabkommen, der Brexit oder die weiterhin ungelöste Flüchtlingsproblematik sind nur drei Beispiele, die die Logistik ebenfalls beschäftigen werden - und die sicher auch Thema auf dem Logistikkongress in Berlin sind, aller Feierlaune zum Trotz. Mehr finden Sie im Dossier "Trends & Innovationen" www.verkehrsrundschau.de/dossiers These 1: Die Klimavereinbarungen werden den Lkw-Verkehr massiv einschränken Während die Umweltschützer über das Klimaabkommen von Paris gejubelt haben, reagiert die Wirtschaft skeptisch. Welche Konsequenzen hat nun die Einhaltung des Zwei-Grad- Zieles für die Unternehmen, für den Transpor t?Die EU hat sich anspruchsvolle Klimaziele gesetzt: minus 30 Prozent bis 2030, sagt Kay Lindemann, Geschäftsführer im Verband der Automobilindustrie (VDA). Wegducken zählt nicht, weshalb er unmissverständlich erklärt: Dazu werden auch die Nutzfahrzeuge ihren Beitrag leisten.20 Prozent weniger CO2-Ausstoß schon 2020Der VDA-Geschäftsführer zählt einen Katalog an Maßnahmen auf, wie dieses Ziel erreicht werden soll: Angefangen bei Effizienzsteigerungen beim Dieselmotor über die Dekarbonisierung der Kraftstoffe (also der Austausch von Diesel durch Kraftstoffe, die aus regenerativem Strom hergestellt wurden) bis hin zur Reduzierung von Leerfahrten. Nimmt man alle Maßnahmen von Herstellern, Logistikunternehmen und Politik zusammen, ließe sich der durchschnittliche CO2-Ausstoß allein bis 2020 um 20 Prozent gegenüber 2014 verringern, sagt Lindemann.Die Antwort von Martin Schmied, im Umweltbundesamt (UBA) zuständiger Abteilungsleiter für das Thema Verkehr, auf die Frage, was das Pariser Abkommen für den Güterverkehr bedeutet, ist zunächst mal kurz, einfach und womöglich schockierend: Der Güterverkehr muss 2050 treibhausgasneutral sein, wenn wir Paris ernst nehmen. Genauso trocken schickt er jedoch hinterer: Und das ist auch möglich. Schmied schlägt dazu zwei Strategien vor: Wir müssen bis 2030 noch konsequenter als in der Vergangenheit eine Verkehrswende voranbringen. Dazu zählt auch, dass wir mehr Güter auf die Schiene bringen müssen, sagt der UBA-Experte. Ab 2030 benötigen wir dann aber auch eine Energiewende im Verkehr, sagt Schmied.Zur Erreichung des Null-Emissions-Ziels kommen seiner Ansicht nach im Straßengüterfernverkehr vor allem zwei Antriebsmöglichkeiten infrage: Konventionelle Lkw, die mit aus erneuerbarem Strom hergestellten flüssigen oder gasförmigen Kraftstoffen angetrieben werden. Oder Oberleitungshybrid- Lkw, die teilweise am Fahrdraht, teilweise ohne fahren. Vor der Zerreißprobe: Ja oder Nein? Wird das Pariser Abkommen ernst genommen, muss sich einiges im Güterverkehr ändern. Aber der Lkw- Transport wird der wichtigste Verkehrsträger bleiben. Fragt sich bloß, mit welchem Antrieb. cd These 2: Zunehmende Individualisierung gefährdet die Paket- und Stückgutnetze Mögen Logistiker noch sehr darüber grübeln, ob kostenlose Prime-Lieferungen sinnvoll sind. Fakt ist: Der US-Riese Amazon setzt mit seinem Dash Button eine neue Benchmark in Sachen Kunden-Bequemlichkeit. Ein Blick, ein Klick und Güter des täglichen Bedarfs werden automatisch bei dem jeweiligen Hersteller nachbestellt und dem Endkunden persönlich nach Hause gebracht.Doch was das Herz bequemer Endkunden erfüllt, ist für Logistiker der Alptraum. Ihre bewährten Lieferstrukturen drohen auseinanderzubrechen. Was bislang zum Beispiel vom Produzenten über Spediteure zu Cross-Docking-Centern und von dort aus von Spediteuren in die Filialen der Supermärkte und Einzelhändler ging, geht nun via Paketdienst/ Spediteur vom Hersteller ohne Umweg zum Endkunden.Der Endkunde als Regisseur der LogistikketteKlingt effizienter, stellt aber die Logistik komplett auf den Kopf: Nicht der Hersteller ist mehr der Regisseur der Logistikprozesse, sondern der Endkunde. Warum das für die Paket- und Speditionsbranche gefährlich ist, sagt Jörn Peter Struck, Vorsitzender der Cargoline-Geschäftsführung: Paket- und Stückgutnetze leben von den Mengen, nur so lassen sich die wichtigen Skaleneffekte erzielen. Im Zeitalter von E-Commerce müssten die Dienstleister aber für die Endverbraucher immer individuellere Zustelloptionen schaffen möglichst kostenlos und parallel zum Stückgutnetzgeschäft. Das zerschlägt uns die ganze Standardisierung, mahnt Struck. Je mehr Privatkunden als zusätzlicher Player in unseren Logistikprozessen mitspielen, desto aufwendiger und teurer wird es für uns Dienstleister, sagt Struck. Professor Christian Kille von der Hochschule Würzburg-Schweinfurt bestätigt das: Die etablierten Netze stehen im B2C vor der Herausforderung, den Spagat zwischen der Standardisierung und der Individualisierung ihrer Prozesse hinzubekommen. Dieser Trend sei nicht neu, habe sich aber sich durch E-Commerce deutlich beschleunigt.Vor der Zerreißprobe: Ja oder Nein? Die KEP-Dienste verleiben sich quasi das Geschäft der Stückgutspeditionen ein. Gleichzeitig werden Pakete immer kleiner und werden fallweise sogar zu Warenbriefsendungen, sagt Logistikexperte Kille. Gesund ist dies für Unternehmen nicht. Wenn weiterhin auf Preiskampf gesetzt wird, sagt der Wissenschaftler, könnte das Szenario der Zerreißprobe durchaus Realität werden. eh

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