Unterschätzte Türöffner

Diese drei mögen es natürlich gar nicht so gerne, wenn sie ständig in einem Atemzug genannt werden. "Wir sind völlig eigenständige und auch sehr verschiedene Länder", wird den Gesprächspartnern aus Westeuropa immer wieder versichert. Natürlich kommt man nicht ganz darum herum, Litauen, Lettland und Estland unter einen Hut namens "Baltikum" zu bringen - zu klein ist jeder Staat für sich genommen (siehe dazu auch die Kästen "Länderporträts). Und doch fallen die Unterschiede in allen Bereichen sofort ins Auge: Litauens wichtigster Handelspartner ist Russland, bei Estland sind es dagegen Finnland und Schweden. Das hat geografische, politische und sprachliche Gründe. Estland vor Polen, Ungarn und Kroatien Aber auch die wirtschaftliche Entwicklung verläuft nicht gerade parallel. Vorreiter Estland hat eine Wirtschaftsleistung pro Kopf wie kaum ein anderes Land in Osteuropa: Nur Slowenien steht besser da, Tschechien ungefähr gleich gut. Alle anderen Länder - inklusive Polen, Ungarn und Kroatien - reihen sich weit hinter Estland ein, das weniger Einwohner zählt als die Stadt München. Nirgendwo in Europa ist der Internetempfang so sensationell gut und schnell, die Digitalisierung so weit fortgeschritten wie hier. Man setzt auf Modernität und Zukunftsthemen. Litauen und Lettland halten sich dagegen gut im osteuropäischen Mittelfeld. Eines haben alle drei Länder aber gemeinsam: Deutschland ist bei Im- und Exporten meist der jeweils viertwichtigste Handelspartner. Für die Transport-, Logistik- und Speditionsbranche nimmt das Baltikum wegen seiner strategischen Lage zwischen Mitteleuropa, Skandinavien und Russland eine Schlüsselfunktion ein - und hier hat ganz klar Litauen die Nase vorn. Wer auf der Autobahn aus der Hauptstadt Vilnius über Kaunas nach Klaipeda an der Ostseeküste fährt, sieht unterwegs zahllose riesige Logistikzentren und Lagerhallen. Viele weitere sind gerade im Bau. Dieter Müller, Area Manager East Europe bei der Spedition Emons, erklärt: "Die geografische Lage ist für uns vor allem auch für den Transitverkehr von und nach Russland und Zentralasien wichtig. Auch die Häfen Klaipeda und Riga sind für unsere Kompetenz in Osteuropa bedeutend." Emons ist seit 2006 mit einem Speditionsbetrieb in Litauen vertreten und gründete 2015 ein eigenes Transportunternehmen mit derzeit 30 Sattelzügen. Vor zehn Jahren traf die Wirtschaftskrise die baltischen Länder besonders hart. Lettland stand für einige Zeit dem Staatsbankrott nahe. Doch seither folgten richtig gute Jahre des Wachstums, die immer noch andauern. Litauen machte seit 2016 gerade wieder einen riesigen Sprung beim Straßentransport, Lettland und Estland legten weniger, aber immerhin auch merklich zu. Also alles bestens in Nordosteuropa? Nicht ganz: Die Abhängigkeit vom russischen Markt bereitet Probleme: Müller verweist auf die EU-Sanktionen und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten Russlands und befürchtet: "Das Wachstum in Litauen wird sich wohl verlangsamen und der Konsum rückläufig werden." Hinzu kommt der Fahrermangel. Die niedrige Arbeitslosigkeit und die EU-Sozialgesetzgebung dürften zu steigenden Löhnen führen. Und dennoch: "Gut ausgebildete Fachkräfte gibt es kaum", fasst Müller zusammen. 10.000 neue Fahrer bei Girteka bis 2021 Deutlich optimistischere Töne schlägt der Branchenprimus Girteka Logistics an. Die Lkw des litauischen Unternehmens gehören inzwischen in ganz Europa zum Straßenbild. "Wir beobachten die sich ändernde politische Landschaft und finden einfach den besten Weg, im Rahmen dieser Regulierungen zu arbeiten", sagt Vorstandschef Edvardas Liachovicius. Kürzlich hat Girteka den 10.000. Lkw-Fahrer eingestellt - bereits im Jahr 2021 sollen es dann 20.000 sein. Den Fahrermangel nutze das Unternehmen zu seinem Vorteil: "Unsere Arbeitsbedingungen und Gehälter sind hochattraktiv, und die besten Fahrer wollen daher zu uns kommen", versichert Liachovicius. Der CEO räumt ein, dass der Markt schwieriger geworden sei. Ständige Investitionen und Modernisierungen seien notwendig, um wachsen zu können. "Girteka arbeitet in vielen Branchen von Fast-Moving-Consumer-Goods bis E-Commerce. Das ist unsere Stärke: Dass wir nicht abhängig sind von einer speziellen Industrie oder einem konkreten Segment." Es helfe auch, dass man in vielen EU-Ländern aktiv sei, sagt Liachovicius. Seine Bilanz dürfte vielen weniger großen Speditionen nicht gefallen: "Wir sehen, dass bei der aktuellen Marktsituation der Betrieb eines kleineren Transportunternehmens immer schwerer durchzuführen ist." Ein deutscher Transporteur, der schon vor über 20 Jahren den Sprung ins Baltikum wagte, ist die Spedition Göllner aus Nienburg. In Lettland ist Göllner in Riga vertrete und vor allem in den Bereichen Sammelgutverkehre zwischen Westeuropa und dem Baltikum sowie Großraumtransporte bis 110 Kubikmeter aktiv. Eine weitere Spezialisierung sind internationale Umzüge. Göllners Lettland-Chefin Liga Kalnina hat in den letzten Jahren kein großes Wachstum, aber auch keine Rückgänge beim Transportvolumen festgestellt. Probleme bereiten der gesamten Branche nach wie vor das Preisdumping sowie der Fahrermangel, wobei dies auch in Wellen verlaufe. "Neuerdings kommen auch Fernfahrer, die einige Jahre in Westeuropa gearbeitet haben, häufiger wieder nach Lettland zurück", sagt die Managerin. Sie vertritt zudem die Ansicht: "Für deutsche Spediteure kann ein Engagement auf den Märkten des Baltikums nach wie vor sinnvoll sein." Dabei hänge es von der jeweiligen Strategie ab, ob man es mit der Gründung einer Niederlassung versuche oder eine Partnerschaft mit einer einheimischen Firma eingehe. Und Deutschland ist und bleibt einer der wichtigsten Märkte. Girteka-Oberhaupt Liachovicius bringt es folgendermaßen auf den Punkt: "Deutschland ist das Herz der europäischen Wirtschaft und auch der Transportbranche. Wenn du nicht auf dem deutschen Markt aktiv bist, kannst du dich einfach nicht als vollwertiges europäisches Transportunternehmen bezeichnen." Mehr zum Thema finden Sie im Dossier Baltikum www.verkehrsrundschau.de/dossiers Die Serie Osteuropa Was kann das Transportgewerbe unserer osteuropäischen Nachbarn, wo gibt es Chancen und Risiken? Unsere Serie im Überblick- Teil 1: Polen (VR 31-32)- Teil 2: Tschechien (VR 33-34)- Teil 3: Ungarn (VR 35)- Teil 4: Bulgarien (VR 36)- Teil 5: Rumänien (VR 37)- Teil 6: Baltikum (VR 38) Länderporträt Estland Zahlen und Fakten zu EstlandFläche:45.227 km2 (Deutschland: 357.386 km2 )Einwohner:1,316 Mio. (D: 82,52 Mio.)Wachstum Bruttoinlandsprodukt BIP:- 2017: 4,85 % (D: 2,2 %)- 2018: 3,9 % (D: 2,2 %)BIP/Kopf (in US-Dollar; 2018; Schätzung):23.610 (2017: 19.840);Import (2017):16,6 Milliarden US-DollarExport (2017):14,5 Milliarden US-DollarInflation (2018, in Prozent):3,0 (2017: 3,7);Arbeitslosigkeit (in Prozent):- 2017: 5,8 (D: 5,7)- 2018: 6,3 (D: 5,0)Transportnetz:- gesamtes Straßennetz: 12.900 Kilometer- Autobahnen/Schnellstraßen: 145 Kilometer- Schienennetz: 1161 KilometerHauptstadt:- Tallinn (441.000 Einwohner)Religion (in Prozent):- 13,6 evangelisch- 12,8 russisch-orthodox- 0,5 Baptisten- 0,5 katholisch- Rest konfessionslos mkQuellen: IWF, WTO, estnische Behörden, Eurobarometer der EU

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