Reifeprozess

Zugegeben, das ganz große Desaster - wie es Mercedes anno 1996 mit der ersten Actros-Generation erlebte - ist Volvo erspart geblieben. Vor allem die Euro 5- und EEV-Derivate des New FH verhielten sich recht unauffällig. Unzulänglichkeiten wie Elektronik-Fehler oder undichte Staufächer, Türen und Schiebedächer hatte Volvo schnell im Griff. Was blieb, waren hohe Adblue-Verbräuche, fallweise unmäßiger Dieselkonsum oder abfallende Auspufftöpfe/Katalysatoren bei Euro 6. Letzteres passierte beim Vergleichstest MAN TGX 18.440 gegen den Volvo FH 460 (VR 20/14) zwar nicht. Trotzdem war der Betriebsstoffverbrauch des Schweden deutlich höher als der des Müncheners. Und als sparsam ausgestatteter Miet-LKW konnte sich der FH nicht gegen den ausgereiften Münchener durchsetzen. Die gute Nachricht für alle Volvo-Interessierten: Es geht auch besser! Für den Beweis überließen uns die Schweden einen aktuellen FH 540 Globetrotter XL. Sein weinroter Lack steht ihm gut und lässt ihn edel aussehen. An vielen Details zeigt sich, dass der große Schwede jetzt endlich zu voller Form aufläuft. Zudem sammelt er Bonuspunkte durch eine reichhaltige Ausstattung. Obgleich wir vorausschicken müssen, dass Volvo den vor über einem Jahr versprochenen I-Torque-Antriebsstrang - mit Turbocompound-Technik, 460 PS, 2800 Nm und Doppelkupplungsgetriebe - erneut verschoben hat. Und "I-See" hat jetzt zwar 80 Prozent Abdeckung - funktioniert aber eben auf bekannter VR-Teststrecke noch immer nicht vollständig. Zumindest gibt der Test Gelegenheit, dem Eco-Antriebsstrang, dem Abstandstempomat und der Einzelradaufhängung auf den Zahn zu fühlen. Volvo verzichtet auch beim neuen Fahrzeug auf einen ebenen Fahrerhausboden. Die Mehrzahl der Fahrer - vor allem diejenigen, die ihre Schuhe nicht auf der obersten Trittstufe abstellen - ist nicht traurig darüber. Bleibt doch so der Straßenschmutz im Fahrerfußraum. Der optio nal elektrisch verstellbare Fahrersitz ist äußert bequem und bietet auch ohne elektrische Gimmicks hohen Sitzkomfort sowie mannigfaltige Verstellmöglichkeiten. Der Längsverstellbereich ist deutlich gewachsen, geht aber auf Kosten eines wirklich breiten Bettes. Man hätte der Kabine ruhig ein paar Millimeter mehr an Länge gönnen können ... Sinnvolle Optionen kombiniert als Paket Eine wirklich gute Errungenschaft ist der drehbare Beifahrersitz. Sinn macht der natürlich nur, wenn der Einkäufer auch den optionalen Flatscreen über dem Fahrerplatz ordert und so der FH zum Heimkino wird. Leider werden sich das viele Unternehmer wegen der teils gesalzenen Aufpreise für die Extras überlegen. Immerhin: Volvo bleibt auch der Philosophie der Ausstattungspakete treu und kombiniert sinnvolle Optionen zu entsprechend günstigeren Gesamtpaketen. Die heißen dann "Aktive Sicherheit +", "Fahrerkomfortpaket" oder "Sichtpaket" und sparen rund 20 Prozent gegenüber dem Einzelkauf. Höchst gelenkig: Lenkradverstellung Eine Klasse für sich ist die phänomenal flexible Lenkradverstellung. Schon die Justierung über das ergonomisch ideale Pedal ist beispielhaft. In Kombination mit der Doppelgelenkverstellung und dem extrem weiten Verstellbereich für Neigung und Höhe geht das FH-Volant als Musterbeispiel durch. Zumal der erste Blick aufs Steuerrad zwar eine riesige Menge an Knöpfen, Rädchen und Tasten zeigt, sich deren Funktionen aber auch ohne Blick in die Betriebsanleitung schnell erschließen. Weniger begeistern können die Instrumente selbst. Für unseren Geschmack ist der Drehzahlmesser zu schlecht ablesbar und das über die Tachoskala wandernde Pfeilfragment als Geschwindigkeitsanzeiger ist mehr ein Design-Gag als eine wirkliche Ablesehilfe. Klasse dagegen die beiden Info-Displays, zwischen denen der Fahrer via Lenkradtaste hin und her wechseln kann. Sie zeigen mittig alle wichtigen Betriebsdaten an und rechts alle nötigen Infos, wie etwa die des Navigationssystems. Alle Schalter sind sinnvoll angeordnet, nichts versteckt sich. Und selbst an die elektrische Handbremse hat man sich schnell gewöhnt - jetzt wär's noch optimal, wenn diese sich automatisch schließen würde. Denn sie öffnet auch selbsttätig, sobald der Fahrer anrollen lässt. Stauraum findet sich speziell in der XL-Kabine "en masse". Da zeigt sich - neben dem bequemeren Einstieg - ein weiterer Vorteil der tief auf dem Rahmen sitzenden Kabine: Auch kleinere Fahrer kommen problemlos an die großzügigen Außenstaufächer heran. Das riesige Glasdach schränkt zwar die Staumöglichkeiten über der Frontscheibe ein. Trotzdem gefällt die Lösung, sie bringt viel Licht in den Innenraum und die Aussparung sorgt für Bewegungsraum beim Umziehen. Mit dem aktuellen Trend "viel Leistung aus wenig Hubraum" ist der 13-Liter mit 540 PS nicht überreizt, sondern präsentiert sich als äußerst harmonischer Motor - immerhin gibt es bei den Schweden auch 540 PS aus 16 Liter Hubraum. Wäre der preisliche Abstand zum 460er nicht so hoch, man könnte nur jedem Käufer zum 13-Liter-540er raten. Der Reihensechszylinder tritt kraftvoll und dennoch nicht übertrieben rau an. Geschmeidig dreht er hoch, bleibt stets flüsterleise und bewältigt die Steigungen der befahrenen Etappen der VR-Testrunde viel schneller als sein auch nicht gerade schwächlicher Bruder. Das automatisierte I-Shift-Getriebe arbeitet mit gewohnter Präzision und hoher Schaltgeschwindigkeit. Warum es sich auf der Landstraße bei 70 km/h dem höchsten Gang verschließt, bleibt aber ein Geheimnis. Wechselt man manuell in den Zwölften, erweist sich, dass der Motor immer noch genug Power hat, um 40 Tonnen auch über leichte Steigungen zu ziehen. Die Schaltstrategie kann ebenfalls gefallen. Beim Beschleunigen dreht der Motor weiter aus, um dann entsprechend hohe Gangsprünge zu machen. Zwar lässt der Volvo die Drehzahl am Berg weit abfallen, ehe er in einen niedrigeren Gang wechselt. Weil der Motor aber sehr gut im Futter steht, erwächst daraus kein Temponachteil. Ganz im Gegenteil wird durch das hohe Drehmoment so manche zeitraubende Rückschaltung vermieden. Bestens gefedert: top bei Schlechtweg Die Einzelradaufhängung spielt ihre Vorteile auf schlechten Straßen aus, wo ihre vielen Gelenke hoch belastet werden. Ob das auf Dauer gut geht, wird sich zeigen. Auf jeden Fall bietet sie hervorragenden Fahrkomfort, mit bester Rückmeldung der Lenkung. Das von der Starrachse bekannte leichte Vibrieren ist verschwunden. Subjektiv scheint der Lenkeinschlag größer, was die Wendigkeit erhöht. Verbrauchsmessungen haben wir mit dem kaum eingefahrenen Vorführ-LKW vereinbarungsgemäß nicht vorgenommen. Ein Blick auf die Tripdaten weist 28,5 l/100 km aus. Was bei 40 Tonnen Gesamtgewicht deutlich weniger wäre als beim 460er auf vergleichbarer Etappe. Noch eine gute Nachricht: Wenn der GPS-Tempomat I-See die Strecke identifiziert, macht er seinen Job hervorragend. Einzig im höchsten Eco-Level rast er mit 96 Sachen den Berg runter - zu viel des Guten. Da hat uns die frühere Wahlmöglichkeit mit einstellbarem Bergabtempo besser gefallen. Jetzt kann der Fahrer nur noch eine von drei Eco-Einstellungen vorwählen. Da merkt man, dass die Programmierer ihren Computer besser kennen als die Fahrerwirklichkeit. Würden sie mal den Schreibtisch mit dem LKW-Volant tauschen, gäbe es vielleicht auch eine Verbesserung bei den verschleißlosen Bremsen. Zugegeben ist der Retarder ob der enorm starken Motorbremse größtenteils verzichtbar. Weil aber die Integration der Motorbremse noch immer nicht optimal ist - I-Shift schaltet im Gefälle meist nicht weit genug zurück, dass die VEB+ ausreichend Bremspower hat - überläuft der ausgeladene Zug den Tempomat. Folge: Der Fahrer bremst bei. Das zahlt der Unternehmer anschließend an Werkstattkosten für die Bremsinstandsetzung. Letztlich hilft da nur eine Fahrerschulung. Wobei es nicht Sinn der Sache sein kann, dass ein neuer LKW mehr Schulungsaufwand bedeutet als der Vorgänger. Zumal Volvo im Gegensatz zu Mercedes, Scania und Co. auf einen integrierten Driver-Support verzichtet. Kritik an der unmöglichen manuellen Schaltbeeinflussung per Schaltknauf am Sitz gab es auch schon beim Vorgänger. Wir werden trotzdem nicht müde, es zu erwähnen. Trotz dieser Kritik muss man aber zugeben, dass der neue FH nach einigen Updates da ist, wo wir ihn von Anfang an erwartet hätten. Im Zuge der Recherche haben wir zudem erfahren, dass sich Volvo bei den Kosten für Reparatur- und Wartungsverträge jetzt bewegt. Sollte eigentlich klar sein, dass der Neue da - trotz Euro 6 - nicht teurer sein darf als sein Vorgänger. Mercedes und Scania haben das ja auch geschafft ... Alle Tests und Fahrberichte seit dem Jahr 2008 für Premium-Abonnenten unter www.verkehrsrundschau.de/testdatenbank Technische Daten MotorReihensechszylinder, Typ: D13K540, vier Ventile/ Zylinder, Pumpe-Düse-Einspritzung, Single-Turbo; Bohrung x Hub: 131 x 158 mm; Hubraum: 12,8 l; max. Leistung: 540 PS (397 kW) bei 1450-1800/min; max. Drehmoment: 2600 Nm bei 1000-1450/min; Motorbremsleistung (VEB+): 375 kW (510 PS); Euro 6 mit SCR, AGR und DPF; Drehstromgenerator 150A/4200 WKraftübertragungAutomatisiertes 12-Gang-Schaltgetriebe, I-Shift AT2612E (Dreigang-Grundgetriebe mit Rangeund Splitgruppe); Antriebsachse: RSS1344C (für techn. Gesgew. von 44 t); serienmäßige Differenzialsperre; Hinterachsübersetzung: i=2,64Fahrwerk & BremsenEinzelradaufhängung vorne mit zwei Luftfederbälgen, Stabilisator und Stoßdämpfer; Zahnstangenlenkung; Hinterachse mit Vierbalg-Luftfederung und Stabilisator; Dieseltanks: 365 + 870 l; Adblue-Tank: 90 l; Bereifung (v/h): 385/55 R 22.5/ 315/70 R 22.5, Conti HSL2+/HDL2+ Eco Plus (ohne Ersatzrad); Globetrotter XL-Fahrerhaus; Fahrgestellgewicht: 7930 kg (mit 400 l Diesel, 60 l Adblue und Fahrer); Fahrgestellhöhe: medium; Radstand: 3700 mm; EBS-geregelte Scheibenbremsen, elektrische Feststellbremse auf die HA wirkendKurzurteil+ kraftvoller, kultivierter Motor, exzellente Schaltung, top Handling, lichtes Interieur- mäßige Integration der Dauerbremse, schlechte Ergonomie für manuelle Eingriffe

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