Rauchzeichen über Moosach

Wenn am Moosacher Bahnhof wieder mal Rauchzeichen aufsteigen, kann das zur Weihnachtszeit zwei Ursachen haben: Entweder fährt dort der Sonderdampfzug vorbei oder ein paar Meter weiter hinten rollt der gelbe Kaelble KDV 22 E8 über das Meiller-Firmengelände. Der Hauber entstand als einer der Letzten seiner Art 1963 in Backnang, bevor er in München seine Mulde erhielt. Dann verbrachte er fast sein ganzes Leben nahe seiner Geburtsstätte, zuletzt als "Grubenhund", bevor ihn ein Sammler nach Frankreich holte - allerdings nie restaurierte. Dass der Kaelble vor dem Schmelzofen gerettet wurde, verdankt er Jacky Below, Geschäftsführer bei Meiller France. Er entdeckte den heruntergekommenen Hauber bei einem gewissen Monsieur Leonard im Elsass. Vom KDV 22 E8 entstanden bis 1963 keine 50 Stück. Die Hälfte davon wurde mit Meiller-Brücken zu schweren Baustellenkippern aufgebaut. 146.000 Deutsche Mark kostete so ein Bolide einst, was heute rund 1,18 Millionen Mark respektive knapp 590.000 Euro entspräche. In München erkannten das Marketing und der Meiller-Geschäftsführer Daniel Böhmer die Chance, ein imposantes Basisfahrzeug heute neutraler Herkunft (Kaelble meldete 1996 endgültig Insolvenz an) mit Meiller-Brücke als Imageträger zu nutzen. So kam der rostige Recke im März 2012 per Tieflader nach Bayern. Dort stufte man ihn erst mal als "17 Tonnen Alteisen - nicht fahrbereit" ein und bald war klar, dass es sehr aufwendig werden würde, ihn je wieder fahrbereit zu machen. Bis zur Bauma 2016 sollte es soweit sein. Sicherheitshalber gab Meiller das Motto "Jeder darf - keiner muss" aus und tatsächlich schweißte der Kaelble seitdem auch Mitarbeiter zusammen - im wahrsten Sinne des Wortes - denn Schweißarbeiten standen einige an. Die Projektleitung übernahm mit Sebastian Schmidt ein Meiller-Mitarbeiter, der in seiner Freizeit schon einen Spenglereikurs zur Fahrzeugrestauration absolviert hatte. Er wusste, dass es ohne Kaelble-Experten und Archivdaten nicht klappen würde und lernte bald viele neue Freunde und Helfer kennen. Die Restauration sah eine Mischung vor: so viel Substanz wie möglich erhalten und eine gemäßigte "Besser-als-Neu"-Aufbereitung. Dazu gehörte auch eine komplett neue Mulde, denn die alte hatte im Laufe der Jahre rund 5,6 Millionen Kubikmeter Material bewegt - ungefähr den doppelten Inhalt der Münchner Allianz-Arena. Rost und Zeit gaben ihr den Rest. Allerdings existieren im Meiller-Archiv nur Baugruppenzeichnungen samt der wesentlichen Einzelteile und Anschlussmaße. Knotenbleche, Winkel oder Streben lagen nur als Skizzen in Arbeitsplänen vor und wurden nach Bedarf individuell gefertigt. So entstand, vornehmlich in den Pausen und Abendstunden der Kollegen im tschechischen Slany, eine neue Mulde: Erst auf CAD, dann im Original, lackiert im ursprünglichen Farbton "RAL 1007". Die Hydraulik gab sich keine Blöße Stolz waren die Münchner auf die Hydraulik: Nur die Lagerbuchsen und die Kipperpumpe mussten ersetzt werden, während die Hydraulikanlage selbst sogar den korrekten Betriebsdruck bereitstellte und die Kipperpresse und das Kippventil auf Anhieb alle Prüfstandsläufe bestanden. Und dass, obwohl der Kipper augenscheinlich hart rangenommen wurde, wie der teils verbogene Rahmen zeigte, der Schmidt "verriet", dass der Kipper seinem Namen schon mal alle Ehre gemacht hatte und mindestens einmal auf der Seite gelegen haben muss. Das Pendelachsaggregat an der Hinterachse war vom ständig überladenen Fahren "durch". Beim Antriebsstrang hielt jede Baugruppe neue böse Überraschungen bereit: Kegelrad und Tellerritzel der zweiten Hinterachse waren komplett ausgebrochen und nur weil einige Azubis das Hauptgetriebe aus Neugierde komplett zerlegten, erkannte man defekte Lager, eine gebrochene Schaltstange und einen Riss im Getriebegehäuse. Kaputte Komponenten der zweiten Hinterachse forderten gar ein zweites Schlachtfahrzeug. Das zu finden, erwies sich als Herkulesaufgabe. Weniger schlimm stand es um den Motor, der nach komplettem Zerlegen und Überarbeiten (samt neuer Ventile, die man in Spanien auftrieb) im September 2015 das erste Mal gestartet wurde und für Jubelrufe bei den Beteiligten sorgte. Dafür forderte das Fahrerhaus Geduld: Die Substanz stimmte und kein Teil fehlte, doch bei genauerem Hinsehen wurde klar, dass fast jedes Blechteil irgendwie angegriffen war. Die Frontmaske wurde in mühevoller Spenglerarbeit neu ausgeklopft, alle schadhaften Stellen verzinnt und nicht gespachtelt. "Gott sei Dank!", resümiert Schmidt heute, "denn der Kaelble vibriert schon im Leerlauf so stark, dass der Lack an allen gespachtelten Stellen wieder gerissen wäre". Die Frontmaske brauchte ein neues Stabgitter und das Holzgerüst der Dachhaut einen erfahrenen Stellmacher. Motorhaube und Kotflügel kamen komplett neu. Letztere bestehen aus vier zusammengesetzten und verrundeten Teilen, die nach Schmidts Angaben beim Original ähnlich aufwendig angefertigt werden mussten. Nach Originalplänen wurde auch der neue Kabelstrang verlegt, bevor es an den Zusammenbau ging. Im April 2016 stand das komplette Auto erstmals auf eigenen Rädern respektive Trilex-Felgen, die sich mit lautem Knacken setzten. Dann erfolgte der Start des Motors und der Kaelble rollte wieder aus eigener Kraft auf den Hof. Erst kurz vor der Bauma erhielten Schmidt und seine helfenden Hände noch einen funktionierenden Drehzahlmesser, montierten letzte kleine Teile und nahmen die Endeinstellungen vor. Große Überraschung beim Fahren Und wie fährt sich der Kaelble? Zuerst muss er erklettert werden, was aufgrund des fehlenden Griffs links gar nicht so leicht ist: Also rechte Hand an den kleinen Griff hinter der Tür, auf die erste Stufe ziehen und dann mit der Linken ans Lenkrad greifen, um sich in die kleine Kabine hineinzuziehen. Von dort aus sieht der Fahrer außer der riesigen Haube, die sich gen Horizont erstreckt, nicht allzu viel. Dann sollte er sich Zeit zum Vorglühen nehmen, bevor er das Starterstängelchen nach unten drückt: Nach mehrmaligem Anlasserjaulen nimmt der 19,1 Liter große V8 seine Arbeit auf. Er mobilisiert 240 PS bei 1600 Umdrehungen. Ab 1200 Umdrehungen liegen 1050 Newtonmeter Drehmoment an - das sind in etwa die Werte des heutigen 7,7-Liter kleinen Einstiegssechszylinders des Mercedes Atego. Optional hätte Kaelble damals auch einen zwölf Liter großen Reihensechszylinder mit Turbo unter die Haube packen können, der 270 PS bei späten 2100 Touren, aber eben nur spärliche 950 Newtonmeter bei 1400 Umdrehungen geboten hätte. Steigvermögen und Minimalgeschwindigkeit waren beim V8 allerdings besser, weshalb man ihn auf dem Bau bevorzugte. Auf der Straße würde der Turbo aber davonfahren: In der großen, hier 0,8-fach übersetzten Gruppe schafft er im sechsten Gang 72 km/h, während unser V8 bei 53 Sachen die Segel streicht. Die Gänge lassen sich sauber einlegen, allein die Kupplung braucht eine kräftige Wade, kommt aber dafür sanft. Entsprechend geschmeidig setzt sich das Monster in Bewegung. Die Abgase strömen durch den Muldenboden und die Seitenwand über eine Öffnung in der Kippbrücke nach oben ins Freie und auf den ersten Metern raucht der Kaelble-Kipper mit den Weihnachtsdampfzügen am benachbarten Bahnhof München-Moosach um die Wette. Langsam nimmt er Fahrt auf und wird etwas handzahmer: Er lenkt sich dank hydraulischer Unterstützung einigermaßen leicht und in Ansätzen sogar zielgenau. Die Druckluftbremse verzögert das unbeladen rund 17 Tonnen wiegende Fahrzeug erstaunlich direkt und schnell, während die Auspuffklappe allenfalls ein laues "Verlangsamungslüftchen" beiträgt. Beladen muss man richtig arbeiten Beladen ändert sich das alles: Sowohl Lenken als auch Bremsen fordern Kraft und Aufmerksamkeit. Dann ist man mit knapp 40 Tonnen unterwegs - auf den damaligen Baustellen waren es eher 50. Es wurde geladen, bis die Mulde voll war. Trotzdem machten die Kaelble-fahrenden Kollegen, die damals zum Beispiel für Hoch Tief am Bau des Tunnels bei Rendsburg unter dem Nord-Ostsee-Kanal beteiligt waren, einen vergleichsweise entspannten Eindruck. Allrad und Kipper respektive Nebenabtrieb schaltet man mit riesigen Gestängen vor der Beifahrerbank zu und tatsächlich schießt die Brücke heute immer noch binnen 14 Sekunden nach oben und genauso zügig wieder nach unten, was die Umlaufzeiten beschleunigt. Das Rangieren "erleichtern" die kleinen Spiegelchen an den Peilstäben: Sie sitzen dort so weit vorn, dass sie automatisch eine "Weitwinkelfunktion" mitbringen. Die Fenster lassen sich an den soliden Kurbeln fein versenken, wie überhaupt das ganze Fahrzeug so viel Liebe zum soliden Detail zeigt, wie es nur den Schwaben zu eigen ist. Schwäbisch-präzise funktionieren auch die Instrumente inklusive des Drehzahlmessers, dessen grüner Bereich von 1000 bis knapp über 1500 Touren geht. Doch der Lärm des V8 lässt einen schon bei 1200 Touren zum Schaltstock greifen, um die Zahnräder aus Friedrichshafen weiterzusortieren. Mittlerweile war der Kaelble auch auf Kippertreffen, die er wegen seiner geringen Geschwindigkeit per Tieflader aufsuchte. Sonst ist er auf dem Meiller-Werksgelände in Moosach unterwegs: Wenn von dort wieder Rauchzeichen aufsteigen sollten, ist es nicht unbedingt der Weihnachts-Dampfzug! Mehr zum Thema unter Lkw Oldtimer www.verkehrsrundschau.de/dossiers

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