Neuer Volvo FH

Neuer Volvo FHNordische Wellness-OaseKomfortabel und leise wie kein zweiter Fernverkehrs-LKW auf dem Markt kontert der neue Volvo FH den Aufschlag des Actros. Und setzt bei der Sicherheit noch eins drauf.Die IAA ist vorbei, ein Hauch von Katerstimmung hat die Branche erfasst – und dennoch oder jetzt erst recht hält Volvo optimistisch dagegen: Der neue FH werde neue Maßstäbe setzen. Längst haben die Volvo-Ingenieure das neue Flaggschiff in internen Tests natürlich mit dem New Actros abgeglichen – und wähnen sich weiter auf der Überholspur. Nur vollmundige Versprechungen?Eines vorweg: Das Rad neu erfunden haben die Schweden nicht. Der New FH und sein stärkerer Bruder FH 16 kommen im klassischen Layout daher. Zwar ist die Kabine in den Grenzen der gesetzlich vorgegebenen Maßtoleranzen ein wenig in Länge und Höhe gewachsen, was Stauraum und Bewegungsfreiheit vergrößerte. Doch die Aufteilung im Innenraum bleibt konventionell, das Platzangebot ist ordentlich, aber nicht überragend. Das Bedienkonzept freilich wurde deutlich verbessert. Wir starten die Erkundung mit dem künftigen Volumenmodell Volvo FH 460 in Euro 6. Der neue, vorerst einzige Euro-6-Saubermann produziert zwar viel weniger Schadstoffe, in puncto Leistung und Drehmoment (2300 Nm) blieb er aber gleich zu Euro 5. Zudem ist Volvo der einzige Hersteller, der zugibt, dass Euro 6 Diesel kostet – während Andere Verbesserungen bei Aerodynamik und Antriebsstrang allein den Euro-6-Fahrzeugen zurechnen und so auf „Pari-Verbräuche“ kommen ...Überzeugend leiseÜberraschend, mit Seitenblick auf Iveco allerdings nicht verwunderlich, war die Aussage der Motorenentwickler, dass man weitgehend auf Basis eines optimierten SCR-Systems Euro 6 erreichen würde. Das neue SCR-Eindüsungssystem realisiert bis zu 200 Mal kleinere Harnstoff-Tröpfchen beim Einblasen. Wodurch sich die Ammoniak-Bildung beschleunigt und die Stickoxidreduktion im heißen Abgasstrahl verbessert. Weil der Prozess trotz neuer Katalysator-Beschichtung im Lauf der Zeit, vor allem aber bei Kaltstart und Teillastphasen, nicht immer optimal läuft, braucht es dennoch eine „warme“ Abgasrückführung, wie Volvo es nennt. Aufwand, Gewicht und Mehrverbrauch halten sich aber in Grenzen. Verbrauchsmessungen waren zwar noch nicht möglich, in einem Punkt weiß der Euro-6-Sechszylinder aber bereits zu überzeugen: Er ist so leise, dass man sich nach dem Dreh am Schlüssel fragt, ob er schon läuft. Allerdings fallen bei diesem Leisetreter ab 80 km/h dann deutliche Windgeräusche auf – nicht unangenehm, aber eben wegen des leisen Antriebs wahrnehmbar. Dagegen bleibt es bei den Euro-5-Fahrzeugen beim gewohnten Bild: Fahr- und Windgeräusche halten sich die Waage. Insgesamt ist der neue FH aber der leiseste Fernverkehrslaster am Markt. Leistungsmäßig dagegen merkt der Chauffeur keinen Unterschied zwischen Euro 5 und Euro 6. Ein Quantensprung beim HandlingDafür ist der Unterschied zwischen FH und New FH im Hinblick aufs Handling umso größer. Mit Superlativen sollte man als neutraler Tester ja vorsichtig sein. Aber der neue FH setzt hier Maßstäbe. Dabei hatte der 460er noch nicht einmal die sagenumwobene Einzelradaufhängung. Volvo hat die Lenkung drastisch optimiert und die Rückmeldung zwischen Lenkrad und Fahrer auf ein neues Niveau gehoben. Auffällig sind extrem niedrige Lenkkräfte, an die man sich anfangs gewöhnen muss, um wirklich rund zu fahren. Dabei gibt das Volant perfekte Rückmeldung, was unten an den Rädern passiert – ohne Störeinflüsse zu übertragen. Im Gegensatz zum Vorgänger spurt der Neue perfekt, hat keinerlei Vibrationen in der Steueranlage und läuft auch auf schlechten Straßen exzellent. Auch die Kabinenfederung ist gelungen. Durch eine neue Abstimmung der vorderen Lagerung sowie eine breitere Aufnahme an der Rückwand zeigen die Fahrerhäuser trotz hohem Schwerpunkt keine Nickschwingungen und so gut wie keine Seitenneigung. Das Zusammenspiel aus Vorderachs-, Sitz- und Kabinenfederung kann man nur als gelungen bezeichnen. Durch eine neue Motorlagerung mit jetzt zwei vorderen Abstützungen überträgt der Antrieb weniger Störeinflüsse auf den Rahmen, was sich ebenfalls positiv bemerkbar macht. Bei der Standard-Vorderachse wurde das Federpaket mit neuer Charakteristik versehen, die Rahmenanbindung verbessert. Interessant ist, dass die Volvo-Ingenieure trotz neuer, optionaler Einzelradaufhängung an der Vorderachse die verbesserte Hinterachsaufhängung als „größte Innovation“ feiern. Statt wie bisher die Längslenker weit hinten am Rahmen anzubinden, sitzen Achs- und Stabilisatorlager jetzt auf einer Wirklinie mit der Sattelplatte. Die in den Rahmen eingeleiteten Drehmomente heben sich auf, Torsionsschwingungen unterbleiben und der Volvo fährt extrem ruhig. Einzig die 4x2-Fahrgestelle müssen auf diese Innovation verzichten. Bei denen war der Fahrkomfort aber nie ein Problem.Fahrwerk und Motorgeräusch sind also schon mal überzeugend. Darüber hinaus gilt der 12,9-Liter-Motor von jeher als drehmomentstarker Antrieb, der aus niedrigen Drehzahlen bullig antritt und, im grünen Bereich bewegt, mit sparsamen Verbräuchen glänzt. Zumindest die gute Fahrbarkeit hat sich mit Euro 6 nicht verändert – zu den Verbräuchen im Frühjahr 2013 mehr.Das automatisierte I-Shift-Getriebe macht einen weiteren Schritt nach vorn: Die Schaltstrategie ist noch einen Tick besser auf die Motorcharakteristiken abgestimmt. Die Gangwechsel passieren noch etwas schneller, die Kupplung arbeitet exzellent, und Benefits wie den Kriechmodus behielt Volvo bei. Clever integriert ist I-Roll, das fast unmerklich auf Neutral stuft.Die Sinnhaftigkeit von I-See, Volvos Antwort auf den GPS-Tempomaten von Scania und Daimler, erschloss sich noch nicht komplett. Seltsam ist in jedem Fall, dass das System eine Strecke einmal abgefahren sein muss, damit es dann vor Steigungen das Tempo anzieht und über die Kuppe rollen lässt. Ist die Route bekannt, arbeitet das System recht dezent – fast nur über die Anzeige des Ladedrucks nimmt der Fahrer wahr, dass I-See schon vorm Gipfel „Druck aus dem Kessel“ nimmt. Zusammen mit dem I-Cruise-Tempomat soll I-See fünf Prozent Sprit sparen. Nochmal vier Prozent soll ab Herbst 2013 das sogenannte I-Torque-Getriebe beisteuern, eine I-Shift 2 mit Doppelkupplung für schnellere Schaltmanöver und niedrigere Drehzahlen, auf das man sehr gespannt sein darf. All das ließ sich noch nicht überprüfen. Dagegen fiel schon bei der ersten Tour auf, dass I-Shift im Automatik-Modus nach wie vor nicht alle manuellen Eingriffe erlaubt – sondern nur solche, die der Getriebesteuerung plausibel erscheinen. Will der Fahrer anders stufen, muss er erst mit dem nach unserem Dafürhalten anachronistischen und beim Durchstieg hinderlichen Schaltknauf in Manuell wechseln, um sicher zu sein, dass seine Befehle auch ausgeführt werden. Immerhin hat man die Bedienfolge am Lenkstockhebel verändert: Die Automatik-Funktion rangiert jetzt oben. Betätigt der Fahrer die dreistufige Motorbremse manuell und schiebt den Lenkstockhebel dann zurück, landet er in „Automatik“ – statt wie früher die Motorbremssteuerung auszuschalten. Nach wie vor als Makel empfinden wir die Philosophie von Volvo, aus Gewichts- und Kostengründen auf einen Retarder zu verzichten. Das mag beim FH 16 mit seiner starken Motorbremse und bei 40 Tonnen funktionieren. Doch mit 13-Liter-Motor und voller Ausladung stößt die Motorbremse weiter an Grenzen.Der pure Luxus: EinzelradaufhängungGrenzen verschieben soll die neue Einzelradaufhängung der Vorderachse. Die Entwickler schwärmen von noch direkterem Fahrverhalten, Sportlichkeit, bislang ungeahntem Komfort. Doch auf den gut ausgebauten Landstraßen und Autobahnen rund um Göteborg muss man schon sensibel nachspüren, um minimal höhere Lenkkräfte, niedrigere Rückstellkräfte und etwas höheren Komfort auszumachen. Verblüffend ist allerdings, wie das System harsche Brüche wie quer laufende Eisenbahnschienen eliminiert – doch die Standardfederung kann das eben auch gut. Die Einzelradaufhängung wende sich an eine anspruchsvolle Minderheit, die auf schlechten, winterlichen oder engen Straßen unterwegs ist, argumentiert ein Volvo-Mann. Das innovative, wohl auch nicht ganz billige Feature ist also ein Stück weit „skandinavisch motiviert“. Mit dem neuen Multifunktionslenkrad macht Volvo einen weiteren Schritt nach vorn. Alle wichtigen Tempomatfunktionen finden sich im linken Bedienfeld, der recht unübersichtliche Lenkstockhebel entfiel. Dafür versteckt sich rechts ein zweiter Lenkstockhebel für den Scheibenwischer. Allerdings haben die Schweden eine recht gute Sensorik entwickelt, um den Wischer automatisch zu steuern. Ein Highlight ist die doppelte Lenkradverstellung. Hat der Fahrer das Volant über den gewohnten Fußhebel in Position gebracht, erlaubt eine Feinjustierung (per Tipp am Pedal) 20 Grad zusätzliche Einstellung. Am Ende steht das Lenkrad fast senkrecht – da kann nicht mal Scania mithalten. Zumal ein Plus im Längsverstellbereich des Sitzes jetzt auch groß gewachsene Fahrer gut sitzen lässt. Allerdings fällt hinter dem Sessel das Bett schmaler aus, dessen Matratze Volvo-typisch noch immer (zu) weich ist. Trotz des kleinen Motortunnels, den Volvo für uns wenig stichhaltig als „Schmutzbremse“ begründet, gibt es bereits im Globetrotter mit 1,96 Meter genug Stehhöhe. Der XL bietet mit 2,11 Meter noch mehr Luft, aber dem Anschein nach keine größeren Staufächer. Insofern dürfte der Globetrotter ein guter Kompromiss aus Preis und Komfort sein. Auf ein explizites Aerodach oder die Dächervielfalt à la Actros verzichtet Volvo.Aufgeräumte Ergonomie Die Integration von Tacho und Drehzahlmesser zu einem Instrument ist sehr übersichtlich. Alle weiteren Infos stellte man als Digitalanzeigen zur Seite, so kann man sich aufs Wesentliche konzentrieren. Ein zweiter Bildschirm rechts stellt Navigation, zusätzliche Kamera sowie die Musikanlage dar. Summa summarum eine sehr gute, wohltuend aufgeräumte Ergonomie am Arbeitsplatz. Was nach Dienstschluss fehlt, ist ein Tisch. Zwar bietet das neue Armaturenbrett eine große, flache Abstellfläche. Doch eigentlich ist diese nicht als Tisch nutzbar. Wie von Volvo gewohnt, zeigen die Fahrzeuge trotz Prototypenstatus eine gute Verarbeitung, nichts knistert oder klappert. Die verwendeten Materialien wirken hochwertig. Im unteren Bereich der Kabine arbeiten die Schweden mit dunklen Farben, je weiter oben, desto heller die Stoffe. Klasse sind die jetzt viel kleineren Spiegel, die aber dennoch ein weit größeres Sichtfeld bieten. Dank schlanker Träger und einer breiten Lücke zur schlanken A-Säule gibt es keine toten Winkel und hervorragende Rundumsicht. Dass sich die vier Hauptspiegel elektrisch verstellen lassen, bewerten wir als Selbstverständlichkeit, die aber nicht alle Hersteller bieten. Mit der Fernbedienung am Bett ziehen die Schweden aber nur nach. Dafür kann man so gut wie alle Funktionen aus der Koje steuern.Mit Start der Serienproduktion in Woche 48 und Auslieferung ab voraussichtlich Februar 2013 ist ein neuer Notbremsassistent verfügbar. Damit ist Volvo der zweite Hersteller, der diese Technik im LKW anbietet. Die etwas nervöse Spurbindung ist bereits bekannt. Immerhin fällt der häufige Warnton jetzt dezenter aus – und Volvo verzichtet auf das grafische Liniengeblinke, mit dem Daimler die Spurbindung illustriert. Ähnlich reduziert hält man es beim Abstandstempomaten, wo Volvo auf eine Tempoanzeige des Vorausfahrenden mit sich ständig verändernden Ziffern oder Icons verzichtet. Auch Abbiegelicht, Spurwechselassistent (mit optischer Warnung in der A-Säule) und Ermüdungswarner sind aus dem Vorgänger bekannt. Im Paket schafft es Volvo, sicherheitstechnisch die Nase vorn zu haben. Fehlt nur der Stop-and-go-Assistent, um Mercedes zu überflügeln.Nun muss noch der Verbrauch passenWirtschaftlich meist fragwürdig, aber sehr amüsant: Die finale Ausfahrt im Flaggschiff FH 16. Über das grelle Gelb innen ließe sich zwar ebenso streiten wie über das barocke Lametta außen. Völlig unstreitig ist dagegen die beeindruckende Performance: Der 16-Liter-Motor zieht gewaltig, bleibt dabei extrem leise und ist, wie der Test des Vorgängers zeigte, nicht mal sonderlich trinkfreudig. 60 Prozent aller FH 16 verkauft Volvo als 750er – wenn schon, denn schon. Doch mehr als das Top-Modell hat uns der „Brot-und-Butter“-Volvo FH 460 Euro 6 als geschmeidiges, topmodernes Gesamtpaket beeindruckt. Gut möglich, dass hier ein neuer Stern im Fernverkehr aufgeht – wenn jetzt noch der Verbrauch passt. ❙❚■ Gerhard Grünig, Johannes ReichelVolumenmodell: In Euro 6 gibt es vorerst nur den 460er, für Volvo die „goldene Mitte“ im FernverkehrKlar: I-Roll stuft „neutral“, I-See arbeitet dezentViele Tasten, die man aber schnell im Griff hatEigenentwickelte Sitze mit gutem Halt und vielfacher Verstellung. Fernbedienung für Niveauregulierung, Nebenantrieb und mehr. Leichter EinstiegDurchdacht: Mehr Stauraum, gut gemachte Schub- und Rollofächer, schlaue Ablageschale. Das serienmäßige Dachfenster sorgt für lichte AtmosphäreVolles Programm: Die VR fuhr den FH in diversen KonfigurationenSofte Matratze, klappbare Lehne. Tolle Sicht, brauchbare Außenfächer, clevere Sonnenblende, Rollo vorn elektrisch, hakelig drehbarer BeifahrersitzNeuer Volvo FHNeuer Volvo FH

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