Alt gegen neu: Zwei Scania-Generationen im Test

Dass Scania bei der Entwicklung seiner ehrwürdigen 4er-Baureihe zum Teil völlig neue Wege beschritt, merkt man schon nach dem Zug am Türöffner. Mit dem Portal klappt wie von Geisterhand die unterste Trittstufe heraus und unter lautem Poltern auch wieder ein, sobald die Tür zurück ins Schloss fällt. Gute Aerodynamik ist schließlich nicht nur in der heutigen Zeit ein wichtiges Thema! Man kann am Klang förmlich erahnen, welch komplizierte Technik sich die Ingenieure dafür ausdenken mussten, denn das Ganze funktioniert keinesfalls elektrisch, wie man es wahrscheinlich heute lösen würde, sondern rein mechanisch. Unser Scania 164 L 480 Topline erblickte im Jahr 1999 das Licht der Welt, also vier Jahre nach der Baureihenvorstellung, und hatte augenscheinlich kein hartes Leben, wovon nur knapp 70.000 Kilometer auf dem Tacho zeugen. Den Großteil ihres Daseins verbrachte die Sattelzugmaschi-ne wohlbehütet im Scania-Museum in Södertälje. Und trotzdem liegt selbst hier die untere Stufe nicht mehr ganz bündig an, wenn die Türen geschlossen sind. Ein typischer Anblick für die Scanias dieser Zeit, denn die Technik der Trittstufe offenbarte sich im harten Alltag als störanfällig und machte vielen Kunden Ärger. Trotzdem sollte der schwedische Hersteller noch bis ins Jahr 2004 daran festhalten, ehe man zu einer konventionellen Einstiegslösung zurückfand. Davon abgesehen blieb die 4er-Baureihe von Kinderkrankheiten weitgehend verschont, der Schuss musste aber auch sitzen! Schließlich war das 3er-Vorgängermodell zuletzt besonders in Sachen Fahrerhaus weit hinter Wettbewerber à la Renault AE Magnum oder DAF Super-Space-Cab gefallen. Oberes Bett an der Stirnseite Damit räumte der neue Greif kräftig auf - zumindest in der Topline-Ausführung. 1,96 Meter Stehhöhe bietet das Testfahrzeug auf seinem 440 Millimeter ins Fahrerhaus ragenden Motortunnel - für diese Zeit ein respektabler Wert. Vor allem stellte Scania die festgeschriebenen Regeln bei der Inneneinrichtung auf den Kopf. Was sofort ins Auge sticht, sobald man hinter dem, nach heutigem Empfinden, dürren Lenkrad Platz genommen hat: Das Bett findet sich im Topline nicht an der Fahrerhausrückwand, wie es sich bis dato gehörte, sondern als Alkoven-Lösung an der Stirnseite. Das sorgt für ein Top-Raumgefühl und erlaubt eine Matratzenbreite von damals rekordverdächtigen 900 Millimetern. Zu erreichen ist die Schlafstatt über eine aus dem Dach absenkbare Leiter, die sich auf der Motorkiste abstützt, mit ihren dürren Sprossen aber ein stetiger Kritikpunkt blieb. Für die Schicht lässt sich das Bett schräg nach oben klappen und stört in dieser Position Bewegungsfreiheit und Raumempfinden überraschend wenig. Blicken wir nach hinten an die Rückwand. Hier kaschiert unser 4er geschickt ein großes Manko der Bettposition vorn. Denn hier wurden optionale Zusatzstauschränke verschraubt, inklusive Mikrowelle. In diesen Genuss kam aber längst nicht jeder. Wurde bei der Bestellung an dieser Stelle kein Kreuz gemacht, rollte der Neue mit den flach bauenden Serienklappfächern an der Rückwand aus dem Werk. Die waren umständlich einzuräumen und boten vergleichsweise wenig Platz. Weshalb für Fahrer/innen im Fernverkehr schnell die Frage aufkam, wohin man mit seinen Klamotten für die lange Tour sollte, denn die geräumigen Staufächer oberhalb der Frontscheiben fielen hier ja weg. Zudem klagten manche Fahrer/-innen beim Schlafen über die Temperaturentwicklung an der Hochdachstirnseite, wenn der Greif im Sommer in der Sonne parkte. Ob das vielleicht den Ausschlag dafür gab, das Bett wieder an seine gewohnte Stelle an der Rückwand zu verlegen, wissen wir nicht. Tatsache ist, dass Scania auch diese Maßnahme beim angesprochenen Facelift 2004 veranlasste. Technische Daten im Vergleich Scania R 164L 480 Topline Scania 660 R Highline Motor Bauart V8 V8 Typ DC16 02 Euro 3 DC16 122/660 Einspritzung Pumpe-Düse, EDC Common-Rail, XPI Aufladung Single-Turbolader einstufiger Gleitlager-Turbo Schadstoffnorm Euro 3 Euro 6e Hubraum 15.600 cm3 16.400 cm3 Leistung 480 PS (353 kW) bei 1900/min 660 PS (485 kW) bei 1900/min max. Drehmoment 2300 Nm bei 1100–1300/min 3300 Nm bei 950–1400/min Getriebe Bauart manuelles Dreigang-Grundgetriebe automatisiertes Schaltgetriebe Typ GRS 900R Opticruise G33CM1 Aufbau Range + Splitgruppe Range + Splitgruppe Anzahl Vorwärtsgänge 12 12 + Overdrive in Gang 12 Anzahl Rückwärtsgänge 2 4 (optional 8) Anzahl Crawler 2 1 Zweitstärkster V8 mit 480 PS Zurück zu unserem Test-Scania, bei dem sich der Besteller großzügig zeigte und neben der reichhaltigen Ausstattung auch die zweitstärkste Leistungseinstellung mit 480-V8-PS spendierte, der vor 25 Jahren unter Scania-Fans nicht weniger Objekt der Begierde war als heute. Das 15,6 Liter große Aggregat erwacht ohne einen Hauch von Altersmüdigkeit zum Leben. Und darf seinen Lebensatem wie Abgase hier noch weitgehend ungefiltert in die Umwelt entlassen, denn die Euro 3-Norm ließ noch deutlich mehr Spielraum für Sound und Schwarzrauch. Auf Letzteres können wir gern verzichten, aber bereits das Leerlaufgeräusch ist, mit einem Wort gesagt, herrlich! Zeit, sich im Cockpit umzuschauen. Riesige Schalter sind auf dem im Halbmond um den Fahrer herumgezogenen Armaturenträger angeordnet, alles logisch aufgebaut, hier findet man sich sofort zurecht. Kein Wunder, dass dieser Arbeitsplatz seinerzeit als der Benchmark galt, obwohl er nahezu unverändert vom 3er-Vorgänger übernommen worden war. Etwas sorgenvoll blicken wir auf das manuelle Dreigang-Grundgetriebe mit Range- und Splitgruppe. Denn im Zeitalter automatisierter Schaltungen geht das nicht mehr so leicht von der Hand, zumal die Last von umgerechnet 36 Tonnen wenig Spielraum für Schaltfehler lässt. Wie war das noch mal? Schaltknauf nach unten drücken, um in die kleine Gruppe zu gelangen, das Anfahren klappt in "2 klein" ohne Probleme. Dann nach hinten durchziehen und den Splitschalter nach oben, ergibt "3 groß", passt! Als Nächstes folgt der Wechsel in die obere Gruppe. Dafür in den Leerlauf, Schaltknauf nach oben ziehen, Splitschalter runter und wieder auf Position 2. Erstaunlich, wie gering die Schaltkräfte ausfallen und wie präzise die Gänge in die Gassen flutschen. Auch der V8 steht bestens im Futter und beschleunigt die Fuhre mit reichlich typischem Grollen spielerisch auf Reisetempo 85, wo er mit knapp 1500 Touren problemlos noch kleinere Berge plattbügelt. Im Gegenzug beherrscht das großvolumige Aggregat aber auch den Drehzahlkeller von 800 Umdrehungen pro Minute pro-blemlos. So wird man immer schaltfauler und lässt den Motor einfach arbeiten. Aber Vorsicht beim Verzögern über den per Stufenhebel am Armaturenbrett zuschaltbaren Retarder! Der haut trotz entsprechender Last auf der Hinterachse giftig rein und lässt die Hinterräder bei entsprechendem Übermut kurzzeitig blockieren. Manöver, die dem aktuellen Modell völlig fremd sind. Überhaupt geht der neue deutlich weicher zu Werke und setzt nicht nur bei der Soundentwicklung auf Understatement. Auffallend, wie ungleich mehr man seine Augen auf der Straße hat, wenn weder Kupplungspedal noch Fahrstufenüberlegungen die Konzentration mindern. Zudem blicken zahlreiche elektronische Assistenten mit nach vorne. Power ohne Ende im neuen Scania Sofern nichts im Weg steht, kann der Scania aber jederzeit von seinem zurückhaltenden Wesen auf Angriff wechseln! Power steht dafür reichlich zur Verfügung, denn auch hier sorgt die zweitstärkste V8-Einstellung für Vortrieb. Nur erreicht die mit 660 PS und brachialen 3300 Newtonmeter ein Niveau, das man vor 25 Jahren wohl kopfschüttelnd als reine Tagträumerei abgetan hätte. Apropos träumen: Es soll ja Menschen geben, die noch heute lieber mit dem Alten auf Tour gehen würden. Zumindest der Autor ist aber auf jeden Fall Team neu! Der 164er ist ein Produkt seiner Zeit, das zum heutigen stressigen Arbeitsalltag nicht mehr passt. Mit einem Grinsen steigen wir trotzdem aus dem Youngtimer, und das längst nicht nur wegen der klappbaren Einstiegsstufe!

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