Durchblick 2.0

Gutes Sehen schützt, gutes Sehen nützt. Mit Techniken zur erweiterten Realität, neudeutsch Augmented Reality (AR), hält diese etwas angestaubte Werbeformel der Optiker-Innung jetzt Einzug in die Logistik. "Seit rund fünf Jahren arbeitet die Forschung daran, AR-Anwendungen in die Intralogistik einzubinden", sagt Tobias Rammelmeier, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Fördertechnik Materialfluss Logistik (FML) der TU München. "Jetzt stehen wir an der Schwelle zur Einführung." Augmented Reality versorgt Anwender im Arbeitsprozess zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort über ein Display mit Informationen. Diese werden als Bestandteil der realen Welt in das Sichtfeld des Benutzers eingeblendet. Als Display fungieren Brillengläser oder am Kopf getragene Anzeigesysteme. Die Datenbrille "Google Glass", ein Sichtgerät mit Rechnereinheit, USB-Schnittstelle, Touchpad, Kamera, Mikrofon und Lautsprecher, Augensensor und monokularem Prisma, steht inzwischen als Synonym für die Nutzung der Technologie. Nun soll die für das Consumer-Segment entwickelte Technologie auch in industriellen Anwendungen Nutzen bringen. Elf potenzielle Einsatzfelder für Augmented Reality in der Logistikkette hat das Trend Research Team von DHL Customer Solutions & Innovation in einer Studie identifiziert. Sie zeigen mögliche Ansätze auf, mit denen sich Transportprozesse optimieren oder Wartungs- und Reparaturleistungen verbessern lassen. Für die Intralogistik interessante Aspekte beleuchten, wie AR-Anwendungen Ladeprozesse verbessern und die Schadenquote in der Abfertigung reduzieren oder - als jüngste Hände-frei-Technologie - die Kommissionierprozesse verbessern. "Einsparpotenziale von bis zu 35 Prozent sind nach unseren Erfahrungswerten leicht möglich", sagt Roland Scherb, Geschäftsführer der Visual Technologies (VT) aus Baldham bei München. Visual Guided Picking oder Pick-by-Vision lauten die Bezeichnungen für den Einsatz der AR-Technologie in der Kommissionierung. Erste Testanwendungen laufen bereits. "Die Lösungen reduzieren die Pickzeiten um mehrere Sekunden", erklärt Horst Hanke, Entwicklungsleiter der KBU Logistik. "Bei bis zu 10.000 Picks in einem Lager summiert sich die Zeiteinsparung auf mehr als 100 Stunden pro Monat." Hinzu kommen weitere Einsparungen durch reduzierte Kommissionierwege, synchrone Verbuchung der Kommissioniervorgänge in Echtzeit, Senkung der Fehlerquote und - gegenüber vergleichbaren Kommissioniertechnologien wie Pick-by-Voice und Pick-by-Light - geringere Investitionskosten. "Gegenüber Pick-by-Voice liegen die Vorteile von Pick-by-Vision in der Leistungssteigerung von fünf bis zehn Prozent", urteilt Frank Wigginghaus vom IT-Anbieter Innolog. "Im Vergleich mit Pick-by-Light-Anwendungen zeigen sich gravierende Unterschiede bei den Kosten." Kosten im fünfstelligen Bereich So sind bei der Kommissionierung mit Pick-by-Light-Systemen pro Fach etwa 70 bis 80 Euro zu veranschlagen. Das summiert sich bei 500 bis 1000 Stellplätzen auf ein Invest zwischen 35.000 und 80.000 Euro. "Die Ausstattung für Pick-by-Vision ist pro Mitarbeiter mit rund 2500 Euro anzusetzen - inklusive Software", so der Geschäftsführer. Für eine Grundausstattung sind allerdings mindestens 12.300 Euro zu kalkulieren: Die benötigte Software kostet ab etwa 12.000 Euro aufwärts. Die Datenbrillen sind in absehbarer Zeit für 300 bis 5000 Euro zu bekommen. Dann bieten die Pick-by-Vision-Lösungen enorme Flexibilität: Die Hardware-Ausstattung kann beliebig aufgerüstet werden. "Mindestens 50 Prozent weniger Kosten als Pick-by-Light", resümiert VT-Geschäftsführer Scherb. "Hinzu kommt der Mehrwert durch die damit verbundenen IT- und Prozessoptimierungen sowie durch die Nutzung einer zukunftsweisenden Technologie." Denn die Systemausstattung mit Mikrofon, Kamera und Display bietet sowohl Anwendungen mit Code-Erfassung als auch sprachgestützte Kommissionierung plus visueller Anzeige. "Sobald die Hardware ausgereifter ist, können alle Prozesse im Lager unterstützt werden", prognostiziert Dennis Kunz, Marketingleiter Ehrhardt und Partner. "Das reicht von der Mitarbeiterunterstützung direkt aus dem Leitstand bis zur Indoor-Navigation." Dennoch räumen selbst die Anbieter ein, dass es bei den gegenwärtigen Lösungen noch einen erheblichen Nachsteuerungsbedarf gibt. Softwareseitig können die Funktionalitäten und Prozesse bereits weitgehend stabil abgedeckt werden. Es hapert jedoch an der Hardware. Die Datenbrillen sind für das Consumer-Segment entwickelt worden - Spielzeug, das sich beim Einsatz in rauer Umgebung gegenwärtig noch kaum bewährt. "Während die Software einen hohen Reifegrad erreicht hat, sehen wir bei der Hardware - den Smart Glasses - noch deutliches Verbesserungspotenzial", erklärt Christian Erb, Projektleiter Salt Solutions, Würzburg. "Das betrifft unter anderem die Akkulaufzeit, die optische Erfassung und die generelle Verfügbarkeit. Die aktuell verfügbare Hardware eignet sich für die Realisierung von Pilotprojekten, aus denen sich wichtige Erkenntnisse für den späteren Einsatz gewinnen lassen." Daher hat DHL jetzt ein Pilotprojekt in zwei Umschlagzentren in Großbritannien und den Benelux-Ländern aufgelegt, mit dem die Technologie auf ihre Praxistauglichkeit und ihren Nutzen hin untersucht werden soll. Erste Ergebnisse erwartet der Paketdienstleister zum Jahreswechsel. Im Fokus stehen dabei Kosten-Nutzen- Abwägungen hinsichtlich Effizienz und Qualität sowie die Ermittlung etwaiger K.o.-Kriterien. "Die Anwendungen von Augmented Reality befinden sich in der Logistik gegenwärtig noch in einer frühen Einführungsphase", erklärt Markus Kückelhaus, Leiter DHL Trend Research. "Wir wollen Entwicklungspartner, Experten der unterschiedlichen Hard- und Software-Bereiche zusammenführen und gemeinsam mit ihnen aus den erkannten Defiziten der bisherigen Komponenten praktikable Lösungen für die Logistik erarbeiten." Zu sensibel, zu langsam Als markante Defizite sieht DHL neben der eingeschränkten Akkulaufzeit die gegenwärtige Ausrichtung der noch sehr sensiblen Hardware-Komponenten auf monokulare Prismen. Zudem sei die Prozessgeschwindigkeit der aktuellen Geräte zu langsam. Die für Umwelterkennung und die Einspielung von Zusatzinformationen benötigte Rechnerkapazität erfordere leistungsstärkere Chips. "Es werden leichte Head-up-Displays mit bikularen Anzeigeflächen, See-through-Devises und achtstündiger Akkulaufzeit benötigt", fasst Kückelhaus zusammen. "Wir gehen davon aus, dass solche Endgeräte noch in diesem Jahr zu erwarten sind." Einen wesentlichen Schub zur Überwindung der Engpässe bei der Hardware erwarten die Experten mit Ablauf der diesjährigen Internationalen Funkausstellung (IFA) Mitte September in Berlin. Neben Google stehen inzwischen von Atheer, Brother und Epson über Meta, Microsoft und Olympus bis hin zu Samsung, Sony und Vivux mehr als zehn Hersteller mit sogenannten Datenbrillen im Markt. Ihre Produkte unterscheiden sich in Design und Darstellungsform (Brille/Bügelsystem, mono-/bikular, optical/Video - siehe Kasten) und vor allem in den Anwendungsfunktionen. Vielfach sind sie lediglich als Zusatzausstattung für Smartphone und Tablet-PC konzipiert. "Der Consumer-Bereich bildet eine wichtige Brücke für die Marktreife brauchbarer Hardware-Komponenten in der Intralogistik", glaubt FML-Mitarbeiter Rammelmeier. "Die systemischen Grundlagen sind geschaffen - die weiteren Entwicklungen gehen jetzt sehr schnell." "Bereits im kommenden Jahr werden substanziell verbesserte Hardware-Komponenten zur Verfügung stehen", erwartet auch VT-Geschäftsführer Scherb. Für die Lösungsangebote der Software-Anbieter ist es jedoch weitgehend unerheblich, welche Hardware die Anwender verwenden. "Brille auf und es läuft", spitzt Innolog-Geschäftsführer Wigginghaus zu. Gleichwohl ist auch softwareseitig einiges noch abzuwägen. "Beim Kauf von Geräten verschiedener Anbieter ist softwareseitig darauf zu achten, dass sie mit demselben Betriebssystem arbeiten", sagt E+P-Marketingleiter Kunz. Darüber hinaus führen die Experten die Datenauswahl und den Datenschutz etwa bei Internet-basierten Google Glass-Anwendungen an. DHL setzt die Datenbrille in seinen Pilotprojekten mit Hinweis auf "verringerte Komplexität" zunächst als Stand-alone-Lösungen ein. Für Anwendungen mit Google Glass geht es darum, die Hardware vom Internet zu trennen. Der Informationsaustausch erfolgt über WLAN und im geschlossenen Firmennetzwerk. Ein manuelles Kommissioniersystem mit Augmented Reality hat Intralogistikanbieter Knapp mit Sitz in Hart bei Graz bereits 2011 mit Kisoft-Vision entwickelt. Das inzwischen patentierte und zur Marktreife geführte Knapp-System ist aus Einzelkomponenten als Head-Mounted-Display (HMD) mit monokularem, durchsichtigem (See-through) Display konzipiert. Es kommt gegenwärtig noch etwas sperrig daher. Display und Mikro-Kamera wurden auf einer Montur befestigt, die der Anwender auf dem Kopf trägt. Akkus und weitere Zusatzausstattungen werden in einer Weste mitgeführt. Die Informationsvermittlung erfolgt als Video-see-through - was viele Experten als zu schwerfällig kritisieren. Trotzdem bildet das System derzeit offenbar die beste Hardware-Basis für weitere Entwicklungen im Visual Guided Picking. "Eine andere Gesamtlösung im Markt ist uns gegenwärtig nicht bekannt", so Kückelhaus. Folglich werden die Österreicher wohl auch bei den weiteren Entwicklungsbemühungen von DHL mit im Boot sein. "Wenn die mobile Rechenleistung weiter steigt und die Kameralösungen besser werden, wird Pick-by-Vision noch stärker", sagt Peter Stelzer, Leiter des Business Center Vision bei Knapp. "Bildverarbeitung im Sinne, dass Pick-by-Vision reale Objekte erkennt, stehen dann Türen und Tore offen. Features wie automatische Objekterkennung, automatisches Zählen sowie automatische Qualitätskontrolle werden möglich sein." Auswirkungen auf die Gesundheit "Bei alledem muss der Einsatz von Augmented Reality in der Arbeitswelt selbstverständlich auch arbeitsrechtliche Fragen berücksichtigen", so Kückelhaus. Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) hat entsprechende Untersuchungen vor Kurzem abgeschlossen. Mit verblüffenden Ergebnissen. In dem Projekt wurden der Nutzen von HMD bei Montagearbeiten sowie die Auswirkungen untersucht, die eine mehrstündige Verwendung auf die Anwender zeigen. Zum Einsatz kamen ein industrielles HMD, ein US-amerikanisches HMD und ein leichtes Bügelsystem. "Durchweg keine Prototypen", so BAuA-Projektleiter Matthias Wille. Zwar gibt es noch keine offizielle Stellungnahme der BAuA, doch die Ergebnisse weisen darauf hin, dass eine Beeinträchtigung der Augen nicht zu erwarten ist. Physisch werden die Nutzer von den Datenbrillen jedoch stark gefordert. Im Vergleich mit einer über Wandmonitor beziehungsweise Tablet-PC eingespielten Arbeitsanleitung liegt ihre Konzentrationsleistung höher. Die beiden größeren HMD verursachten den Probanden zudem Kopfschmerzen. Ein vierstündiger Dauerversuch ergab, dass mit Datenbrillen die Reaktionszeiten verzögert und die Arbeiten langsamer verrichtet wurden. "Bei einer Einführung von Datenbrillen müssen die Anwender in jedem Fall die vorgeschriebene Gefährdungsbeurteilung durchführen", fasst Wille zusammen. Informationsaufnahme in der Bewegung berge ein besonderes Gefahrenpotenzial. "Die Datenbrille führt zu einer gewissen Abschottung von der realen Umwelt", unterstreicht Dieter Friedburg, Leiter des Arbeitskreises Optik im Berufsverband der Augenärzte Deutschlands (BVA). Risiken sehen die Augenärzte weniger für die Augen als in der Aufmerksamkeits-Splittung. "Neben einem erhöhten Unfallrisiko sind psychologische Nebenwirkungen durch die Doppelwelt nicht auszuschließen", so Friedburg. "Erst die Erfahrung kann zeigen, ob die möglichen Mehrbelastungen sich negativ auswirken. Im Bereich der Datenbrille ist noch einiges zu tun, damit gutes Sehen nützt und schützt." Ein Interview mit Prof. Willibald Günthner von der TU München unter www.verkehrsrundschau.de/dokumente Glossar Die Datenbrille - Head-up-Display (HUD - wörtlich: "Kopfoben-Anzeige"): Informationen werden in das Sichtfeld projiziert, ohne dass der Nutzer seine Blickrichtung ändern muss (Einblendungen auf PKW-Frontscheibe). Bild wird von einem Micro-Display erzeugt und über ein Prisma in das Blickfeld des Benutzers projiziert. Der Betrachter sieht gleichzeitig den realen Hintergrund und die eingeblendeten Informationen.- Head-Mounted-Display (HMD - wörtlich:"am Kopf befestigte Anzeige"): Werkzeug zur Visualisierung gemischter Daten. Das visuelle Ausgabegerät wird auf dem Kopf getragen und erfasst die Blickrichtung des Benutzers mittels eines Orientierungssensors oder einer integrierten Kamera. Informationen bleiben unabhängig von der Körperposition sowie Drehung des Kopfes immer im Sichtfeld.- "See-Through"-Display - Die Darstellung kann wie beim HUD den realen Hintergrund mit einem virtuellen Bild überblenden ("Optical-see-through"). Das Bild wird auf ein durchsichtiges Display vor einem oder beiden Augen (Brille) dargestellt. Der Betrachter sieht gleichzeitig den realen Hintergrund und die eingeblendeten Informationen. Durch den Einsatz einer Kamera, die auch auf dem HMD angebracht ist, können reale Bilder erfasst und mit virtuellen gemischt werden ("Video-seethrough").- Monocular - Bildausgabe auf ein Display vor einem Auge- Bikular - Bildausgabe auf Displays vor jedem Auge- Tracking - Die Einbindung von Kamerasystemen beim Einsatz von Datenbrillen ermöglicht es, Position und Richtung einer Person im Raum zu bestimmen und entsprechende Auswertungen anzubinden.