Die Zukunft fährt schon heute los

Er sieht mit seinen riesigen LED-Facettenaugen aus wie eine überdimensionale Libelle ohne Flügel. Nur bei genauer Betrachtung fällt auf, dass unter der windschnittigen Haut im Grunde genommen ein Actros der aktuellen Fahrzeuggeneration steckt. Mit dem silbernen Torpedo und seinem aerodynamisch optimierten Trailer will Daimlers Future Truck nicht weniger darstellen als die Evolution des Straßengüterverkehrs. Der Weg von der Science-Fiction zur Realität ist indes ein kurzer: Klar hat der Future Truck ein paar technische Highlights, die man in aktuellen LKW nicht findet - etwa die Überlagerungslenkung, die auch ohne Zutun des Fahrers Steuerungsbefehle umsetzen kann. Ansonsten ist es aber, ungeachtet der raumschiffartigen Optik, eine Vernetzung bekannter Assistenzsysteme unter Zuhilfenahme der ohnehin schon am Fahrzeug verbauten Sensorik. Mehr Technik, bessere Aerodynamik Teil der futuristischen Optik sind die weit heruntergezogenen Türen. Durch die Verkleidung der Trittstufen lässt sich der Luftwiderstand verbessern. Wie vom Serien-Actros gewohnt, führen vier Stufen in die fast leer geräumte Kabine mit dem ebenen, schiffsähnlich beplankten Boden. Nur noch wenige Elemente im Interieur - darunter das Bett und kleinere Teile des Armaturenbretts - erinnern ans Serienfahrzeug. Gestartet wird noch immer per Knopfdruck. Der Befehl zum Zünden aktiviert das bekannte 13-Liter-Aggregat mit 450 PS. Der aktuelle Antriebsstrang hat Gnade vor den Augen der Futuristen gefunden und entspricht dem Serienstand. Auch sonst ist noch vieles so wie beim bekannten Actros. Der Future Truck besitzt Gaspedal, Bremse und ein 12-Gang-Powershift-Getriebe. Der Fahrer fädelt sich also ganz normal auf die Autobahn ein und drückt beim Erreichen des Wunschtempos den ebenfalls bekannten Knopf für den Tempomaten - erst dann zeigt sich der Unterschied und zwar gewaltig! Mit der Meldung "Highway Pilot aktiv" wechselt der Future Truck in den autonomen Modus. Sauber zieht er seine Spur zwischen den beiden Fahrbahnbegrenzungslinien. Selbst wenn die mal fehlen sollten, orientiert sich die kombinierte Sensorik an Bebauungsmaßnahmen und findet ihren Weg. Dass sie auf dem Testgelände in Papenburg vereinzelt kleine Problemchen hat, liegt nicht am System, sondern vielmehr an den Steilkurven. Da so etwas im realen Verkehr eher selten ist, darf man entsprechend hohe Zuverlässigkeit unterstellen. Selbst die provozierte Fehlbedienung, indem man das Fahrzeug zwischen zwei Fahrbahnen lenkt, tariert der Future Truck souverän aus: Er analysiert die Situation und wählt sich eine Spur. Das alles passiert ohne jegliches Zutun des Fahrers, ohne Unruhe im Fahrzeug, ohne Bremsmanöver und äußerst sicher. Um seinen Weg zu finden, braucht der Silberpfeil nicht mal ein vorausfahrendes Fahrzeug. Er funktioniert unabhängig von anderen Verkehrsteilnehmern durch die Vernetzung seiner Assistenzsysteme - nicht durch die Verkettung mit einem Leitfahrzeug. Fährt ein langsameres Fahrzeug voraus, tritt der bereits bekannte Abstandstempomat in Kraft und der Future Truck passt sich automatisch an dessen Tempo, mit passendem Sicherheitsabstand, an. Selbst einscherende oder durchschwenkende Fahrzeuge sind damit kein Problem. Nach Aussage von Markus Kirschbaum, einem der führende Daimler-Köpfe hinter dem Projekt, bleibt der Fahrer stets Chef im Ring: "Der Chauffeur ist jederzeit in der Lage, manuell die Verantwortung zu übernehmen. Daher überwachen zwei Kameras den Fahrerplatz und ein Sensor den Sitz", so der Senior Manager im Truck Product Engineering. Spurhalten, nicht überholen "Übrigens haben wir nicht vorgesehen, dass der Truck autonom überholt", erläutert Kirschbaum. "Auch wenn der Fahrer die Autobahn verlässt oder an einem Kreuz die Fahrbahn wechseln will, muss er selbst die Steuerung übernehmen. Das autonome Fahren ist eine Kann-Funktion - kein Muss!" Zum Konzept des Future Truck gehört ein aerodynamisch vollverkleideter Sattelauflieger, der nach Aussage von Mercedes-Benz auf dem "Aerodynamics Trailer", der vor zwei Jahren als Weltpremiere auf der IAA zu sehen war, basiert. "Der allein trägt zu einer Verbrauchsreduzierung von bis zu fünf Prozent bei", erklärt Georg Stefan Hagemann, einer der verantwortlichen Vordenker in Daimlers LKW-Entwicklung. Das aktuelle Konzeptfahrzeug ist allerdings trotz hohem Sparpotenzial nicht auf Praxistauglichkeit ausgelegt: "Wir haben zwar aerodynamisch eine Menge Potenzial gehoben", so Hagemann. "Aber mit den fehlenden Kühlluftöffnungen hätte das Fahrzeug in bestimmten Einsätzen schon Probleme." Ein schon öfter beschrittener Weg ist der Verzicht auf Spiegel. Im Test-LKW funktioniert das System mit den beiden Kameras sehr gut. An die beiden an der A-Säule installierten LCD-Bildschirme gewöhnt sich der Fahrer relativ schnell. Zudem hat der Future Truck bereits den neuen Blind Spot Assist verbaut, was die - virtuelle - Übersichtlichkeit für den Fahrer deutlich verbessert. Auch wenn es anfangs ungewohnt ist, lässt man sich relativ schnell auf die bekannte und lediglich kombinierte Technik zum autonomen Fahren ein. Wie selbstverständlich dreht man nach kurzer Eingewöhnungsphase den Fahrersitz weg vom Lenkrad und nimmt das integrierte Tablet vom Armaturenbrett, um beispielsweise Mails zu checken oder den nächsten freien Parkplatz per Smartphone zu suchen und zu buchen. Während der Truck mit 80 km/h die Autobahn entlang fährt, arbeiten die installierten Assistenz- und Telematiksysteme - Abstandshalte-Assistent, Stop-and-Go-Assistent, Notbrems-Assistent "Active Brake Assist 3", Spurhalte-Assistent sowie die dreidimensionalen Karten für den vorausschauenden Tempomaten Predictive Powertrain Control - im Verborgenen. Im Future Truck sind auch Fleetboard Telematikprodukte, vom Fahrzeug- über das Transportmanagement bis hin zu App-Lösungen für Fahrer und Unternehmer, verbaut. Einziger Unterschied zum Serien-Actros: Im Future Truck sind sie miteinander verknüpft. Künftig kommt noch eine "vehicle to vehicle"- sowie eine "vehicle to infrastructure"-Kommunikation dazu. Damit vernetzt sich der Truck der Zukunft mit allen Aspekten seiner Umgebung. Als Zeitziel steht das Jahr 2025 Geht es nach Daimler, soll der Future Truck schon in zehn Jahren Realität sein. Seine Vorteile liegen nach Ansicht des Stuttgarter Konzerns auf der Hand: Der Verkehr wird durch eine dann vorliegende Kommunikation zwischen den Fahrzeugen und der Infrastruktur flüssiger, menschliche Fehler lassen sich vermeiden und das teure "Gut" Fahrer wandelt sich vom LKW-Lenker zum Transportmanager. Statt Totzeit hinter dem Lenkrad, nutzt der Chauffeur seine Zeit für andere Tätigkeiten. Daimler verschweigt nicht, dass bis zum autonomen Fahrer noch eine Menge Hindernisse beseitigt werden müssen. Es bedarf vor allem einer Anpassung der Gesetzgebung an diese neue Dimension des Fahrens. Technisch und juristisch muss Datensicherheit gewährleistet sein. Nicht zu vergessen verkehrsrechtliche Fragen, zur Haftung bei Verkehrsverstößen und nie ganz auszuschließenden Unfällen. Auch das Thema Lenk- und Ruhezeiten wäre noch zu diskutieren. Scheint auf jeden Fall, als wäre die Technik viel weiter als alle anderen Aspekte ... Die Mensch-Maschine-Schnittstelle Teile des Future Truck werden schon vor 2025 in Serie gehen "Connectivity" und "Big Data Management" sind Schlagworte für maßgeschneiderte Fahrzeug- und Dienstleistungslösungen sowie die Kommunikation zwischen Fahrzeugen und der Infrastruktur. Der Übergang von mobilen Kommunikationsgeräten zur Fahrzeugtechnik wird aller Voraussicht nach fließend werden. Auch dafür liefert der Future Truck einen schlagenden Beweis: Das im Mittelteil des Armaturenbretts angedockte Samsung Tablet wird zum multifunktionalen Bauteil. "Wobei es grundsätzlich egal ist, ob Samsung, I-Pad oder welches Endgerät auch immer", wie Daimler-Mann Markus Kirschbaum anmerkt."Letztlich tauscht man nur die Docking Station und muss die entsprechenden Applikationen installieren, damit Fahrzeugdaten genutzt werden können", so der Daimler-Produkt-Ingenieur. Im Future Truck übernimmt das Tablet bereits eine Art Zwitterfunktion. Einerseits lassen sich fahrzeugrelevante Daten aufspielen, etwa Informationen aus Fleetboard zur Navigation, Flottensteuerung oder zur vorbeugenden Wartung. Andererseits kann der Fahrer Apps laden, seine privaten Mails abarbeiten oder den Kompakt-Computer nutzen, um Filme zu sehen oder Musik zu hören.Auch das eigentliche Armaturenbrett des Future Truck zeigt Trends für die Zukunft. Es geht immer mehr in Richtung freier Programmierbarkeit der Cluster, weg von konventionellen Zeiger-Instrumenten, hin zu dreidimensionalen Digitalanzeigen. Der Zukunfts-LKW zeigt auf angenehme Weise, dass sich die Bedienung auch trotz vielfältiger Funktionen einfach steuern lässt. Mit dem aus dem aktuellen Actros adaptierten Multifunktionslenkrad - das durchaus für seine gute Bedienbarkeit gelobt wird - hat der Fahrer ein logisches Bedienelement für die primären Fahrfunktionen. Alle Funktionen der sekundären Ebene (Heizung, Klima, Radio, etc.) lassen sich bedienfreundlich via Touchscreen steuern. Selbst ältere Fahrer gewöhnen sich schnell an die neue Technik. Ein interessanter Ansatz sind die Kamera-Systeme. Allerdings müssen die erst noch ihre Praxistauglichkeit unter Beweis stellen. Am schönen Testtag funktioniert die Technik problemlos. Störend wirken nur die klobigen Bildschirme an der A-Säule - und das bezieht sich weniger auf das im Vergleich zum Spiegel ungewohnte Bild. Die Bildschirme sind ein echter Störfaktor. Noch ein wenig weiter in die Zukunft gedacht, ließe sich das "Spiegelbild" vielleicht als eine Art Headup-Display direkt in die Seitenscheibe einbinden.Wagt man eine Prognose, sind die Spiegel wohl das praxisuntauglichste Element am Future Truck. Alles andere kommt schneller als erwartet. gg

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