Der Pferde(stärken)flüsterer

Meyer Logistik gehört zu den experimentierfreudigen Unternehmen, die sich nicht scheuen, alternative Antriebe im Praxiseinsatz ausgiebig zu nutzen und zu testen. Dazu gehören seit 2015 auch zwei rein elektrisch betriebene 18-Tonnen-Verteiler der Marke E-Force, die täglich im Alltagseinsatz stehen. Mit ihnen möchte Meyer Erfahrungen bezüglich Routen- und Tourplanung sammeln, sollten die Innenstädte eines Tages wirklich nur noch für Zero-Emission-Fahrzeuge offen bleiben. Wir begleiteten Fahrer Uwe Steffen, der einen der beiden E-Force-"Elektriker" bei Meyer Logistik lenkt, auf einer Verteilertour für den Einzelhändler Rewe in Berlin und Umgebung. Der E-Force basiert auf einem Iveco Stralis 190 S 31, leistet aber im Gegensatz zum 310 PS-Basis-Diesel bis zu 408 PS respektive zweimal je 150 Kilowatt Leistung. Als Dauerleistung stellt er 252 PS respektive zweimal 93 kW zur Verfügung. 4000 Newtonmeter Drehmoment Beeindruckender ist das Drehmoment, das am Getriebeausgang auf die Kardanwelle geht: 4000 Newtonmeter stehen praktisch ab 0 Umdrehungen bereit. Und das "nutzbare" Drehzahlband reicht theoretisch bis 13.000 Touren. Doch 18 Tonnen bleiben 18 Tonnen. Und selbst wenn Steffen den E-Force am Rewe-Zentrallager in Oranienburg nicht komplett auslädt, startet er seine Tour immer mit zweistelliger Tonnage. Die beginnt je nach Auftrag zwischen fünf und sechs Uhr morgens und endet je nach Ladestellen und Verkehr zwischen zwölf und 14 Uhr. Dann muss der Elektro-Lkw wieder an die Ladestation. Bei einem Anschluss mit 400 Volt, 63 Ampere und 44 kW schmelzen immer mal wieder die Kunststoffnippel der Ladedosen weg, so heftig saugt sich der 18-Tonner in sechs Stunden voll - und bietet offiziell bis zu 300 Kilometer Reichweite. In der Realität sind es laut Steffen eher zwischen 160 und 200 Kilometer. Die genügen aber sommers wie winters für eine große oder zwei kleinere Tagestouren, zumal er theoretisch auch hier und da etwas Reichweite "nachladen" kann - sofern er eine Ladestelle mit Stromanschluss bekommt. Nachts hängt der E-Force in der Regel an der Ladestation im Rewe-Zentrallager in Oranienburg, die ihre Energie von den Solarpanelen auf dem Lagerdach zieht. Im Winter und bei bedecktem Himmel muss "zugekaufter grüner Strom" die Emissionsfreiheit des E-Force sicherstellen. Von der Ladestation stöpselt Steffen den Lkw ab und rangiert leise an die Rampe. In Berlin sorgt diese Lautlosigkeit manchmal für Stress, da den Stromer trotz Rückfahrpiepser niemand hört - oder hören will: "In der Hauptstadt kämpft manchmal jeder gegen jeden", erzählt der einheimische Fahrer. Da alle immer möglichst schnell ankommen wollen, huschen sie gern noch hinter dem Lkw durch - trotz eingeschalteter Rückfahrscheinwerferbatterie und Piepser. Da ist die Rückfahrkamera Gold wert. Das Laden und Sichern der Fracht per Sperrbalken und -stangen funktioniert wie beim dieselbetriebenen Standard-18-Tonner. Vor dem Start: Reichweitenabgleich Zu Beginn gibt der Fahrer die Tour ins Navi ein: Sie wird, übereinstimmend mit den Papieren, 90 Kilometer lang sein - die Restreichweite beträgt laut Anzeige 98 Kilometer - das wird klappen. Denn über das Rekuperationspedal links neben der Lenksäule, das im Handschalter-Stralis zum Kuppeln dient, wird der Fahrer die Reichweite deutlich verlängern. "Wenn man hier vorausschauend fährt, braucht man die Betriebsbremse gar nicht", erklärt er. Dann zieht er vor, schließt die Ladebordwand per Taster von der Kabine aus und "stromert" los. Und das in beeindruckender, fast Pkw-artiger Geschwindig- und Leichtigkeit. Jede Kreuzung und jedes Hindernis bremst respektive rekuperiert er "mit Links" an. Und tatsächlich sinkt die Reichweite langsamer, als die gefahrenen Kilometer steigen. Nach einer Ladestelle in Oranienburg geht es auf die Ringautobahn A 10 nach Berlin, auf der Steffen den E-Force schnell auf 80 km/h hochzieht. Jetzt entsprechen sich gefahrene Kilometer und Reichweitenverlust in etwa, was stimmiger ist als bei vielen Elektro-Pkw, die auf der Autobahn über Gebühr Reichweite vernichten. In Berlin rekuperiert der Fahrer wieder fleißig und hält die Restreichweite so lange konstant. Nach der nächsten Ladestelle im Stadtteil Weißensee geht es zu einer Filiale in der ehemaligen Schultheiss-Brauerei am Prenzlauer Berg, wo der Flüster-Lkw immer gut ankommt - die Imagewirkung für Meyer und die Kunden ist hier nicht zu unterschätzen. An den hohen Anschaffungs- und Infrastrukturkosten des Kleinserien-Lkw beteiligen sich diese mit einen kleinen Aufgeld pro Tour. Steffen lädt seine letzte Partie ab und den Rücklauf der Filiale auf - mehrere leere Rollies, Paletten mit Pappe und leeren Kunststoffflaschen - leer fährt er nie. Beim leisen "Ablegen" aus dem Hof der Kulturbrauerei wundern sich ein paar Arbeiter, wie das Auto ohne gestarteten Motor vom Hof rollt: Steffen erklärt es ihnen mit einem Lächeln und gleitet zurück ins Zentrallager. Trotz Autobahn bleiben am Ende der Tour 39 Kilometer Reichweite - gut rekuperiert ist halb gewonnen! Zumal Strom im Idealfall günstiger ist als Diesel und der E-Force im Stop-and-go der Hauptstadt keinen unnötigen Sprit verbrennen kann. Mehr zum Thema unter "Hybrid- und Elektro-Lkw" www.verkehrsrundschau.de/dossiers

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