"Das ist diesmal keine Blase"

An Selbstbewusstsein mangelte es Hanno Behrens, geschäftsführender Gesellschafter des Start-ups Truckload 24, auf dem Deutschen Logistik-Kongress in Berlin nicht: "Die Transportlogistik des 21. Jahrhunderts befindet sich noch im Steinzeitalter". Mit diesen Worten kündigte er vor den rund 3100 Kongressteilnehmern seine Internetplattform Gorilla Freight an, mit der Behrens seit 2013 das Segment europäische Komplettladungsverkehre aufrollen will. Sein Angebot: Verlader könnten bei Gorilla günstige und sichere Transporte finden. LKW-Unternehmer hätten mit seiner Plattform einen fairen Partner, der ihnen Ladungen mit Zahlungsgarantie gäbe. Der feste Glaube allein langt nicht Mit starken Sprüchen, einem unbedingten Glauben ans Internet und mit einem innovativen Geschäftsmodell versuchen gerade einige junge Start-ups, die Logistik zu revolutionieren. Mit der Sequenz "Innovative Geschäftsmodelle" bot die Bundesvereinigung Logistik (BVL) deshalb in diesem Jahr erstmals sieben Start-up-Unternehmern die Möglichkeit, ihre Geschäftsideen "My Lorry", "Truckload 24/Gorilla", "Tiramizoo", "Kiwi.Ki", "Bring-Bee", "Scandit" und "Sey Cell" auf dem Logistikkongress zu präsentieren. Dabei zeigte sich: Wirklich neu ist das alles nicht. So sind Truckload 24 und My Lorry letztlich Frachtenbörsen im neuen Gewand. Und im Extremfall müssen - trotz Internet und Smartphone - LKW-Unternehmer händisch telefonisch nachakquiriert werden, wenn sich zu dem auf der Onlineplattform angebotenen Preis partout kein Frachtpartner finden lässt, wie die Start-ups auf Anfrage einräumen. Auch Stella Viktoria Schieffer wollte mit ihrer Crowdl ogistik-Lösung Bring-Bee die Paketauslieferung revolutionieren. Bring-Bee sollte eine Art praktischer Mitbringservice für Einkäufe sein. Kunden sollten zum Beispiel ihre Einkaufsliste einfach in einem der Bring-Bee-Partner-Shops zusammenstellen und über Bring-Bee einen Mitbringer finden, der die Artikel einkauft und ihnen für ein kleines Entgelt zur Wunschzeit mitbringt. Da ein "Bring-Bee" gleich die Einkäufe für zwei erledigt, so das Leistungsversprechen, sollte dadurch eine unnötige Fahrt gespart und damit die Umwelt geschont werden. Nun bekannte die Jungunternehmerin in Berlin offen: "Wir haben im Oktober das operative Geschäft eingestellt." Entsprechend massiv fiel ihre Kritik an traditionellen Handelsunternehmen aus. "Wir sind da gegen Wände gestoßen - gerade bei den traditionellen Handelshäusern", klagt sie gegenüber der VerkehrsRundschau. "Die haben viel geredet, aber gehen das Thema E-Commerce nur halbherzig an". Eine Erfahrung, die auch Michael Löhr, Geschäftsführer der Kurierplattform Tiramizoo, macht. Mit seiner Start-up-Idee im Same-Day-Delivery-Segment wird er zwar immer wieder mit Innovationspreisen ausgezeichnet, aber auch er kämpft gegen Traditionen im Handel und Kurierwesen. Mit der Folge, dass das Sendungsvolumen, das über Tiramizoo abgewickelt wird, laut Branchenkennern nach wie vor gering ist. Nicht so wie Karstadt enden Aber auch wenn die Start-ups sich in Deutschland noch schwertun, die deutschen Handelsunternehmen fürchten die neue Konkurrenz. So macht Rewe-Manager Jean-Jacques van Oosten in seiner neu geschaffenen Position als Chief Digital Officer in Berlin deutlich, dass die bisherigen Platzhirsche sich dem E-Commerce stellen müssen: "Die Technik und der Kundenwunsch sind vorhanden", stellt van Oosten klar. Wolle man nicht wie Karstadt enden, die von Unternehmen wie Amazon und Zalando überrollt wurden, müsse sich auch der Lebensmittelhandel schnell der digitalen Welt stellen. Ähnlich sieht dies auch Deutsche-Post-DHL-Chef Frank Appel: "Der E-Commerce wird dramatisch wachsen und das Land dramatisch verändern. Wir stehen erst am Anfang der Entwicklung." Unterstützung findet diese These auch in der Wissenschaft: "Das ist dieses Mal keine Blase wie Anfang 2000", betont Christian Kille, Professor für Handelslogistik an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt. Aber: Ein bisschen ebbten derzeit die unglaublich hohen Wachstumsraten bei den E-Commerce-Bestellungen ab. Die Unternehmen müssten sich vorerst "an ein langsameres Wachstum" gewöhnen, das in den kommenden Jahren "stabil im einstelligen Prozentbereich" liegen dürfte. Grund dafür sei, dass die bisher E-Commerce-affinen Produkte wie Textilien und Bücher nur ein Drittel des gesamten Konsumumsatzes ausmachen. Erst wenn die Letzte Meile wirklich funktioniere, ist sich Kille sicher, würden Endverbraucher Lebensmittel- und Konsumgüter des täglichen Bedarfs, die zwei Drittel des gesamten Konsumverbrauchs ausmachen, online kaufen. "Und dann wird es im E-Commerce den zweiten Wachstumsschub geben", ist er sich sicher. Entsprechend müsste sich jedes Unternehmen dafür rüsten: "Klar kostet das Geld", sagt er. Letztlich aber habe ein Unternehmen keine andere Wahl: "Man muss in dieses Geschäft investieren. Sonst scheidet man aus dem Markt, wie viele Wettbewerber von Amazon." Andreas Wild, Geschäftsführer der DPD Systemlogistik in Neufahrn, warnt gegenüber der VerkehrsRundschau indes vor zu viel E-Commerce-Euphorie: "Von den acht Prozent Umsatzwachstum im E-Commerce in diesem Jahr stammen sechs Prozent von Amazon und gerade einmal zwei Prozent von den übrigen Unternehmen", führt er aus. An den meisten Unternehmen, so Wild, gehe der Boom also vorbei. Seine Sorge ist, dass im E-Commerce Oligopole immer größer werden. "Kleine und mittlere Firmen, die in diesem Geschäftsfeld nachrücken wollen, haben damit immer weniger eine Chance, groß zu werden", schätzt er. Komplexität in der Logistik steigt Dass sich Logistikstrukturen und -anforderungen dramatisch verändern können, ist nicht nur ein Phänomen im E-Commerce-Geschäft. Dieser Trend ist auch in anderen Branchen zu beobachten, beispielsweise in der Chemie. "Wir werden bei unseren Serviceleistungen immer häufiger mit Amazon verglichen", sagt Bernd Nahler aus der Logistik von Evonik auf einer Diskussionsrunde auf dem Kongress mit Experten zur Chemielogistik. Ein Anspruch, der aus Sicht von Vertretern der verladenden Wirtschaft gar nicht unbedingt notwendig ist. In der Regel sei es doch ausreichend, frühzeitig über Verspätungen oder Beschädigungen zu informieren oder informiert zu werden. "Hinzu kommt, dass jeder Kunde seine eigenen Vorstellungen über das Produkt hat, weshalb die Sendungsgrößen immer kleiner werden", sagt Nahler. Ein weiterer Komplexitätstreiber sei die zunehmende Internationalisierung. Immer mehr Länder müssten beliefert werden. "Auch mittelständische Dienstleister in der Chemielogistik müssen ins Ausland gehen und sich dort auf Märkte spezialisieren, da die Chemieindustrie in Europa nur noch wenig wächst", sagt Ortwin Nast vom Logistikdienstleister Hoyer. Es wird also alles komplexer - und damit auch automatisch schwieriger? Eine Aussage, die Carsten Suntrop von der Unternehmensberatung CMC2 so nicht stehen lassen wollte. "Je mehr Anforderungen ein System hat, desto mehr kann es lernen", zeigt Suntrop auch ein positives Merkmal der zunehmenden Komplexität auf. Die Praktiker stimmen ihm zu, aber nur teilweise. "Man darf nicht in Komplexität untergehen. Das System kann ganz schnell kippen, wenn es zu komplex ist", sagt Nast. Outsourcing ist keine Lösung Die Vertreter der Verlader schlossen jedoch aus, dass sie Logistikleistungen an Dritte vergeben würden, um so die fehlende Komplexität in den Griff zu bekommen. "Mit diesem Wunsch ist noch kein Kunde an uns herangetreten", bestätigte Michael Kriegel vom Logistikdienstleister Dachser. Unternehmensberater Suntrop warnte Verlader davor, in diesem Fall und generell sich mit dem Outsourcing von Logistikleistungen aus der Verantwortung stehlen zu wollen. "Sie können Aufgaben vergeben, aber die Verantwortung für die Prozesse geben Sie als Verlader nie ab", sagte der Berater. Daher müsse der Auftraggeber auch weiterhin die Kompetenz behalten respektive erwerben, die ausgegliederten Prozesse zu prüfen und zu bewerten. Die Komplexität nimmt also zu. Wer diese Entwicklung ungehemmt laufen lässt, sieht sich schnell steigenden Kosten gegenüber, weil er die Prozesse in der Logistik nicht mehr kennt und diese daher nicht mehr steuern kann. Die Transparenz ist somit ein entscheidender Hebel, um die Logistikkosten in den Griff zu bekommen. Ein Ziel, das sich auch Mann+Hummel gesetzt hat. "Von der Transportstruktur über das Netzwerk haben wir alles auf den Prüfstand gestellt", sagt Logistikleiter Thomas Leverkus vom Zulieferer der Automobilund Maschinenbauindustrie. Einhundert Einsparmaßnahmen wurden identifiziert. Einsparpotenzial von 54 Prozent Als Beispiel nannte er die Bedienung zweier italienischer Lieferanten, die früher einzeln angefahren wurden und jetzt im Milkrun-System. "Das hat zu einem Einsparpotenzial von 54 Prozent geführt", sagt Leverkus. Noch ist das Projekt nicht beendet. Leverkus nennt als Ziel, eine proaktive Transportplanung einzuführen. Der Transportbedarf soll vorher berechnet werden, um dann zu entscheiden, welche Form des Transports die geeignetste ist. Transparenz also bereits über die Zukunft, um so die Komplexität und die Kosten zu beherrschen. Rede des russischen Botschafters Grinin: "Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok" Mit Spannung lauschten viele Kongressbesucher den Worten von Wladimir Grinin. Der russische Botschafter in Deutschland beschwor vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise die deutsch-russischen Handelsbeziehungen. Denn die Wirtschaftssanktionen der EU sowie die Gegenreaktionen aus Moskau würden nach Einschätzung von Grinin bis zum Jahresende für ein Minus beim Warenaustausch von rund 25 Prozent sorgen. Der Botschafter warb vor den deutschen Logistikern um den Wirtschaftsstandort Russland und stellte klar: "Kein deutsches Unternehmen musste bisher wegen russischer Maßnahmen den Markt verlassen." Grinin skizierte sogar die Vision einer Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok. Konkrete Vorschläge zur Lösung der Krise machte der Botschafter aber auf Nachfrage nicht. Vielmehr stellt er klar: "Die Frage über die Krim ist vorbei" und ohne Russland werde es keine Sicherheit in Europa geben. Und zwei Tage später ergänzte sein Chef Wladimir Putin in Sotschi: "Russland wird sich nicht erniedrigen, um eine Aufhebung der ,falschen Sanktionen' des Westens zu erreichen." Mit einem Ende der Krise rechneten deshalb die wenigsten Kongressbesucher. ak Video-Reihe: Das Logistik-Taxi der Verkehrsrundschau Ein Ausflug mit den Größen aus Logistik und Politik Die VerkehrsRundschau nutzte das große Logistiker-Treffen in Berlin, um mit einer Reihe von namhaften Persönlichkeiten und Branchenvertretern während einer kurzen Taxifahrt über aktuelle Trends und interessante Lösungen und Entwicklungen zu diskutieren. Das Ergebnis: acht spannende Videointerviews, die während einer Fahrt durch Berlin im "Logistik-Taxi" aufgezeichnet wurden. So nahm der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner Platz auf dem Rücksitz des Logistik-Taxis, um sich Fragen zur aktuellen Verkehrspolitik zu stellen. Der Jury-Vorsitzende des Medienpreises Logistik, Wolfgang Kenntemich, sprach über das Image der Branche und Flavio Cueni vom Elektroantriebehersteller E-Force One über den größten batteriebetriebenen LKW. Außerdem saßen Arnold Kriener, Vorstand des IT-Dienstleisters Active Logistics, Jürgen Wolpert, Geschäftsführer bei Zufall Logistics, Christian Kille, Professor für Handelslogistik, Marco Witzel vom Logistik-Preisträger Mercedes-AMG und Harald Seifert von Seifert Logistics im Logistik-Taxi. Das Logistik-Taxi wurde unterstützt von Jettainer. kswww.verkehrsrundschau.de/logistik-taxi

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