Blinder Aktionismus?

27,3 Millionen Menschen in Deutschland haben mittlerweile (Stand: 10. Mai 2021) ihre erste Impfung gegen das Coronavirus erhalten, das ist ein knappes Drittel der Bevölkerung. Vollständig geimpft sind hierzulande derzeit 9,4 Prozent der Menschen. Vorwurf: Politik ist einfach losgespurtet Zum Vergleich: In Israel haben zum selben Zeitpunkt schon 58,7 Prozent der Menschen beide Impfungen erhalten. Und Serbien verfügte, um ein anderes Beispiel zu zitieren, bereits im Frühjahr über so viele Impfstoffdosen, dass es Ende März Bürgern seiner Nachbarstaaten kostenlos Impfdosen zur Verfügung stellte. Deutschland hinkt also in Sachen Verimpfung hinterher. Woran es da hakt? "Beim Aufsetzen der Wertschöpfungskette für die Verteilung der Impfstoffe hat die Politik große Fehler gemacht", erklärt Christian Specht, Geschäftsführer des European Instituts of Pharma Logistic (EIPL) (siehe Seite 24). Sein Vorwurf: "Man hat sich zur Impfstofflogistik zu wenig strategische Gedanken gemacht und ist einfach losgespurtet - auf Grundlage des Biontech-Impfstoffs und dessen Besonderheit, dass er bei 70 Grad minus gekühlt werden muss." Nicht im Blick habe die Politik dagegen gehabt, sagt Specht, dass es eben auch andere Impfstoffe wie zum Beispiel Moderna gebe, die in einer Temperaturzone von zwei bis acht Grad Celsius befördert und gelagert werden können und dennoch vollumfänglich wirksam sind. "Und damit ist man gleich in einer anderen Lieferkette drin", betont er. Mit dem Vorteil, dass man da auf ausgewiesene Pharmalogistik-Dienstleister hätte zurückgreifen können, die diese Temperaturzone perfekt beherrschen. "Die deutschen Pharmalogistiker sind da in weiten Teilen Weltklasse", formuliert er es. "Das hat man aber komplett ignoriert." Eine Alternative zur Ultra-Tiefkühllogistik "Es wäre also sinnvoller gewesen", erläutert der EIPL-Geschäftsführer, "die Lieferketten für die Impfstoffverteilung in Deutschland direkt für den Temperaturbereich zwei bis acht Grad Celsius aufzubauen." Dafür hätte man durchaus, wie geschehen, den besonders temperaturkritischen Impfstoff Biontech in den Kapazitäten der Bundeswehr in Niedersachsen zentral anliefern und zentral lagern können. Dort hätte man diesen dann auf zwei bis acht Grad Celsius auftauen und vorbereiten können, so Specht weiter, da Biontech selbst fünf Tage nach dem Auftauen noch vollumfänglich wirke. Das hätte den Vorteil gehabt, erklärt er, dass man selbst diesen besonders temperaturkritischen Impfstoff neben anderen Impfstoffen wie AstraZeneca und Moderna von diesem Zentrallager aus an jeden Punkt Deutschlands hätte verteilen können. Specht wörtlich: "Es gibt keinen Punkt in Deutschland, den ich nicht in höchstens zwölf Stunden erreichen kann. Und bei fünf Tagen Haltbarkeit bei zwei bis acht Grad Celsius habe ich immer noch eine Reserve von vier bis fünf Tagen für die Lagerung des Impfstoffs", erklärt Specht. "Es ist ja nicht so, dass wir so viel Impfstoff haben, dass wir den wochenlang einlagern müssen." Ein großer Vorteil wäre gewesen, dass man für die Verteilung der Impfstoffe auf ein gutes bestehendes Pharmalogistik-Netzwerk mit qualifiziertem Equipment und gut geschultem Personal hätte zugreifen können. "Stattdessen organisierten letztlich Beamte die Impfstofflogistik, die mit Logistik noch nichts zu tun hatten", kritisiert Specht. "Die machen in ihrem Ressort sicher auch einen guten Job, aber noch mal: Es sind keine Logistiker!" Gute Pharmalogistiker hätten auf diesem Gebiet nun mal über Jahre Erfahrung aufgebaut und da Zeit und Geld investiert, erklärt der EIPL-Geschäftsführer. "Es ist einfach nur anmaßend, wenn man in der Politik denkt, das macht man mal eben so mit." Obwohl die Logistiker dies der Politik auf der Beratungsschiene sogar pro bono angeboten hätten. Für den Pharmalogistik-Experten gibt es dafür nur eine Erklärung: "Logistik generiert nun mal ungeliebte Kosten. Jeder bestellt, und es funktioniert. Die Prozesse dahinter interessieren nicht." Und das sei in der Politik, vermutet er, offenbar auch in der Planung der Supply Chain für die Verteilung der Impfstoffe so gewesen. So gesehen sei er schon neugierig, ob die Logistik hin zu den Hauspraxen über die Apotheken nun besser funktioniere. Immerhin organisiert diese nicht die Politik, sondern sie liegt nun in der Hand diverser Pharmagroßhändler, die für die Verteilung ihre externen Dienstleister selbst beauftragen. Der Wunsch nach Pragmatismus Im operativen Geschäft, sprich im täglichen Miteinander zwischen den Mitarbeitern im Gesundheits- und Innenministerium sowie den eingesetzten Pharmalogistik-Unternehmen, scheint es in der Impfstofflogistik dagegen weitgehend zu funktionieren. "Das ist eine sehr pragmatische Zusammenarbeit. Wir alle, alle Beteiligten, versuchen immer, eine gemeinsame Lösung für ein bestehendes Problem zu finden - auch in der Umverteilung von übrig gebliebenem Impfstoff", betont Grit Jedamzik, die bei Unitax in Schönefeld/Brandenburg das operative Geschäft als COO verantwortet. Unitax ist in Brandenburg für die Auslieferung der Covid-19-Impfstoffe verantwortlich und beliefert damit in diesem Bundesland 2021 täglich, also auch an Feiertagen und am Wochenende, alle elf Impfzentren, rund 75 Krankenhäuser und mobile Impfteams sowie seit 22. März auch Hausarztpraxen - aktuell erhalten Letztere dreimal in der Woche Covid-19-Impfstoffe. "Es ist auch nicht so, dass es keine IT gibt, wie unlängst verschiedentlich kolportiert, um die Prozesse zu händeln", betont Jedamzik. Unitax sei von den Ministerien sogar angeboten worden, ein neues IT-Tool zu entwickeln. Aus Sicherheitsgründen ("Impfstoff ist nun mal für Hacker weltweit interessant") habe sich Unitax dann aber für die schon bestehende IT-Lösung entschieden, auch wenn diese etwas umständlicher in der Handhabung sei - für alle Beteiligten im Logistikprozess wie die Ärzte, Mitarbeiter in Impfzentren, Krankenhäusern und die Unitax-Beschäftigten. Ein Aspekt, der laut der Prokuristin zu wenig beleuchtet wird: "Es fehlt aktuell Trockenware, etwa Spritzen, Kanülen, Tupfer und Pflaster. Diese Produkte fehlen im Markt." Diese seien aber für die Verimpfung unerlässlich. Sie wolle da aber nicht klagen, betont die Prokuristin. Denn für Unitax sei es eine Ehre, mit der Impfstofflogistik betraut worden zu sein. Ihr großer Wunsch sei nur, dass alle Beteiligten in dieser Kette hier einen pragmatischen Ansatz wählen. Und in diesem Zusammenhang wäre es hilfreich, sagt Jedamzik, "wenn bei künftigen Pandemien alle Beteiligten in der Impfstoffkette, also auch die Gesundheits- und Innenministerien in den jeweiligen Bundesländern und jedes involvierte Unternehmen, auf eine einheitliche IT-Plattform zugreifen könnten. Darüber ließe sich eine nationale Verteilung der Impfstoffe sehr viel einfacher und leichter steuern, als dies heute der Fall ist." "Entscheidend ist doch, dass wir alle ganz schnell aus dem Lockdown rauskommen", betont Jedamzik. "Und dafür muss der Impfstoff schnell im Land verteilt und schnell verimpft werden." Die pharmazeutischen und medizinischen Aspekte stehen im Vordergrund, meint die Pharmalogistik-Expertin und verweist auf das Beispiel einer Ärztin in Pforzheim, die vor wenigen Tagen - ganz pragmatisch - nicht genutzte AstraZeneca-Impfstoffdosen auf einem Supermarktparkplatz an Passanten verimpft hat. Welche Fehler hat die Politik bei der Impfstoffverteilung gemacht? Christian Specht, Geschäftsführer des European Institute of Pharma Logistic (EIPL) in St. Leon-Roth Sie sind Geschäftsführer des European Institute of Pharma Logistic (EIPL) und werfen der Politik schwere Versäumnisse in der Planung und Koordinierung der Impfstofflogis-tik vor. Was lief da aus Ihrer Sicht falsch? Es war absehbar, dass irgendwann ein Covid-19-Impfstoff entwickelt wird und dann logistisch verteilt werden muss. Die Planung dieses logistischen Prozesses ist aber von Anfang an komplett schiefgelaufen. Es war ganz einfach keinerlei Planung da. Man hat sich zur Impfstofflogistik zu wenig strategische Gedanken gemacht und ist einfach losgespurtet auf Grundlage des Biontech-Impfstoffs und dessen Besonderheit, dass er eben bei 70 Grad minus gekühlt werden muss. Und zu diesem Zeitpunkt war ja schon klar, dass es neben Biontech auch noch andere Impfstoffe geben würde – mit anderen Temperaturanforderungen. Sie sprechen von „Politik“. Wo lag da der Fehler konkret? Letztlich auf allen Ebenen. Das fängt mit der Zur-Verfügung-Stellung der Impfstoffe an, die auf Bundesebene organisiert wird. Die Impfstoffe kommen ja zunächst in Bundeswehrkapazitäten in Niedersachsen zentral an und werden von dort aus mit Lkw zu den jeweiligen Verteilzentren der einzelnen Bundesländer befördert. Für die Distribution der Impfstoffevon den Verteilzentren hin zu den Impfzentren ist wiederum das jeweilige Bundesland verantwortlich. Jedes Bundesland hat also logistisch sein eigenes Süppchen gekocht – man hat da auch nicht immer auf gut aufgestellte Logistikdienstleister zurückgegriffen. Deshalb gab es immer mal Fälle, über die man sich als Pharmalogistiker nur wundern kann. Mal salopp formuliert: Warum haben Sie das der Politik nicht gesagt? Das hatten wir versucht. Es hatte sich im Oktober 2020 eine Arbeitsgruppe mit Pharmalogistik-Experten gegründet, etwa mit Trans-o-flex, Kühne + Nagel und DHL, aber auch Institutio-nen wie der Bundesvereinigung Logistik und das European Institute of Pharma Logistic als unabhängige Beratungsfirma. Unser Ziel war es, die Politik mit unserem Know-how in der Logis-tik zu unterstützen. Natürlich pro bono. Das haben wir der Politik angeboten und dafür das Bundesgesundheitsministerium, alle Gesundheitsministerien und auch kommunale Behörden angeschrieben. Die Reaktion der Politik war indes verhalten. Im Grunde erhielten wir ein paar freundliche Schreiben, aber keine konkreten An- und Rückfrage zu dem Thema. Das Angebot wurde faktisch ignoriert. eh Mehr zum Thema finden Sie unter #Pharmalogistik www.verkehrsrundschau-plus.de/hashtag In Kürze Über 55 Millionen Menschen müssen hierzulande bis Herbst 2021 - das ist das Ziel der Bundesregierung - gegen Covid-19 geimpft und dafür 110 Millionen Dosen Impfstoff produziert, abgefüllt, gekühlt, transportiert und in die Impfstationen verteilt werden. Kritiker sagen, dass die Politik die Logistik falsch aufgesetzt habe. -70°C Das ist die Temperatur, bei der der Biontech- Impfstoff gelagert und transportiert werden muss.

Elektromobilität: Hamburg will Ladepunkte auf 10.000 erhöhen

Bürokratieentlastung: Bundesrat stimmt neuer Verordnung zu

Automobilzulieferer: Bosch will weitere Stellen streichen

A7 wird zeitweise gesperrt

Schwerpunktkontrollen: Viele Verstöße von Lkw und Bussen

Alle Schlagzeilen

Blinder Aktionismus?

HASHTAG

#Pharmalogistik

Thermomed testet neuartiges Kühlsystem in Zustellfahrzeugen

DPD Niederlande übernimmt Kurierdienstleister BK Groep

Impflogistik: DB Schenker geht Partnerschaft mit SkyCell ein

MEISTGELESEN

Emons Spedition siedelt sich am c-Port an

Änderung durch EU-Mobilitätspaket: Mitführungspflicht verdoppelt sich

Duvenbeck übernimmt Sander Logistics

STELLENANGEBOTE

Teamleiter Lager im Handelslager/ Brennschneidbetrieb (w/m/d)

Leiter (w/m/d) Logistik Teilbereich Warenausgang

Head of Logistics (w/m/d) mit fundierter Erfahrung im internationalen Versand

Koordinator (m/w/d) Intralogistik mit Teamleitungsfunktion

Schichtleiter (w/m/d) Logistik - Warenausgang

WEITERLESEN

NEWSLETTER