Adieu, Spiegel!

Optisch ein wenig nackt wirkt ohne Frage auch der MAN TGX, so ganz "vorne ohne" - oder nennen wir es gewöhnungsbedürftig. Dass auch die Münchener hinter den Kulissen intensiv an einem Spiegelersatzsystem arbeiten, bestätigten MAN-Mitarbeiter schon seit der Vorstellung ihrer neuen Baureihen vor über einem Jahr. Garniert mit dem Versprechen, dass die eigene Lösung gegenüber bereits am Markt bestehenden Systemen spürbare Vorteile bieten würde. Nun lüftet der Hersteller das Geheimnis, dieses hört auf den Namen "Opti-View" und ist ab sofort für TGX, TGS, TGM und TGL als Option erhältlich. Erste Überraschung: MAN gibt für das System einen aerodynamischen Vorteil von lediglich 0,1 Prozent an, bezogen zum TGX mit konventionellen Spiegeln. Letzterer sei eben schon so auf Windschlüpfigkeit optimiert, dass die fehlenden Spiegelgehäuse kaum noch ins Gewicht fallen, erklärt der Hersteller dazu. MAN setzt auf zwei Kameras pro Seite Dass sich das System auch sonst deutlich von den "Mirrorcams" aus dem Hause Daimler unterscheidet, fällt schon beim Blick auf die Haltearme auf. Diese sind nämlich lediglich in Fahrtrichtung klappbar ausgeführt und scheinen zusätzlich aus weniger wertigerem Kunststoff zu bestehen als die von Mercedes-Benz. Weit wichtigerer Unterschied: An den Enden der Halter integriert MAN gleich zwei - selbstredend beheizte - Kameras. Während die obere für die Direktsicht nach hinten zuständig ist, ist die untere mehr zur Seite ausgerichtet und sorgt für einen Froschauge-Effekt nach hinten und zur Seite. Das Ergebnis lässt sich innerhalb der Kabine betrachten, genauer gesagt auf den Displays, die auf Fahrer- und Beifahrerseite an den A-Säulen montiert sind. Verglichen mit dem Daimler bauen sie breiter, das linke misst zwölf Zoll, das rechte ist mit 15 Zoll sogar noch mal größer, was MAN mit der längeren Blickdistanz begründet. An Fahrsituation angepasste Bilder Auf den Displays wird ein jeweils auf die aktuelle Fahrsituation abgestimmter Mix aus beiden Kamerabildern dargestellt. Dieser lässt sich entweder selbst über den Bordcomputer konfigurieren, oder man begnügt sich mit den serienmäßigen Einstellungen des Systems, wofür wir uns im Rahmen der ersten exklusiven Testfahrt entschieden. Dabei gilt: Je schneller man fährt, desto weniger Rundumblick wird benötigt. Folgerichtig verkleinert das System mit steigendem Tempo den Fischaugeneffekt auf den Bildschirmen. Im Rangiermodus, der bis Tempo 50 angewählt bleibt, wird die Direktkamera deshalb nur zu gut einem Viertel auf den beiden Displays dargestellt, den Rest füllt Opti-View mit dem Bild der Fischaugenkamera aus. Eine beste Rundumsicht beim Rangieren ist die Folge - auch, weil die Elektronik den Kameraausschnitt natürlich stets so wählt, dass man selbst bei extremer Verschränkung das Aufliegerheck bequem im Blick behält. Vorwärts sorgt die leicht verzerrte Optik des Fischauges im ersten Moment allerdings für Schreckmomente; nämlich dann, wenn überholende Pkw den MAN seitlich schräg auf dem Display zu touchieren scheinen, obwohl sie in Wirklichkeit brav ihre Spur halten. An diesen Umstand gewöhnt man sich aber erstaunlich schnell. Ähnlich wie daran, nicht mehr automatisch aus dem Seitenfenster zu schauen, wenn Sicht nach hinten gefragt ist, sondern seinen Blick stattdessen auf die A-Säulen zu lenken. Erst recht, weil oberhalb von Tempo 50 in den nächsten Modus (halb Direktsicht, halb Fischauge) gewechselt wird und nach Überschreiten der 60-km/h-Marke sogar nochmals in den sogenannten Autobahnmodus. In diesem füllt die Elektronik die Displays zu drei Viertel mit dem Bild der Direktkamera aus und stellt das Fischauge entsprechend kleiner dar. Zudem finden sich in diesem Modus einige vom Daimler-System bekannte Details. Wie die beiden Distanzlinien, die beim Überholen jeweils den Bereich von 15 und 50 Metern hinter dem Aufliegerheck markieren. Zusätzlich warnt Opti-View mittels gelben Rahmen im rechten Display, wenn sich der Überholte noch im Gefahrenbereich befindet. Sehr gut: seitliche Hilfslinien Doch zurück zum Rangiermodus, in dem MAN ebenfalls hilfreiche Elemente hinterlegt: Bekannt vom Daimler ist die per Tastendreh in der Türbrüstung einstellbare Hilfslinie, die das Aufliegerheck markiert und das Andocken an Rampen spürbar erleichtert. Zusätzlich bietet Opti-View vertikale Linien die sich auf die Breite des Lkw justieren lassen. Während MAN das vorrangig für Schwertransporte mit Überbreite als hilfreiches Werkzeug sieht, erkennen wir einen weiteren Pluspunkt: Fällt das Aufsatteln von Trailern mit den Daimler-Mirrorcams erfahrungsgemäß schwer, weil es viel Übung benötigt, mit den Kameras bündig den Königszapfen zu treffen, ist diese Übung mit Opti-View kein Problem. Sofern korrekt eingestellt, muss man sich nämlich nur an den beiden Seitenlinien orientieren, um gerade und ohne Versatz unter dem Auflieger zu landen. Hilfreich beim Aufsatteln und Rangieren sind nicht selten auch der Front- und Rampenspiegel. Hier unterscheidet sich Opti-View weiter zum Mercedes-Benz, denn auch diese Sichtverbesserer hat MAN digitalisiert. Während der Rampenspiegel im rechten Display integriert ist, schickt die Frontkamera ihr Bild auf das Navidisplay in der Mittelkonsole, das unterhalb von zehn km/h automatisch auf die Kamera umschaltet. Apropos umschalten: Ähnlich wie im Mercedes-Benz Actros taugt auch Opti-View als Überwachungswerkzeug in der Standzeit. Per Knopfdruck in der Türbrüstung lassen sich die Kameras jederzeit aktivieren, weshalb man auch bei geschlossenen Gardinen jederzeit einen sicheren Blick nach draußen werfen kann. Nur gelingt das beim MAN auch vom Bett aus, weil sich die Kameras alternativ über das Bedienpaneel an der Kabinenrückwand einschalten lassen. Keine gestochen scharfe Darstellung Zum Schluss noch ein Wort zur Displayqualität: Auch für das MAN-System gilt, dass es längst noch nicht mit der gestochen scharfen Darstellung eines konventionellen Außenspiegels mithalten kann. Etwas besser als im Daimler ist die Auflösung bei Opti-View unserer Meinung nach aber schon, vor allem aber konnten wir das nervige Flackern der Tagfahrleuchten hinterherfahrender Pkw hier nicht feststellen. Das gepaart mit den erwähnten Mehrwerten des MAN-Spiegelersatzsystems zu den Daimler-Mirrorcams lässt uns die eingangs erwähnte Kampfansage der MAN-Mitarbeiter bestätigen. Allerdings sind wir uns ebenfalls sicher, dass es nur eine Frage der Zeit sein dürfte, bis man in Wörth am Rhein in Sachen Mirrorcams entsprechend nachlegen wird. Mehr zum Thema finden Sie unter #MANTrucks www.verkehrsrundschau-plus.de/hashtag In Kürze Beim Opti-View-System handelt es sich nach MAN-Aussage um ein eigenentwickeltes System. Ob später auch die VW-Konzernschwester Scania das kamerabasierte Spiegelersatzsystem übernehmen darf, dazu äußert sich der Münchener Hersteller nicht. Fazit - Einfach mal ausprobieren! Dass MAN das Opti-View-System vorerst als Option anbietet, dürfte in der bislang noch bei vielen vorherrschenden Skepsis gegenüber den Kameras begründet sein. Ich empfehle, Opti-View einfach mal auszuprobieren, dann wird nämlich schnell klar, welchen Sicherheits- und Komfort-Gewinn es bringt und wie schnell man sich daran gewöhnt. Was aber unbedingt dazugehört, ist eine umfangreiche Schulung, damit der Fahrer/die Fahrerin alle Vorteile der digitalen Rückblicker auch zu nutzen weiß. Jan Burgdorf Test-Redakteur

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