Das Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart hatte einen Unfall zwischen einem abbiegenden Lang-Lkw und einem Pkw zu beurteilen. Die Frage der beiden Haftpflichtversicherungen war, wer zu welchen Teilen die Haftung für den Unfall zu übernehmen hat. Anders als die vorherige Instanz sah das Gericht die höhere Schuld am Unfall beim Lkw-Fahrer und nicht beim Pkw-Fahrer (Aktenzeichen 2 U 176/22).
Die Richter betonten: Von dem Lang-Lkw ging eine erhöhte Betriebsgefahr aus, da die Länge des Gespanns mehr als 25 Meter betrug, der Fahrer aufgrund der Länge die neben ihm liegende Abbiegespur mitbenutzt hat und der Anhänger in die fremde Fahrspur um einen Meter ausscherte. Außerdem konnte der Fahrer beim Rechtsabbiegevorgang nicht sehen, ob er nachfolgende Verkehrsteilnehmer durch den Anhänger damit gefährdet. Könne ein Fahrer den gefährdeten Verkehrsraum nicht beobachten, müsse er sich von einer anderen Person einweisen lassen, so das Urteil.
Trotz Enge: Pkw fährt auf linke Abbiegespur
Was war geschehen? Der Fahrer des Lang-Lkw wollte rechts abbiegen ordnete sich vor einer Ampel aufgrund betrieblicher Weisung mittig und damit auch zum Teil auf der linken Abbiegespur ein. Das sollte verhindern, dass andere Verkehrsteilnehmer neben dem Lkw zum Stehen kommen.
Nur waren die Abbiegespuren zu breit und ein Pkw-Fahrer „drückte“ sich trotz der erkennbaren Enge auf der linken Abbiegespur an dem Anhänger vorbei. Damit verletzte er seine allgemeinen Sorgfaltspflichten nach Paragraf 1 Absatz 2 Straßenverkehrsordnung (StVO), wie die Richter ausführen.
Als der Lkw grün bekam und rechts abbog, scherte der Anhänger laut Gutachten vorne ungefähr einen Meter nach links aus und touchierte dabei die rechte hintere Seite des Pkw.
Versicherungen uneins, wer zu welchen Teilen zu haften hat
Bei einem Unfall haften aufgrund der Betriebsgefahr eines Fahrzeugs immer beide Unfallparteien zu einem gewissen Teil. Außerdem spielen weitere Faktoren wie verkehrswidriges Verhalten eine Rolle bei der Aufteilung der Haftung. Strittig war hier, wer die größere Schuld trug.
Die Haftpflichtversicherung des Pkws beglich den Schaden, wollte das Geld aber zu einem größeren Teil von der Haftpflichtversicherung des Lkws zurück als diese bereit war zu zahlen. Daher ging der Streit vor Gericht.
Hohe Betriebsgefahr, Erfahrungswerte und Sichteinschränkungen: Lkw trägt höhere Schuld am Unfall
Das OLG entschied: Der Versicherer des Lkw hat drei Viertel des Schadens zu tragen.
Es begründete dies zum einen durch die „äußerst hohe“ Betriebsgefahr eines Lang-Lkw mit mehr als 25 Metern. Der Lkw habe zudem die fremde Fahrspur beim Abbiegevorgang benutzt, ohne dass der Fahrer diesen gefährdeten Bereich dabei überhaupt beobachten konnte.
Ein Fahrer müsse Sichteinschränkungen aber berücksichtigen. Aufgrund von ihm beschriebener vorangegangener Erfahrungen und der Fahrbahnbreite hätte er zudem damit rechnen müssen, dass sich ein Pkw-Fahrer an ihm auf der nebenliegenden Spur „vorbeidrückt“.
Nach Paragraf 9 Absatz 1 Satz 4 StVO müsse ein Fahrer vor dem Abbiegen auf den nachfolgenden Verkehr achten und eine Gefährdung ausschließen. Dies gelte auch beim Rechtsabbiegen und erfordere bei einem ausschwenkenden Fahrzeug äußerst sorgfältiges Verhalten. Notfalls müsse eine andere Person den Fahrer einweisen. Dies wäre auch im konkreten Fall notwendig gewesen, um den Unfall zu vermeiden, meinten die Richter.
Teilschuld auf Seiten des Pkw-Fahrers geringer
Die Haftung von einem Viertel auf Seiten des Pkw begründeten die Richter mit der Betriebsgefahr des Fahrzeugs und dem Verstoß gegen die Sorgfaltspflichten des Fahrers. Die Vorinstanz habe die Pflichten des Pkw-Fahrers zu hoch eingeschätzt: Dieser habe nicht wissen können, dass ein Lang-Lkw beim Rechtsabbiegen vorn um einen Meter nach links ausschwenkt und das Blockieren des Lkw von beiden Fahrspuren sei nicht geeignet gewesen, um den nachfolgenden Verkehr vor einer solchen Gefahr zu warnen.