Experten im Interview: Wie geht Zukunft?

Sie beide sind Ökonomen und entwickeln Bildungskonzepte, die Menschen und Unternehmen zukunftsfähig machen sollen, und geben dazu auch Workshops. Ist das in einem Land wie Deutschland überhaupt nötig? Marcel Beyer: Ja, unbedingt. Heute verbinden viele Menschen das Thema Zukunft mit starken Emotionen wie "Angst", "Furcht", aber auch mit "Wut". So gesehen nehmen wir in unserer Gesellschaft eine Art "Verdunklung" wahr, was die Zukunftsgerichtetheit angeht. Das war schon vor der Corona-Pandemie so und hat sich nach der Pandemie noch verstärkt. Lukas Bäuerle: Verdunklung ist da ein sehr passender Begriff. Er beschreibt sehr gut unsere kollektive Zukunftsvorstellung, die wir haben oder eben mittlerweile auch nicht mehr haben. Wir alle sind in klassisch modernen Zeitvorstellungen groß geworden, die der Philosoph und Vordenker Walter Benjamin in den 1920er- und 30er-Jahren als "leer" und "homogen" beschrieben hat. Auf die Zukunft bezogen stellen wir uns eine große Leere vor, auf die alles Mögliche hin geplant, innoviert und investiert werden kann. Eine große freie Spielwiese. Mit den vielen Krisen, die wir momentan erleben, wird jedoch unsere Vorstellung der Zukunft als etwas Offenes, Planbares und dadurch Gestaltbares zunehmend brüchig, ja "dunkel". Das hat auch damit zu tun, wie uns heute Zukunft über Narrative medial vermittelt wird. Zukunft wird nicht mehr als leer und gestaltbar, ohnehin selten als Utopie dargestellt, sondern als Dystopie, mit entsprechenden Untergangsszenarien. Unsere Vorstellung von Zukunft, die in unserer Gesellschaft über 150, 200 Jahre lang Bestand hatte, wird dadurch radikal herausgefordert. Pandemien, Naturkatastrophen und wirtschaftliche Krisen gab es aber schon immer. Außerdem erleben wir in Deutschland Krieg nicht einmal am eigenen Leib. Warum tun wir uns also so schwer mit solchen Entwicklungen? Haben wir Krise verlernt? Bäuerle: Wir alle sind in Deutschland in einem relativ stabilen Rahmen groß geworden. Die Generation meiner Großeltern war zum Beispiel die erste, die ohne unmittelbare Kriegserfahrung aufwachsen durfte. Und für meine Eltern und mich trifft dies ohnehin zu. Außerdem ging es in dieser gesamten Zeit in unserem Land fast nur nach oben - Beispiel Wirtschaftswunder und Babyboomer. Zukunft war also immer latent positiv besetzt. Wir wurden mit dem Versprechen groß, dass es unseren Kindern einmal besser gehen würde als uns selbst. Anfang der 2000er-Jahre begann sich das sukzessive zu verändern, wie wir in der Sozialforschung sehen. Seitdem hoffen Eltern für ihre Kinder, dass deren Leben einmal nicht schlechter wird als ihr eigenes. Da verschiebt sich also etwas nach unten. Und diese Sorge spitzt sich in unserer Gesellschaft zu - angesichts der Last der vielen Krisen, die wir gerade erleben. Beyer: Dazu kommt, dass die Komplexität in den vergangenen Dekaden zugenommen hat: Klimawandel, soziale Ungleichheit, Digitalisierung und Globalisierung. Das sind alles Themen, mit denen wir umgehen, die wir händeln müssen. Gleichzeitig sind wir mit bestimmten Normen aufgewachsen, wie wir zu denken haben, die uns vielleicht auch daran hindern, bestimmte Fragen groß und grundlegend zu denken. Bäuerle: Kurz gesagt, wir leben in einer Welt der Polykrise, der Zeitenwende, großer Unsicherheit und Komplexität. Die mentalen Infrastrukturen, die in uns ausgebildet sind, sind mit dieser Welt jedoch nicht kompatibel. Sprich: Wir gehen in unserem Denken nach wie vor von Offenheit, Planbarkeit und Linearität aus, was uns seitens der Bildungsinstitutionen wie Schulen und Universitäten auch weiterhin vermittelt wird. Wir denken und handeln also aus mentalen Strukturen heraus, die sich überholt haben und nicht mehr zeitgemäß sind. Das führt dazu, dass viele Menschen mit dieser Welt, in der wir leben, nicht mehr umgehen können. Weder reflexiv, praktisch noch ethisch. Und das führt in unserer Gesellschaft, wie Marcel Beyer sagte, vielfach zu emotionalen Spannungslagen wie Angst, Furcht oder gar Wut. Was hilft da jetzt? Bäuerle: Genau daran arbeiten wir beide mit unserer Forschung und unseren Workshops. Kurz gesagt, arbeiten wir an Bildungsformaten, die allgemeine gesellschaftliche Verunsicherungen zulassen und aufgreifen - und dann ansetzen, diese nicht in Agonie oder Lethargie verfallen zu lassen, sondern in eine aktive Transformation. Das machen wir im konkreten Bereich des kreativen Umgangs mit eigenen und gesellschaftlichen Zukünften. Warum ist "Zukunftskompetenz" heute so wichtig? Beyer: Erst mal vorweg: Die Zukunft gibt es nicht, sie existiert nicht. Was aber existiert und auch gestaltet werden kann, ist die Vorstellung verschiedener Zukünfte. Ein kreativer Umgang mit der Zukunft kann dabei helfen, von größeren Veränderungen oder gar Disruptionen nicht kalt erwischt zu werden. Es geht um die Fähigkeit, auch in solchen Zeiten resilient sowie reaktions- und entscheidungsfähig zu bleiben, um diesen Veränderungen, aber auch schnell hereinbrechenden Umwälzungen begegnen zu können. Das ist alles andere als trivial, aber sicher eine entscheidende Kompetenz im 21. Jahrhundert. Wie trainieren Sie das? Beyer: Dazu muss ich ein wenig ausholen. Wir bauen auf der sozialwissenschaftlichen Zukunftsforschung auf. Hier hat sich unter anderem der Ansatz der "Futures literacy", zu Deutsch Zukunftsfähigkeit, herausgebildet. Das ist ein ganzes Set von wissenschaftlichen Methoden, die die UNESCO entwickelt hat, mit denen Menschen imaginierte Zukünfte erkennen, verändern und in gegenwärtige Praxis übersetzen lernen sollen. Denn wer zukunftskompetent ist, so der "Futures literacy"-Ansatz, kann besser mit Veränderungen umgehen und Neues aktiv angehen. In dieser Weise befähigte Menschen sind einfachen Erzählungen von Alternativlosigkeit nicht ausgeliefert, sondern haben die Fähigkeit, Zukünfte proaktiv zu gestalten. Und wie gelingt das? Beyer: Diese Fähigkeit besitzt jeder Mensch. Im Grunde unterstützen wir mit unseren Trainings nur, was in jedem Menschen angelegt ist, damit er aktiv handeln und sich bewusst entscheiden kann. In der Logistikbranche, um ein konkretes Beispiel zu nennen, müssen Menschen jeden Tag unzählige Probleme lösen. Und in die meisten dieser Probleme sind implizite Zukunftsvorstellungen, etwa in der Form von Szenarien, eingebettet: Wo muss die Ware in zwei Wochen wie von wem übergeben werden? Wird alles ,wie gewohnt' laufen, oder werden die Bahngleise unterspült sein, sind Engpässe beim Zulieferer zu erwarten und so weiter? Zukunftsfähig zu sein bedeutet nun in einem ersten Schritt, sich diese impliziten Vorstellungen davon, was passieren wird, bewusst machen zu können. Welches Bild habe ich da vor Augen? Was bedeutet es, wenn bestimmte Trends weiterlaufen, wie stelle ich mich selbst in Beziehung zu diesen Trends? Zweitens steht die Frage nach wünschenswerten Zukünften an, und einmal fokussiert innezuhalten, sich dabei nicht dem Stress und der Schnelllebigkeit der Gegenwart hinzugeben: Möchte ich, dass diese Trends so weiterlaufen, dass zum Beispiel immer mehr Druck auf Lkw-Fahrern lastet, und wie sieht das in zehn, 15 Jahren aus? Was wäre stattdessen aus meiner Sicht wünschenswert? Wie soll überhaupt in zehn, 15 Jahren die Logistikbranche aussehen? Was wäre da mein tägliches Erleben? Bin ich gestresst und überarbeitet, oder schaffe ich es in einer machbaren Zeit, eine Form von Glück zu entwickeln? Wie kann ich ein Leben in Ausgewogenheit, in Balance führen? Und wenn das mein eigenes Zielbild ist, was heißt das für mein Engagement, zum Beispiel im Verband, sowie für mein Gespräch mit der Politik? Das sind alles Fragen, die jeder Mensch für sich und gemeinsam mit anderen klären kann. Bäuerle: Und dann ist man sehr schnell in der Perspektive, dass es mit "Klein, Klein" nicht getan ist, sondern dass wir größere Transformations-Schritte vor uns haben. Und an denen können und sollen alle Menschen teilhaben, auch Menschen aus der Logistikbranche, damit ihr eigenes Zukunftsbild Realität werden kann. Denn dieses kann nur Realität werden, wenn ein Mensch die entsprechende Gerichtetheit auf wünschenswerte Zukünfte entwickelt, auf das, was sein soll. Nur so kommt er aus seinem Hamsterrad der ewigen Gegenwart und setzt ihm etwas Neues entgegen. Wie gesagt, es muss nach vorne gehen, und jeder kann dazu mit seinen Fähigkeiten und seinem Wissen beitragen. Sonst kann sich nichts verändern. Sonst bleiben wir in der Erzählung stecken, dass wir ohnehin nichts verändern können. Aber aus dieser Sackgasse wollen wir ja heraus. Und diesen Prozess wollen wir nicht dem Zufall überlassen, sondern einen geeigneten Raum bieten mit erprobten und etablierten Methoden. Lässt sich das auch auf Unternehmen übertragen? Bäuerle: Eine der Techniken, mit denen Unternehmen zukunftsfit gemacht werden können, ist die Foresight-Technik, zu Deutsch Vorausschau, die mittlerweile diverse Unternehmensberatungen, zum Beispiel das Fraunhofer ISI in München, anbieten. An einem der Workshops habe ich letzten Winter teilgenommen. Da ging es darum, eine Unternehmensstrategie aus imaginierten Zukünften zu entwickeln. Im ersten Schritt mussten die Teilnehmer mehrere erwartbare Zukünfte konstruieren - mit der Frage, wie sich in den kommenden 15 Jahren ihr Unternehmensumfeld und die Gesellschaft entwickeln könnten. Im zweiten Schritt wurden dann auf eine Auswahl dieser Szenarien hin mögliche Herausforderungen, Rollen und Aufgaben identifiziert, die auf das Unternehmen zukommen würden. Im dritten Schritt wurden diese dann auf die Gegenwart heruntergebrochen, indem konkrete Handlungsempfehlungen entwickelt wurden, wie das Unternehmen auf wahrscheinliche und wünschenswerte Zukunftsbilder strategisch und operativ heute schon hinarbeiten sollte. Beyer: Entscheidend ist, dass ein Unternehmer oder eine Unternehmerin für solche Veränderungen offen ist. Transformation wird kommen. Die Frage ist, ob Unternehmer sie heute proaktiv gestalten wollen und können. Das zeichnet sich ja in der Logistikbranche schon ab, zum Beispiel durch die Technologiesprünge und den Personalmangel. Da geht es nicht nurmehr um das Drehen kleiner Schräubchen. Da geht es um grundlegende Transformation. Umso dringlicher ist es, dass die Menschen, die in dieser Branche tätig sind, sich ihrer mentalen Infrastrukturen diesbezüglich bewusst werden und diese bewusst gestalten, man könnte auch sagen, trainieren. Und diese Gestaltung beinhaltet in unseren Workshops nicht nur die Frage, wie zukunftsorientiert gewirtschaftet werden kann, sondern auch warum! Was ist der Sinn und Zweck ihres Unternehmens im 21. Jahrhundert? Wie soll dieses gesellschaftlich eingebettet und wertgeschätzt werden? Diese Frage sollten nicht nur Führungskräfte beantworten können. Denn wer Sinn in seinem Tun sieht, tut sich nachweislich leichter mit großen Veränderungen. Wie wichtig wird das für uns alle werden? Wenn Sie zehn, 15 Jahre nach vorne blicken: Wohin entwickelt sich da unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft? Bäuerle: Es wird sicher nicht eine Gesellschaft und eine Ökonomie in Zukunft geben, sondern im Plural, also mehrere. Wir werden uns meinem Eindruck nach zunehmend aus großen Erzählungen herausbewegen und immer mehr in eine Pluralität von Wirtschaftsformen kommen. Gesellschaftlich ist die natürlich schon lange Realität, denken Sie an unterschiedliche Milieus oder Online-Communities. Auch in Wirtschaftsfragen kennen wir eine große Bandbreite an Organisationsformen, Modellen und "Wirtschaftskulturen" - allein schon am Standort Deutschland. Aber hier halten sich die großen, integrierenden Erzählungen besonders hartnäckig. Solche "one-fits-all"-Ansätze werden aber in der Welt, in der wir künftig leben, immer weniger verfangen. Warum? Bäuerle: Das hängt stark mit der Gesellschafts-Diagnose zusammen, über die wir eingangs gesprochen haben. Ich erwarte also nicht, dass wir in absehbarer Zeit wieder in stabile Fahrwasser kommen werden. Ich gehe eher davon aus, dass wir in den kommenden Jahren in einer Welt der Instabilität und Unsicherheit leben werden, in der wir aber auch immer wieder situative Stabilität für uns herstellen können. Gerade auch in dystopischen Szenarien, auf die wir möglicherweise zusteuern. Wie gesagt, wir alle tragen die Fähigkeit in uns, Zukünfte aktiv herzustellen. Wir müssen diese Fähigkeit nur in uns entdecken - zum Beispiel in unseren Workshops (lacht). Beyer: Das Schöne ist, dass dadurch bei den Menschen das Gefühl von Ohnmacht zunehmend weicht und gleichzeitig die Hoffnung und der Wille, Wandel zu gestalten, entsteht, weil sie merken, dass sie aktiv selbst etwas für ihre Zukunft tun können. Und je öfter sie solche Denk-Schleifen in die Zukunft machen, wie wir sie in unserem Gespräch beschrieben haben, desto leichter fällt es ihnen. Experten Lukas Bäuerle Lukas Bäuerle ist Sozioökonom und forscht am Linz Institute for Transformative Change zur Rolle ökonomischen Wissens in gesellschaftlichen Transformations-Anstrengungen. Bäuerle studierte Volkswirtschaftslehre an der Universität Bayreuth und beteiligte sich danach an der Gründung der Hochschule für Gesellschaftsgestaltung (ehemals Cusanus Hochschule), an der er auch studierte. 2022 hat er an der Europa-Universität Flensburg in Wirtschaftswissenschaften promoviert, im Anschluss forschte er zwei Jahre an der Universität Hamburg. Er ist Gründungsmitglied des Netzwerks Plurale Ökonomik und der internationalen Initiative Economists 4 Future. Marcel Beyer Marcel Beyer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Sozialwissenschaften und ihrer Didaktik an der Universität Bielefeld, wo er zu sozio-ökonomischer Zukünftebildung mit Fokus auf Imaginations- und Gestaltungsfähigkeit promoviert. Der Sozioökonom bietet für unterschiedliche Zielgruppen Zukünfte-Werkstätten (Futures Literacy Laboratories) an. Von 2008 bis 2014 studierte er an der Universität Marburg und der Universidad de Alicante in Spanien Politik und Wirtschaft auf Lehramt. Nach seinem Referendariat schloss er seinen Master in Ökonomie und Gesellschaftsgestaltung an der Hochschule für Gesellschaftsgestaltung in Koblenz ab.

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