Die Europäische Union hat die Aufkündigung des internationalen Getreideabkommens durch Russland verurteilt. „Mit dieser Entscheidung verschärft Russland die weltweite Krise der Ernährungssicherheit weiter, die es durch seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine und seine Blockade der ukrainischen Seehäfen verursacht hat“, erklärte der Außenbeauftragte Josep Borrell am Montagabend dem 17. Juli im Namen der Mitgliedstaaten.
Russland müsse die illegale Blockade der ukrainischen Häfen aufgeben und die freie Schifffahrt auf dem Schwarzen Meer ermöglichen. Der Kreml hatte das vor einem Jahr geschlossene Abkommen zum Export von ukrainischem Getreide übers Schwarze Meer am Montag ausgesetzt.
Offiziell lief es wenig später am Montagabend aus. Die Vereinbarung vom 22. Juli 2022 zwischen Russland und der Ukraine unter Vermittlung der Vereinten Nationen und der Türkei sollte trotz des Kriegs die sichere Passage von mit Getreide beladenen Schiffen aus drei Schwarzmeer-Häfen der Ukraine durch den Bosporus gewährleisten.
Die Schiffe durften entlang eines 310 Seemeilen langen und drei Seemeilen breiten Korridors fahren. Zuvor waren die Agrarexporte wegen des Kriegs monatelang blockiert gewesen. Kremlsprecher Dmitri Peskow hatte am Montag erklärt, Russland werde das Abkommen erst weiterführen, wenn alle Forderungen für die Ausfuhr russischen Getreides erfüllt seien.
Update 18. Juli 12:19 Uhr:
Nach dem Auslaufen des Abkommens haben nun die Außenminister Russlands und der Türkei miteinander gesprochen. Das berichtete die türkische staatliche Nachrichtenagentur Anadolu am Dienstag den 18. Juli. Details des Gesprächs zwischen Sergej Lawrow und Hakan Fidan wurden zunächst nicht bekannt. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte am Montag angekündigt, Russlands Präsidenten Wladimir Putin umstimmen zu wollen.
Update Ende
Seit Abkommen 30 Millionen Tonnen über den Seeweg
Die Vereinbarung hatte es der Ukraine seit Sommer vergangenen Jahres ermöglicht, trotz des russischen Angriffskriegs mehr als 30 Millionen Tonnen Getreide über den Seeweg in andere Länder zu verkaufen. Selbst während des Krieges blieb die Ukraine im Jahr 2022 den Angaben zufolge der größte Weizenlieferant des Welternährungsprogramms (WFP) und lieferte mehr als die Hälfte der weltweiten Weizenbeschaffung des WFP.
„Die EU fordert Russland dringend auf, seine Entscheidung zu überdenken und die Umsetzung der Schwarzmeer-Getreide-Initiative unverzüglich wieder aufzunehmen“, erklärte Borrell. Durch die Aufkündigung blockiere Russland im Alleingang eine der wichtigsten Exportrouten der Ukraine für Getreide für den menschlichen Verzehr. Moskau sei allein verantwortlich für die Unterbrechung der weltweiten Getreidelieferungen und den Anstieg der Lebensmittelpreise auf der ganzen Welt.
Der Export von Millionen Tonnen Getreide führte zu einem Rückgang der weltweiten Lebensmittelpreise - die nach UN-Angaben von Anfang Juli nun um 23 Prozent unter den Rekordwerten von März 2022 liegen.
Was verlangt Russland für eine Verlängerung?
Russland will erreichen, dass westliche Sanktionen gelockert werden. Es sieht seine eigenen Getreide- und Düngemittelexporte dadurch behindert.
Die westlichen Sanktionen betreffen zwar weder Getreide noch Düngemittel direkt, aber die Geschäfte sind wegen Sanktionen im internationalen Zahlungsverkehr und bei Frachtversicherungen schwierig. Die UN haben schon zugesichert, sich um Wege für russische Ausfuhren zu bemühen. Das hängt aber von den westlichen Ländern ab.
Die EU hatte die Gründung einer Tochter der russischen Agrarbank zur Abwicklung von Finanzgeschäften vorgeschlagen. Moskau verwarf das als bewusst nicht umsetzbare Lösung. Es würde Monate dauern.
Wie geht es nach dem 17. Juli weiter?
Schon bisher klagte die Ukraine immer wieder über Probleme bei der Umsetzung des Abkommens, wenn etwa Schiffe in den Häfen wegen fehlender Freigabe von russischer Seite lange liegenblieben. Diese Situation dürfte sich wieder verschärfen - bis hin zu einer kompletten neuen Blockade.
Der Getreidetransport über den Seeweg käme erneut zum Erliegen - vor allem auch, weil die Sicherheit der Frachtschiffe wegen der Kriegshandlungen im Schwarzen Meer wie vor dem Abkommen nicht mehr gewährleistet wäre. Auch die Verlegung neuer Seeminen dürfte die Sicherheitslage verschärfen.
Abhilfe schaffen zumindest zum Teil eigens von der EU und der Ukraine ausgebaute Handelswege über Flüsse, Schienen und Straßen. Über die sogenannten Solidaritätskorridore sind nach EU-Angaben seit Kriegsbeginn bis Ende Juni 41 Millionen Tonnen Getreide, Ölsaaten und andere landwirtschaftlichen Produkte aus der Ukraine exportiert worden.
Rund 60 Prozent der ukrainischen Getreideexporte sind nach EU-Angaben seit Beginn des Krieges über die Solidaritätsrouten abgewickelt worden und die restlichen rund 40 Prozent über das Schwarze Meer. Inwiefern die Solidaritätshandelswege noch weiter ausgebaut werden können, war zunächst unklar. Zudem war der Export über diesen Weg in der Vergangenheit verhältnismäßig teuer.
Können alternative Transportwege mehr Fracht aufnehmen?
Vor dem Krieg wurden etwa 70 Prozent des ukrainischen Exports auf dem Seeweg abgewickelt. Das zeigt, wie schwierig die Schwarzmeerroute zu ersetzen ist. Die anderen Verkehrswege haben verschiedene Probleme.
Die ukrainische Eisenbahn hat 2022 nach eigenen Angaben 28,9 Millionen Tonnen Getreide exportiert, von denen 22,55 Millionen Tonnen in die EU gingen. Behindert wird der Transport durch die unterschiedliche Spurweite zwischen europäischen 1435 Millimetern und den im postsowjetischen Raum üblichen 1520 Millimetern. Eine schnelle Abhilfe und Kapazitätsausweitung ist hier nicht in Sicht.
Auch der Straßentransport ist bereits an seiner Kapazitätsgrenze. Trotz Optimierungen an der Grenze müssen Fuhren bei der Ausreise aus der Ukraine aktuell mehrere Tage warten. Der große ukrainisch-polnische Grenzübergang Dorohusk-Jahodin in Richtung Warschau fertigt bereits jetzt nur Lastkraftwagen ab.
Die drei ukrainischen Binnenhäfen Ismajil, Reni und Ust-Dunajsk an der Donau bleiben als eine Hauptroute für Getreide vom russischen Ausstieg unberührt. In den ersten sechs Monaten 2023 wurden dort mit 14 Millionen Tonnen bereits 85 Prozent des Vorjahreswerts umgeschlagen. Seit vorigem Jahr werden die Kapazitäten ausgebaut.Doch die flachen Donaukanäle taugen nicht für größere Frachtschiffe.