Training on the Job

Die Erfassung von Transportaufträgen und das Eingeben ins Transport-Management-System (TMS) ist ein mühseliges Geschäft. Kunden nutzen nun einmal verschiedene Formate und Vorlagen - einmal steht beispielsweise die Lieferscheinnummer oben links, ein anderes Mal oben rechts, und oft stehen wichtige Daten getrennt in verschiedenen Dokumenten oder gelegentlich im Auftragsanhang als PDF oder Excel-Datei oder in der Begleit-E-Mail. Wie wäre es, wenn eine Software eine Künstliche Intelligenz (KI) besäße, auch aus unstrukturierten Daten relevante Informationen herauszulesen und zu klassifizieren? Keinesfalls Zukunftsmusik, denn KI ist für die Verrichtung mancher logistischer Aufgabe geradezu prädestiniert. Nicht nur für die automatisierte Tourenplanung lassen sich Algorithmen trainieren, auch die Auftragserfassung ist ein willkommenes Spielfeld für KI. Nur noch eine Minute pro Auftrag Bei der Spedition Hans Ihro etwa gehen über 350 Transportaufträge bei den zwei Mitarbeitern der zentralen Erfassungsabteilung ein. "Früher mussten sie sämtliche Informationen aus den einzelnen Aufträgen händisch ins TMS eingeben, überprüfen und dann den Auftrag freigeben. Im Schnitt dauerte es drei Minuten, bis ein Auftrag angelegt war", erinnert sich Alexander Mack, bei Ihro fürs Controlling zuständig. Unter seiner Projektleitung führte die Spedition aus dem baden-württembergischen Neuenstein im Sommer 2020 die KI-basierte Software "Xpact Logistics" von Evy Solutions ein, um den Zeitaufwand für diese monotone Tätigkeit zu reduzieren. Mit Erfolg, denn die Mitarbeiter brauchen so nur noch eine knappe Minute pro Auftrag. Das Prinzip der Lösung ist ihr KI-gestützter, textbasierter Ansatz - die Software sucht sich die relevanten Informationen für den Auftrag aus allen Formaten zusammen. Im Alltag bei Ihro funktioniert das folgendermaßen: Der Disponent schickt die Kundenanfrage an eine interne E-Mailadresse, deren Posteingang von der Software überwacht wird. Diese liest daraufhin in knapp 15 Sekunden sämtliche, für den Transportauftrag wichtigen Informationen wie Lieferscheinnummer, Abhol- und Lieferadresse, Transportgewicht, benötigtes Fahrzeug, Lieferdatum oder Palettenanzahl aus und legt den Auftrag im TMS an. Ein Mitarbeiter der Erfassungsabteilung wirft nur noch einen prüfenden Blick über den Auftrag und gibt ihn frei - parallel dazu wird der Auftrag auch gleich in der Disposition verbucht. Darüber hinaus legt die Software die Kunden-E-Mails automatisch im TMS passend zum jeweiligen Auftrag mit ab und komplettiert so die bestehende Auftragshistorie. Abgerechnet wird im "Pay-as-you-go"-Modell. Dabei zahlt der Kunde eine Gebühr für die tatsächliche Anzahl der bearbeiteten Aufträge. Aktuell wickelt Ihro 25 der täglich 350 Aufträge über die Software ab. "Nicht alle Aufträge, die wir täglich bekommen, sind für die Software relevant", begründet Mack den noch überschaubaren Anteil. So seien circa zwei Drittel Daueraufträge aus dem Automotive-Bereich. "Da ist die Erfassung nicht relevant. Der Ablauf ist ähnlich wie ein Serientermin bei Outlook." Bei den Einzelaufträgen hingegen bringe die Software einen unschlagbaren Zeitvorteil. Langfristig will Ihro bis zu 60 Aufträge pro Tag über die KI-Lösung abwickeln. Die ist aber immer nur so gut wie die Fülle der Informationen, anhand derer sie lernen kann. Während des Trainings bringen die Entwickler der Software beispielsweise bei, dass es sich bei einem Wort, das mit "straße" endet, gefolgt von einer fünfstelligen Nummer plus einem weiteren Wort vermutlich um eine Adresse handelt. Ebenso lernt sie verschiedene Schreibweisen und Abkürzungen zu akzeptieren und etwa Abhol- von Lieferorte zu unterscheiden. Laut Evy Solutions genügten bei Ihro 15 Musterdokumente, um die Software zu trainieren, sodass das Unternehmen nach knapp zwei Monaten vollumfänglich mit ihr arbeiten konnte. Die größte Schwierigkeit bei der Umsetzung der automatisierten Auftragserfassung liegt dennoch in der teilweise mangelnden Datenqualität der eingehenden Aufträge. "Oft fehlen Informationen wie Hausnummern oder Liefertermine oder es gibt statt einer genauen Adresse nur eine Angabe wie: an der breiten Straße bei der T-Kreuzung", weiß Mack. In solchen Fällen sendet das Tool dann einen Alert an die Mitarbeiter, die diesen Fall dann nachrecherchieren und händisch anlegen müssen. Viel Erfahrung mit KI-Anwendungen hat auch Infpro, die Softwareschmiede hinter dem Transport-Dokumenten-Management-System (TDMS) Translogica. In das TDMS ist ein Assistent namens "kAI" integriert, der durch "Training on the job" selbstlernend ist, wie Infpro betont. "kAI" hilft demnach bei der Erfassung der Transportaufträge und macht dem Anwender - basierend auf verarbeiteten Informationen aus vorangegangenen Aufträgen - Vorschläge. Das können Fragen sein wie "Wollen Sie wieder Spanngurte mitnehmen?" oder "Bei dieser Lade-/Entladestelle wurden am Montag meistens sieben Paletten Bananen abgeholt, möchten Sie das wieder tun?". "kAI" wird also quasi tagtäglich durch den Disponenten und von eingehenden DFÜ (Datenfernübertragungen) trainiert, da jeder neue Auftrag dem Algorithmus als Lehrstunde dient und er so immer neue Kombinationen entdeckt. Das KI-Modul erkennt aber auch Dokumente und versteht die Struktur dahinter. Translogica kann zwar schon seit vielen Jahren Aufträge automatisch einlesen, sei es basierend auf PDF-Dokumenten oder auch einem Fax. Dank der KI müssen aber nicht länger manuell Templates/Vorlagen für das Lesen eines Transportauftrages erstellt werden: Die Software erstellt diese jetzt selbstständig und liest den Auftrag ein. Auch weitere Workflows, welche bisher manuell abgewickelt wurden, kann Translogica Entwicklerangaben zufolge mit KI anreichern und automatisieren, etwa das Erfassen von Eingangsrechnungen mittels automatischer Texterkennung. Mehr noch: Die bislang manuelle Aufgabe zur (Buchhaltungs-)Kontofindung auf einer Eingangsrechnung kann durch die Zuweisungen vom Benutzer trainiert und ab einem bestimmen Confidence-Level automatisch durchgeführt werden. Damit könnten jegliche manuelle Aufgaben step by step durch KI ersetzt werden, so Infpro. Betätigungsfelder ändern sich Da stellt sich natürlich die Frage: Macht KI Mitarbeiter in der Dispo über kurz oder lang überflüssig? "In den nächsten fünf Jahren wird der Disponent sicherlich nicht überflüssig, aber es findet nach und nach eine Verschiebung statt hin zu Überwachungsaufgaben", sagt Digitalisierungsund KI-Experte Joachim Getto, Partner Infront Consulting & Management (siehe Interview). Er ist sich aber auch sicher: Langfristig werde sich der Einsatz von KI im TMS etablieren. Wie hat eigentlich die Belegschaft der Spedition Ihro reagiert, als "Kollege Algorithmus" eingezogen ist? Ihr wurde bereits im Vorfeld des Projekts klargemacht, dass sie durch die neue Lösung nicht überflüssig wird, sondern dass sich nur ihr Betätigungsfeld ändere und sie mehr Zeit für andere Aufgaben gewinnt, die wichtiger sind, betont das Unternehmen. "Aufgrund der Software wird bei uns kein einziger Arbeitsplatz eingespart", sagt Mack. "Das haben nach der Einführung auch alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sofort gesehen und sind begeistert, welch große Erleichterung die Technik bei der Erledigung monotoner Aufgaben darstellt", so der Projektleiter. Mehr zum Thema unter #SpeditionsSoftware www.verkehrsrundschau-plus.de/hashtag In Kürze Ob automatisches Auslesen von Informationen oder die Auswertung von Routinen aus vorangegangenen Transportaufträgen: Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI) können Mitarbeiter in der Auftragserfassung viel Arbeit abnehmen. Wie das in der Praxis funktioniert und welche Auswirkungen KI mittelfristig auf die Jobgestaltung in Speditionen haben könnte. "Es wird eine Verschiebung der Aufgaben stattfinden" Joachim Getto, Partner Infront Consulting & Management GmbH Für welche Tätigkeiten in der Auftragserfassung ist KI geeignet? KI ist grundsätzlich gut dafür geeignet, repetitive Tätigkeiten zu automatisieren, bei denen eine hohe Komplexität der Eingangsdaten vorliegt. Eine Kernaufgabe der KI ist, Muster zu erkennen. Bei diesen vier zentralen Schritten innerhalb der Auftragserfassung kann sie daher viel Unterstützung bieten: Bei der Klassifizierung wird erkannt, welche Art von Auftrag vorliegt. Dann findet eine Qualifizierung statt, also die Prüfung auf Vollständigkeit und Plausibilität der Angaben. Schritt drei ist die Priorisierung des Auftrags nach Parametern wie Kundenrelevanz oder Versanddatum, bevor der Auftrag schließlich innerhalb des Teams verteilt wird. Kommt KI nur für große Speditionen infrage? Die Sinnhaftigkeit einer KI-Lösung hat nichts mit der Größe eines Unternehmens zu tun, sondern mit individuellen Gegebenheiten. Bei einem statischen Auftragseingang reichen herkömmlich programmierte Anwendungen aus. Je komplexer und variantenreicher die Daten in der Auftragserfassung aber sind, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass KI für ein Unternehmen relevant wird. Ein zentraler Faktor ist außerdem: Wie viele Daten habe ich überhaupt, mit denen ich einen lernenden Algorithmus füttern kann? Macht KI Mitarbeiter in der Dispo über kurz oder lang überflüssig? In den nächsten fünf Jahren wird der Disponent sicherlich nicht überflüssig, aber es findet nach und nach eine Verschiebung statt hin zu Überwachungsaufgaben. Der Mensch wird überflüssig, wenn er nicht mehr in der Lage ist, in der gleichen Zeit und in der gleichen Qualität Aufgaben durchzuführen, wie es dann eine KI kann. Langfristig, etwa ab 2030, wird sich der Einsatz von KI in Transport-Management-Systemen etablieren. Dann wird das Trainieren eines Optimierers zum Normalfall, wie heute das Konfigurieren eines Optimierers Standard ist. Wie nimmt man Mitarbeitern Ängste vor dem Jobverlust? In allen Epochen der Industrialisierung ging der technologische Fortschritt Hand in Hand mit großen Umbrüchen in der Berufswelt. Einfache Tätigkeiten werden durch KI zweifelsohne wegfallen, gleichzeitig werden aber auch viele andere Arbeitsplätze entstehen. Das eröffnet Chancen auch für den einfachen Sachbearbeiter, erfordert aber eine gewisse Anpassungsfähigkeit. Es gibt aber auch das umgekehrte Szenario: Für Unternehmen, die unter Fachkräftemangel leiden, kann der Einsatz von KI schon jetzt eine große Chance sein, wettbewerbsfähig zu bleiben. mh Was ist KI? KI bildet den Überbegriff zu Methoden, bei denen Maschinen menschenähnliche Intelligenzleistungen wie Lernen und Probleme lösen erbringen. Das Machine Learning, ein zentraler Begriff, der oft der KI untergeordnet wird, findet basierend auf Algorithmen eigenständig Lösungen, die aus vorhandenen Datenbeständen und Regeln anhand von Beispielen lernen und Wissen generieren. Es gibt verschiedene Arten von Lernen:− Überwachtes Lernen (Supervised Learning): Der Algorithmus lernt von zuvor bereitgestellten Trainingsdaten− Unüberwachtes Lernen (Unsupervised Learning): Die Zielwerte sind nicht bekannt, der Algorithmus versucht Daten selbst nach bestimmten Merkmalen zu strukturieren− Deep Learning: Lernen komplexer Sachverhalte (z.B. Bild- oder Spracherkennung) durch mehrschichtige, künstliche neuronale Netze, bei dem das Zustandekommen des Ergebnisses oft nur noch schwer nachvollziehbar ist Joachim Getto/mh

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